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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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halb der politischen Gleichberechtigung jeder Kraft gesichert ist." -- Hätte er
doch nur einmal den Macaulay aufgeschlagen, um sich zu unterrichten, was
es für eine Bewandtniß mit der englischen Bourgeoisie des Jahres -1688
hatte! -- Als er auf die Lauigkeit der preußischen Urwähler zu sprechen kommt,
(it. S. 313), welche der Abgeordnete Reichensperger als Servilität bezeichnete,
bemerkt er dazu: "Eigentlich hat der geehrte Abgeordnete Recht. Denn durch
diese hartnäckige Weigerung, nach einem Wahlgesetze zu wählen, welches einem
nicht gefällt, versetzt man sich gewissermaßen in ein Verhältniß der Dienstbar¬
keit zu seinem eignen Geschmacke. Doch möchte dies immerhin einige Nachsicht
verdienen, da es doch wol, nicht so leicht werden dürfte, unzweifelhaft nachzu¬
weisen, daß alle Preußen mit der Verpflichtung auf die Welt gekommen seien,
sich grade sür dasjenige zu begeistern, was dem Geschmacke des Abgeordneten
Reichensperger entspricht." -- Diese Deduction ist grade so geistreich, wie die
Darstellung des politischen Ideals, dem er und sein Freund Trützschler ge¬
huldigt (I. S. S-I), der absoluten Anarchie; und noch dazu werden diese
Faseleien nicht witzig, sondern mit einem gewissen bittern Ernst vorgetragen.

Hin und wieder dämmert ihm das Bewußtsein auf, daß seine revolutio¬
näre Maske ihm doch nicht wohl stehe. Er schildert das verrückte Treiben der
Flüchtlinge in der Schweiz, das sein ästhetisches und sein Ehrgefühl anwidert,
in den lebhaftesten Farben und spricht über die Revolutionärs von Profession
mit übel verhehlter Geringschätzung. "Ich gestehe offen, daß es sich mit
meinem Stolze nicht verträgt, den Leuten ohne Unterlaß darzuthun, daß ihre
Lage unerträglich sei, während sie mir täglich beweisen, daß sie dieselbe noch
sehr gut zu ertragen vermögen. Wenn die daheim sich hinlänglich glücklich
fühlen, nun! so sehe ich nicht ein, warum man sie in diesem Glücke stören
sollte!" (l. S.-12-1). Ueberhaupt, wenn er sich der Gedankenlosigkeit der Phrasen
entwindet, so tritt in den meisten Fällen ein richtiges Gefühl hervor. So be¬
spricht er einen seiner Parlamentsgenossen, der vor Gericht den letzten Auf¬
schwungsversuch fast als eine bewußte Komödie darstellte, "bei der die Voraus¬
sicht obgewaltet habe, daß von alledem, was so ernsthaft betrieben wurde, doch
eigentlich nichts geschehen werde. Wenn nun aber doch der Eine oder Andre
die Sache sür Ernst nahm und sich ins Verderben stürzte? Mir dünkt, auch
nur ein einziges Opfer sei ein zu hoher Preis für den leeren Schein einer
consequent durchgeführten Rolle." -- Und doch war die Darstellung jenes Ab¬
geordneten vollkommen richtig; es war eine bewußte Komödie, die in Stutt¬
gart aufgeführt wurde, ein frevelhaftes Spiel, an dem auch Ludwig Simon
redlich Theil genommen hat. Keiner von den fünf Reichsregenten hat daran
geglaubt, daß General Prittwitz ihren Ordres gehorchen würde; keiner von
den Mitgliedern des Stuttgarter Parlaments hat ernsthaft an die Möglichkeit
geglaubt, damals die Sache noch glücklich zu Ende zu führen. Es kam ihnen


halb der politischen Gleichberechtigung jeder Kraft gesichert ist." — Hätte er
doch nur einmal den Macaulay aufgeschlagen, um sich zu unterrichten, was
es für eine Bewandtniß mit der englischen Bourgeoisie des Jahres -1688
hatte! — Als er auf die Lauigkeit der preußischen Urwähler zu sprechen kommt,
(it. S. 313), welche der Abgeordnete Reichensperger als Servilität bezeichnete,
bemerkt er dazu: „Eigentlich hat der geehrte Abgeordnete Recht. Denn durch
diese hartnäckige Weigerung, nach einem Wahlgesetze zu wählen, welches einem
nicht gefällt, versetzt man sich gewissermaßen in ein Verhältniß der Dienstbar¬
keit zu seinem eignen Geschmacke. Doch möchte dies immerhin einige Nachsicht
verdienen, da es doch wol, nicht so leicht werden dürfte, unzweifelhaft nachzu¬
weisen, daß alle Preußen mit der Verpflichtung auf die Welt gekommen seien,
sich grade sür dasjenige zu begeistern, was dem Geschmacke des Abgeordneten
Reichensperger entspricht." — Diese Deduction ist grade so geistreich, wie die
Darstellung des politischen Ideals, dem er und sein Freund Trützschler ge¬
huldigt (I. S. S-I), der absoluten Anarchie; und noch dazu werden diese
Faseleien nicht witzig, sondern mit einem gewissen bittern Ernst vorgetragen.

Hin und wieder dämmert ihm das Bewußtsein auf, daß seine revolutio¬
näre Maske ihm doch nicht wohl stehe. Er schildert das verrückte Treiben der
Flüchtlinge in der Schweiz, das sein ästhetisches und sein Ehrgefühl anwidert,
in den lebhaftesten Farben und spricht über die Revolutionärs von Profession
mit übel verhehlter Geringschätzung. „Ich gestehe offen, daß es sich mit
meinem Stolze nicht verträgt, den Leuten ohne Unterlaß darzuthun, daß ihre
Lage unerträglich sei, während sie mir täglich beweisen, daß sie dieselbe noch
sehr gut zu ertragen vermögen. Wenn die daheim sich hinlänglich glücklich
fühlen, nun! so sehe ich nicht ein, warum man sie in diesem Glücke stören
sollte!" (l. S.-12-1). Ueberhaupt, wenn er sich der Gedankenlosigkeit der Phrasen
entwindet, so tritt in den meisten Fällen ein richtiges Gefühl hervor. So be¬
spricht er einen seiner Parlamentsgenossen, der vor Gericht den letzten Auf¬
schwungsversuch fast als eine bewußte Komödie darstellte, „bei der die Voraus¬
sicht obgewaltet habe, daß von alledem, was so ernsthaft betrieben wurde, doch
eigentlich nichts geschehen werde. Wenn nun aber doch der Eine oder Andre
die Sache sür Ernst nahm und sich ins Verderben stürzte? Mir dünkt, auch
nur ein einziges Opfer sei ein zu hoher Preis für den leeren Schein einer
consequent durchgeführten Rolle." — Und doch war die Darstellung jenes Ab¬
geordneten vollkommen richtig; es war eine bewußte Komödie, die in Stutt¬
gart aufgeführt wurde, ein frevelhaftes Spiel, an dem auch Ludwig Simon
redlich Theil genommen hat. Keiner von den fünf Reichsregenten hat daran
geglaubt, daß General Prittwitz ihren Ordres gehorchen würde; keiner von
den Mitgliedern des Stuttgarter Parlaments hat ernsthaft an die Möglichkeit
geglaubt, damals die Sache noch glücklich zu Ende zu führen. Es kam ihnen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/496>, abgerufen am 23.07.2024.