Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.man hat gar nicht nöthig, ein Genie zu sein, um Irrthümer früherer Genies, In dem Begriff Glauben liegt noch etwas ganz Anderes und Tieferes, als Grenzboten. I. 18ö6. 6i
man hat gar nicht nöthig, ein Genie zu sein, um Irrthümer früherer Genies, In dem Begriff Glauben liegt noch etwas ganz Anderes und Tieferes, als Grenzboten. I. 18ö6. 6i
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man hat gar nicht nöthig, ein Genie zu sein, um Irrthümer früherer Genies,
die man als solche erkennt, zu widerlegen. Das ist eine sehr unsichere Autori¬
tät, die nur im Ganzen,sicher ist. — Also der Inhalt und daS Verständniß
der Offenbarung ist längst ermittelt. Der Katholik kann daS wol sagen, dem
Protestanten ist es schwerer; denn wenn Luther die in der katholischen Kirche
herrschende Ueberzeugung von der Unaufhörlichkeit der Tradition, von der un¬
ablässigen Fortwirkung des heiligen Geistes aufgab, so mußte er seine weitere
Behauptung, daß sie eine Zeitlang allerdings gedauert habe, erst erweisen; er
konnte sie nicht wieder auf die Autorität der Tradition begründen. Für einen
Lutheraner drückt sich Stahl über die Bibel ziemlich respectwidrig aus. (S. 2i)
„Ueber der Gemeinde steht (nach Bunsens Ansicht) nichts als ein schwarz-
gebundeneS Buch, aus welchem oder in welches sie die Ansicht tragen kann, die
ihr beliebt." Aber dieses schwarzgebundene Buch hat Luther in der That als
unsre Autorität hingestellt; er hat unablässig erklärt, er wolle nicht eher wider¬
rufen , als bis man ihn aus der Bibel widerlege. Warum sollen die Luthe¬
raner nicht dasselbe erklären? — An sich ist freilich die Bemerkung vollkommen
richtig, denn die Kirchengeschichte zeigt, daß man in die Bibel jede beliebige
Ansicht Hineininterpretiren kann; aber sie spricht mehr für die Bildung als für
den Glauben des Verfassers, denn der wahrhaft Gläubige läßt sich gar nicht
die Möglichkeit einfallen, daß die Bibel anders ausgelegt werden könne, als
er sie auslegt.
In dem Begriff Glauben liegt noch etwas ganz Anderes und Tieferes, als
die Annahme, daß gewisse wunderbare Thatsachen wirklich vorgefallen seien;
es liegt darin eine innere Wärme des Gemüths, die sich zum Lebensprincip
des Denkens und Handelns macht. So hatten die Pietisten deK vorigen Jahr¬
hunderts einen sehr starken Glauben, ohne daß sie sich auf die Details der
biblischen Thatsachen irgend wie einließen. Von diesem Glauben ist aber in
der Stahlschen Streitschrift nicht die Rede. Er versteht unter Glauben lediglich
die Ueberzeugung von der Richtigkeit der biblischen Thatsachen. Nun ist aber
Stahl in der üblen Lage, bei seinem Glauben vom Standpunkt der Bildung
auszugehen d. h. das Thatsächliche unter der Form des Begriffs zu fassen.
Das ist der charakteristische Unterschied des Gebildeten vom Ungebildeten. Aber
indem man die Begriffe dazu anwendet, die Begriffsbestimmungen der Auf¬
klärung zu widerlegen, führt man dadurch in die Vorstellungen des Glaubens
ein Moment ein, das ihnen eigentlich fremd ist. „Nach dem christlichen
Glauben" sagt Stahl, „ist die Offenbarung ein geschichtlicher Act, eine That
Gottes, durch die er sich den Menschen mittheilt, und bei der der Mensch ihn
nicht blos als eine innere geistige Wirkung, sondern als eine Person, handelnd
sich gegenüber erkennt, wie z. B. Moses am Dornbusch, Paulus vor Damas¬
kus." Wir wollen von dem Inhalt dieser Begriffe absehen und nur fragen,
Grenzboten. I. 18ö6. 6i
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