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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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wird die große Zahl der Gebildeten, die eben die Offenbarung ablehnen, mit
ihrer Sympathie für Bunsen gegen uns sein; aber dennoch fordere ich von
ihnen, daß sie mit ihrem Urtheil für uns gegen Bunsen seien. Denn wie
zusagend ihnen das Resultat einer Lehre sein mag, den Mangel an innerer
Wahrheit und Gedachtheit dürfen sie ihr nicht nachsehen. Spinoza, der ebenso
gewiß ein sittlich achtbarer Mann, als ein Pantheist war, würde sich von
dem Versuch, ihn zum christlichen Denker zu stempeln, mit Indignation ab¬
kehren, Goethe vielleicht mit vornehm-spöttischem Lächeln." (S. SK). Wenn
also Stahl nach der einen Seile hin zu erweisen sucht, Bunsen sei kein Christ,
so sucht er nach der andern seine philosophisch-historische Bildung zu be-
streiten.

In der Frage, wer ein Christ und was das Christenthum sei, pflegt man
die verschiedenen Momente durcheinanderzuwerfcn. Es scheint uns, als ob
man folgende drei Fragen unabhängig voneinander zu betrachten habe: -l) Was
ist das historische Christenthum d. h. der in der Geschichte sich entwickelnde
christliche Glaube? 2) Was ist der thatsächliche oder philosophische Inhalt,
der diesem Glauben zu Grunde liegt? 3) Was ist aus diesem Glauben in
der Gegenwart geworden?

Was die erste Frage betrifft, so treten wir auf die Seite Stahls gegen
Bunsen. Bunsen hat uns in seinem Hippolyt nicht davon überzeugen können,
daß der ursprüngliche christliche Glaube rationalistisch gewesen sei. Es wäre
auch gegen alle Analogie. Der Rationalismus tritt in einer Religion erst
dann ein, wenn sie ihre ursprüngliche productive Kraft verloren hat. Wir
glauben, daß die ursprüngliche christliche Kirche durchweg und im extremsten
Sinn supranaturalistisch war.

Auf den zweiten Punkt gehen wir natürlich nicht ein, wir betrachten ihn
nur in seiner Beziehung zum dritten. Stahl macht Bunsen die heftigsten Vor¬
würfe, daß er den Inhalt der christlichen Dogmatik nicht als etwas Thatsäch¬
liches, sondern als etwas Symbolisches betrachte. Wir könnten ihm zunächst
einwenden, daß diese symbolische Betrachtungsweise doch auch schon im ur¬
sprünglichen Christenthum vorkommt. Die Bibel gibt uns, was sie von
Christus erzählt, zwar als Thatsache, aber auch als Sinnbild. In den.Evan¬
gelien wird mehr auf die erste, in den Episteln fast mehr auf die zweite Seite
hingedeutet; daß in den verschiedenen Entwicklungsphasen des Christenthums
bald die eine, bald die andre Seite mehr hervorgetreten ist, reicht noch nicht
aus, um die eine als christlich, die andre als unchristlich zu bezeichnen. So
manchen Mystiker wird Stahl gewiß selbst nicht als einen Nichtchristen be¬
zeichnen.

Wichtiger als diese Bemerkung scheint uns aber eine andere. Wie soll
sich denn eigentlich der Gebildete den "Thatsachen" des Christenthums gegen-


wird die große Zahl der Gebildeten, die eben die Offenbarung ablehnen, mit
ihrer Sympathie für Bunsen gegen uns sein; aber dennoch fordere ich von
ihnen, daß sie mit ihrem Urtheil für uns gegen Bunsen seien. Denn wie
zusagend ihnen das Resultat einer Lehre sein mag, den Mangel an innerer
Wahrheit und Gedachtheit dürfen sie ihr nicht nachsehen. Spinoza, der ebenso
gewiß ein sittlich achtbarer Mann, als ein Pantheist war, würde sich von
dem Versuch, ihn zum christlichen Denker zu stempeln, mit Indignation ab¬
kehren, Goethe vielleicht mit vornehm-spöttischem Lächeln." (S. SK). Wenn
also Stahl nach der einen Seile hin zu erweisen sucht, Bunsen sei kein Christ,
so sucht er nach der andern seine philosophisch-historische Bildung zu be-
streiten.

In der Frage, wer ein Christ und was das Christenthum sei, pflegt man
die verschiedenen Momente durcheinanderzuwerfcn. Es scheint uns, als ob
man folgende drei Fragen unabhängig voneinander zu betrachten habe: -l) Was
ist das historische Christenthum d. h. der in der Geschichte sich entwickelnde
christliche Glaube? 2) Was ist der thatsächliche oder philosophische Inhalt,
der diesem Glauben zu Grunde liegt? 3) Was ist aus diesem Glauben in
der Gegenwart geworden?

Was die erste Frage betrifft, so treten wir auf die Seite Stahls gegen
Bunsen. Bunsen hat uns in seinem Hippolyt nicht davon überzeugen können,
daß der ursprüngliche christliche Glaube rationalistisch gewesen sei. Es wäre
auch gegen alle Analogie. Der Rationalismus tritt in einer Religion erst
dann ein, wenn sie ihre ursprüngliche productive Kraft verloren hat. Wir
glauben, daß die ursprüngliche christliche Kirche durchweg und im extremsten
Sinn supranaturalistisch war.

Auf den zweiten Punkt gehen wir natürlich nicht ein, wir betrachten ihn
nur in seiner Beziehung zum dritten. Stahl macht Bunsen die heftigsten Vor¬
würfe, daß er den Inhalt der christlichen Dogmatik nicht als etwas Thatsäch¬
liches, sondern als etwas Symbolisches betrachte. Wir könnten ihm zunächst
einwenden, daß diese symbolische Betrachtungsweise doch auch schon im ur¬
sprünglichen Christenthum vorkommt. Die Bibel gibt uns, was sie von
Christus erzählt, zwar als Thatsache, aber auch als Sinnbild. In den.Evan¬
gelien wird mehr auf die erste, in den Episteln fast mehr auf die zweite Seite
hingedeutet; daß in den verschiedenen Entwicklungsphasen des Christenthums
bald die eine, bald die andre Seite mehr hervorgetreten ist, reicht noch nicht
aus, um die eine als christlich, die andre als unchristlich zu bezeichnen. So
manchen Mystiker wird Stahl gewiß selbst nicht als einen Nichtchristen be¬
zeichnen.

Wichtiger als diese Bemerkung scheint uns aber eine andere. Wie soll
sich denn eigentlich der Gebildete den „Thatsachen" des Christenthums gegen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/511>, abgerufen am 23.07.2024.