Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

über verhalten? Von den ungebildeten Classen darf man nicht reden, denn
diese fassen das Wunder naiv und unbefangen aus, weil für sie der Begriff der
absoluten Causalität noch nicht vorhanden ist. Der Gebildete kann durch irgend
welche Gemüthsprocesse zu der Ueberzeugung kommen, es wäre nothwendig,
seine Bildung von sich zu werfen und dann wird er allerdings bis zu einem
gewissen Grade wieder mit sich selbst einig; aber wie machts der Gebildete,
der zugleich seine Bildung und den Glauben beibehält? Wie macht es z. B.
Stahl selbst?

Um dieser Frage eine allgemeinere Wendung zu geben, heben wir zwei
Stellen seiner Schrift hervor: "Es ist in unsrer Zeit die Sehnsucht aus dem
bloßen menschlich Freien heraus nach dem göttlich Bindenden wieder erwacht,
nach der wahrhaftigen Wahrheit über den individuellen Ueberzeugungen, nach
der Macht der Institutionen über den Majoritäten." (S. 30.) -- "Dagegen
ist jetzt in den Massen, gebildeten und ungebildeten, eine begeisterte Liebe für
den Unglauben unter dem Namen Toleranz und eine begeisterte Feindschaft
gegen den Glauben unter dem Namen Intoleranz .... Nicht der Druck der
Fürsten auf das glaubensgebundene Gewissen, sondern eine Weltbewegung nach
Glaubensentbindung ist die Signatur der Gegenwart." Die beiden Behaup¬
tungen scheinen sich zu widersprechen und doch sind beide richtig, ja sie lassen
sich auf dieselbe Quelle zurückführen. Die Sehnsucht nach Autorität, die von
Stahl und seiner Partei so laut ausgesprochen wird , ist nicht ein Zeichen da¬
für, daß die Autorität feststeht, sondern dafür, daß sie nicht vorhanden ist.
Stahl sollte gegen die Halbheiten und Inconsequenzen seines Gegners nicht
zu streng sein, sie fehlen auch bei ihm nicht, sobald er den Versuch macht,
seinen Begriff der Autorität näher zu begründen. So z. B. S. 91, wo er
das bindende Ansehn, welches die protestantische Kirche habe, zu entwickeln
sucht. "Sie hat es an der göttlichen Offenbarung, deren Inhalt und Ver¬
ständniß längst ermittelt ist und nicht erst auf die Einfälle einer Sekte, oder
die originale Forschung eines christlichen Diplomaten zu warten braucht. Sie
hat eS an dem Zeugniß, (Bekenntniß) der Reformation, das zwar nicht auf
göttlicher Eingebung, aber doch auf beso ut erer Erleuchtung beruht, darum im
Ganzen von sicherer Wahrheit ist und die Fortbildung, soweit eS ihrer bedarf,
nur durch gleich erleuchtete Zeiten und Männer erhallen kann." -- Und bei
dieser bündigen und philosophischen Deduction zieht Stahl gegen die Bündig¬
keit und Philosophie Bunsens zu Felde! 'Was heißt denn das: "besondere
Erleuchtung"? da es doch von der Offenbarung gesondert wird. Ist eS etwa
dasselbe, was wir gemeinen Leute Genie nennen? Wenn es aber weiter nichts
ist, so kann es auch keine weitere Autorität über uns haben, als die unmittel¬
bar zwingende Kraft der Ueberzeugung. Entweder, oder. Was Gott nicht
unmittelbar gesagt hat, das unterliegt der freien menschlichen Prüfung und


über verhalten? Von den ungebildeten Classen darf man nicht reden, denn
diese fassen das Wunder naiv und unbefangen aus, weil für sie der Begriff der
absoluten Causalität noch nicht vorhanden ist. Der Gebildete kann durch irgend
welche Gemüthsprocesse zu der Ueberzeugung kommen, es wäre nothwendig,
seine Bildung von sich zu werfen und dann wird er allerdings bis zu einem
gewissen Grade wieder mit sich selbst einig; aber wie machts der Gebildete,
der zugleich seine Bildung und den Glauben beibehält? Wie macht es z. B.
Stahl selbst?

Um dieser Frage eine allgemeinere Wendung zu geben, heben wir zwei
Stellen seiner Schrift hervor: „Es ist in unsrer Zeit die Sehnsucht aus dem
bloßen menschlich Freien heraus nach dem göttlich Bindenden wieder erwacht,
nach der wahrhaftigen Wahrheit über den individuellen Ueberzeugungen, nach
der Macht der Institutionen über den Majoritäten." (S. 30.) — „Dagegen
ist jetzt in den Massen, gebildeten und ungebildeten, eine begeisterte Liebe für
den Unglauben unter dem Namen Toleranz und eine begeisterte Feindschaft
gegen den Glauben unter dem Namen Intoleranz .... Nicht der Druck der
Fürsten auf das glaubensgebundene Gewissen, sondern eine Weltbewegung nach
Glaubensentbindung ist die Signatur der Gegenwart." Die beiden Behaup¬
tungen scheinen sich zu widersprechen und doch sind beide richtig, ja sie lassen
sich auf dieselbe Quelle zurückführen. Die Sehnsucht nach Autorität, die von
Stahl und seiner Partei so laut ausgesprochen wird , ist nicht ein Zeichen da¬
für, daß die Autorität feststeht, sondern dafür, daß sie nicht vorhanden ist.
Stahl sollte gegen die Halbheiten und Inconsequenzen seines Gegners nicht
zu streng sein, sie fehlen auch bei ihm nicht, sobald er den Versuch macht,
seinen Begriff der Autorität näher zu begründen. So z. B. S. 91, wo er
das bindende Ansehn, welches die protestantische Kirche habe, zu entwickeln
sucht. „Sie hat es an der göttlichen Offenbarung, deren Inhalt und Ver¬
ständniß längst ermittelt ist und nicht erst auf die Einfälle einer Sekte, oder
die originale Forschung eines christlichen Diplomaten zu warten braucht. Sie
hat eS an dem Zeugniß, (Bekenntniß) der Reformation, das zwar nicht auf
göttlicher Eingebung, aber doch auf beso ut erer Erleuchtung beruht, darum im
Ganzen von sicherer Wahrheit ist und die Fortbildung, soweit eS ihrer bedarf,
nur durch gleich erleuchtete Zeiten und Männer erhallen kann." — Und bei
dieser bündigen und philosophischen Deduction zieht Stahl gegen die Bündig¬
keit und Philosophie Bunsens zu Felde! 'Was heißt denn das: „besondere
Erleuchtung"? da es doch von der Offenbarung gesondert wird. Ist eS etwa
dasselbe, was wir gemeinen Leute Genie nennen? Wenn es aber weiter nichts
ist, so kann es auch keine weitere Autorität über uns haben, als die unmittel¬
bar zwingende Kraft der Ueberzeugung. Entweder, oder. Was Gott nicht
unmittelbar gesagt hat, das unterliegt der freien menschlichen Prüfung und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0512" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/101505"/>
          <p xml:id="ID_1524" prev="#ID_1523"> über verhalten? Von den ungebildeten Classen darf man nicht reden, denn<lb/>
diese fassen das Wunder naiv und unbefangen aus, weil für sie der Begriff der<lb/>
absoluten Causalität noch nicht vorhanden ist. Der Gebildete kann durch irgend<lb/>
welche Gemüthsprocesse zu der Ueberzeugung kommen, es wäre nothwendig,<lb/>
seine Bildung von sich zu werfen und dann wird er allerdings bis zu einem<lb/>
gewissen Grade wieder mit sich selbst einig; aber wie machts der Gebildete,<lb/>
der zugleich seine Bildung und den Glauben beibehält? Wie macht es z. B.<lb/>
Stahl selbst?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1525" next="#ID_1526"> Um dieser Frage eine allgemeinere Wendung zu geben, heben wir zwei<lb/>
Stellen seiner Schrift hervor: &#x201E;Es ist in unsrer Zeit die Sehnsucht aus dem<lb/>
bloßen menschlich Freien heraus nach dem göttlich Bindenden wieder erwacht,<lb/>
nach der wahrhaftigen Wahrheit über den individuellen Ueberzeugungen, nach<lb/>
der Macht der Institutionen über den Majoritäten." (S. 30.) &#x2014; &#x201E;Dagegen<lb/>
ist jetzt in den Massen, gebildeten und ungebildeten, eine begeisterte Liebe für<lb/>
den Unglauben unter dem Namen Toleranz und eine begeisterte Feindschaft<lb/>
gegen den Glauben unter dem Namen Intoleranz .... Nicht der Druck der<lb/>
Fürsten auf das glaubensgebundene Gewissen, sondern eine Weltbewegung nach<lb/>
Glaubensentbindung ist die Signatur der Gegenwart." Die beiden Behaup¬<lb/>
tungen scheinen sich zu widersprechen und doch sind beide richtig, ja sie lassen<lb/>
sich auf dieselbe Quelle zurückführen. Die Sehnsucht nach Autorität, die von<lb/>
Stahl und seiner Partei so laut ausgesprochen wird , ist nicht ein Zeichen da¬<lb/>
für, daß die Autorität feststeht, sondern dafür, daß sie nicht vorhanden ist.<lb/>
Stahl sollte gegen die Halbheiten und Inconsequenzen seines Gegners nicht<lb/>
zu streng sein, sie fehlen auch bei ihm nicht, sobald er den Versuch macht,<lb/>
seinen Begriff der Autorität näher zu begründen. So z. B. S. 91, wo er<lb/>
das bindende Ansehn, welches die protestantische Kirche habe, zu entwickeln<lb/>
sucht. &#x201E;Sie hat es an der göttlichen Offenbarung, deren Inhalt und Ver¬<lb/>
ständniß längst ermittelt ist und nicht erst auf die Einfälle einer Sekte, oder<lb/>
die originale Forschung eines christlichen Diplomaten zu warten braucht. Sie<lb/>
hat eS an dem Zeugniß, (Bekenntniß) der Reformation, das zwar nicht auf<lb/>
göttlicher Eingebung, aber doch auf beso ut erer Erleuchtung beruht, darum im<lb/>
Ganzen von sicherer Wahrheit ist und die Fortbildung, soweit eS ihrer bedarf,<lb/>
nur durch gleich erleuchtete Zeiten und Männer erhallen kann." &#x2014; Und bei<lb/>
dieser bündigen und philosophischen Deduction zieht Stahl gegen die Bündig¬<lb/>
keit und Philosophie Bunsens zu Felde! 'Was heißt denn das: &#x201E;besondere<lb/>
Erleuchtung"? da es doch von der Offenbarung gesondert wird. Ist eS etwa<lb/>
dasselbe, was wir gemeinen Leute Genie nennen? Wenn es aber weiter nichts<lb/>
ist, so kann es auch keine weitere Autorität über uns haben, als die unmittel¬<lb/>
bar zwingende Kraft der Ueberzeugung. Entweder, oder. Was Gott nicht<lb/>
unmittelbar gesagt hat, das unterliegt der freien menschlichen Prüfung und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0512] über verhalten? Von den ungebildeten Classen darf man nicht reden, denn diese fassen das Wunder naiv und unbefangen aus, weil für sie der Begriff der absoluten Causalität noch nicht vorhanden ist. Der Gebildete kann durch irgend welche Gemüthsprocesse zu der Ueberzeugung kommen, es wäre nothwendig, seine Bildung von sich zu werfen und dann wird er allerdings bis zu einem gewissen Grade wieder mit sich selbst einig; aber wie machts der Gebildete, der zugleich seine Bildung und den Glauben beibehält? Wie macht es z. B. Stahl selbst? Um dieser Frage eine allgemeinere Wendung zu geben, heben wir zwei Stellen seiner Schrift hervor: „Es ist in unsrer Zeit die Sehnsucht aus dem bloßen menschlich Freien heraus nach dem göttlich Bindenden wieder erwacht, nach der wahrhaftigen Wahrheit über den individuellen Ueberzeugungen, nach der Macht der Institutionen über den Majoritäten." (S. 30.) — „Dagegen ist jetzt in den Massen, gebildeten und ungebildeten, eine begeisterte Liebe für den Unglauben unter dem Namen Toleranz und eine begeisterte Feindschaft gegen den Glauben unter dem Namen Intoleranz .... Nicht der Druck der Fürsten auf das glaubensgebundene Gewissen, sondern eine Weltbewegung nach Glaubensentbindung ist die Signatur der Gegenwart." Die beiden Behaup¬ tungen scheinen sich zu widersprechen und doch sind beide richtig, ja sie lassen sich auf dieselbe Quelle zurückführen. Die Sehnsucht nach Autorität, die von Stahl und seiner Partei so laut ausgesprochen wird , ist nicht ein Zeichen da¬ für, daß die Autorität feststeht, sondern dafür, daß sie nicht vorhanden ist. Stahl sollte gegen die Halbheiten und Inconsequenzen seines Gegners nicht zu streng sein, sie fehlen auch bei ihm nicht, sobald er den Versuch macht, seinen Begriff der Autorität näher zu begründen. So z. B. S. 91, wo er das bindende Ansehn, welches die protestantische Kirche habe, zu entwickeln sucht. „Sie hat es an der göttlichen Offenbarung, deren Inhalt und Ver¬ ständniß längst ermittelt ist und nicht erst auf die Einfälle einer Sekte, oder die originale Forschung eines christlichen Diplomaten zu warten braucht. Sie hat eS an dem Zeugniß, (Bekenntniß) der Reformation, das zwar nicht auf göttlicher Eingebung, aber doch auf beso ut erer Erleuchtung beruht, darum im Ganzen von sicherer Wahrheit ist und die Fortbildung, soweit eS ihrer bedarf, nur durch gleich erleuchtete Zeiten und Männer erhallen kann." — Und bei dieser bündigen und philosophischen Deduction zieht Stahl gegen die Bündig¬ keit und Philosophie Bunsens zu Felde! 'Was heißt denn das: „besondere Erleuchtung"? da es doch von der Offenbarung gesondert wird. Ist eS etwa dasselbe, was wir gemeinen Leute Genie nennen? Wenn es aber weiter nichts ist, so kann es auch keine weitere Autorität über uns haben, als die unmittel¬ bar zwingende Kraft der Ueberzeugung. Entweder, oder. Was Gott nicht unmittelbar gesagt hat, das unterliegt der freien menschlichen Prüfung und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/512
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/512>, abgerufen am 23.07.2024.