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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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bequem gemacht wird, aber sie ist nicht im Stande, irgend einen ernsten Wider¬
stand zu überwinden, denn sie verleiht der Seele keinen Schwung. Ebenso¬
wenig können sich ihr die wahrhaft Gebildeten anschließen, denn ihre Theorie
bleibt tief unter dem Niveau der philosophischen und historischen Erkenntniß.

Trotzdem ist die lichtfreundliche Bewegung als ein Symptom der Zeit
wohl zu beachten und es ist ganz richtig, wenn man sie einen Vorläufer der
Revolution von 1848 genannt hat. Die kirchlichen Neuerungen im orthodoxen
Sinne seit den ersten i>0er J,ahren haben den Einzelnen im Ganzen wenig
genirt. Wer zu den gebildeten Schichten des Volks gehört, darf sich davon
nicht anfechten lassen, denn es zwingt ihn niemand, in die Kirche zu gehen.
Selbst die Forschungen auf dem Gebiete der Religion, sobald sie nur die her¬
ausfordernde Form vermelden, sind im Wesentlichen nicht gehemmt. Denken
kann bei uns jeder, wie er will, und selbst dem Reden und Schreiben sind nur
mäßige Schranken gesetzt.

Ganz anders aber wird die Sache, wenn wir die Gesammtheit des Volks
ins Auge fassen. Wie man auch über den wissenschaftlichen Werth des Ratio¬
nalismus dachte, mit seiner Moral, mit seiner pädagogischen Wirksamkeit konnte
man im Ganzen einverstanden sein. Die neuere Orthodoxie trägt nicht nur
andere Dogmen vor, sie lehrt auch - eine andere Moral, und es kann nicht
gleichgiltig sein, was den Kindern von frühester Zeit an für sittliche Vorstellungen
und Ideale eingeflößt werden. Nicht im Interesse deS gegenwärtigen Ge¬
schlechts, sondern im Interesse unsrer Zukunft tritt man dem Kirchenregiment
entgegen und hier wird die Frage sehr ernsthaft. Der alte Rationalismus mir
seinen bequemen unbestimmten Formen verwischte die Gegensätze, der neue
Supranaturalismus fordert sie heraus. DaS Kirchenregiment hat seine Sache
noch nicht gewonnen, wenn es alle Pfarrer und Lehrerstellen mit Orthodoxen
besetzt. Es möge sich in unsrer naturwissenschaftlichen Literatur umsehen, um
die Festigkeit des Fundaments zu. prüfen, auf dem es seinen Bau aufzurichten
gedenkt. Vielleicht wird man es auch hier noch einmal mit der Polizei ver¬
suchen, aber da ist die Aufgabe schwieriger. Lichtfteundliche Gemeinden kann
man schließen, ketzerische Bücher kann man verbieten, aber was wird man mit
einer Wissenschaft thun, die im schlimmsten Fall die Religion ganz ignorirt und
um so eindringlicher auf die Ueberzeugung der Menschen wirkt? DaS Gegen¬
gewicht gegen den Materialismus kann nur der Idealismus bilden, und wenn
man diesem alle Thore verschließt, außer dem einen alleinseligmachenden, so
wird sich seine Kraft allmälig "uf Seite des Materialismus werfen, und dann
dürfte das Spiel doch ein gefährliches sein.

Von dem lichtftcundlichen Pastor wenden wir uns zu dem radicalen Par¬
lamentsmitglied. Ludwig Simon steht bei allen Parteien im besten Ruf; er
galt als einer der Ehrlichsten und Begabtesten aus den Reihen der Demokratie.


bequem gemacht wird, aber sie ist nicht im Stande, irgend einen ernsten Wider¬
stand zu überwinden, denn sie verleiht der Seele keinen Schwung. Ebenso¬
wenig können sich ihr die wahrhaft Gebildeten anschließen, denn ihre Theorie
bleibt tief unter dem Niveau der philosophischen und historischen Erkenntniß.

Trotzdem ist die lichtfreundliche Bewegung als ein Symptom der Zeit
wohl zu beachten und es ist ganz richtig, wenn man sie einen Vorläufer der
Revolution von 1848 genannt hat. Die kirchlichen Neuerungen im orthodoxen
Sinne seit den ersten i>0er J,ahren haben den Einzelnen im Ganzen wenig
genirt. Wer zu den gebildeten Schichten des Volks gehört, darf sich davon
nicht anfechten lassen, denn es zwingt ihn niemand, in die Kirche zu gehen.
Selbst die Forschungen auf dem Gebiete der Religion, sobald sie nur die her¬
ausfordernde Form vermelden, sind im Wesentlichen nicht gehemmt. Denken
kann bei uns jeder, wie er will, und selbst dem Reden und Schreiben sind nur
mäßige Schranken gesetzt.

Ganz anders aber wird die Sache, wenn wir die Gesammtheit des Volks
ins Auge fassen. Wie man auch über den wissenschaftlichen Werth des Ratio¬
nalismus dachte, mit seiner Moral, mit seiner pädagogischen Wirksamkeit konnte
man im Ganzen einverstanden sein. Die neuere Orthodoxie trägt nicht nur
andere Dogmen vor, sie lehrt auch - eine andere Moral, und es kann nicht
gleichgiltig sein, was den Kindern von frühester Zeit an für sittliche Vorstellungen
und Ideale eingeflößt werden. Nicht im Interesse deS gegenwärtigen Ge¬
schlechts, sondern im Interesse unsrer Zukunft tritt man dem Kirchenregiment
entgegen und hier wird die Frage sehr ernsthaft. Der alte Rationalismus mir
seinen bequemen unbestimmten Formen verwischte die Gegensätze, der neue
Supranaturalismus fordert sie heraus. DaS Kirchenregiment hat seine Sache
noch nicht gewonnen, wenn es alle Pfarrer und Lehrerstellen mit Orthodoxen
besetzt. Es möge sich in unsrer naturwissenschaftlichen Literatur umsehen, um
die Festigkeit des Fundaments zu. prüfen, auf dem es seinen Bau aufzurichten
gedenkt. Vielleicht wird man es auch hier noch einmal mit der Polizei ver¬
suchen, aber da ist die Aufgabe schwieriger. Lichtfteundliche Gemeinden kann
man schließen, ketzerische Bücher kann man verbieten, aber was wird man mit
einer Wissenschaft thun, die im schlimmsten Fall die Religion ganz ignorirt und
um so eindringlicher auf die Ueberzeugung der Menschen wirkt? DaS Gegen¬
gewicht gegen den Materialismus kann nur der Idealismus bilden, und wenn
man diesem alle Thore verschließt, außer dem einen alleinseligmachenden, so
wird sich seine Kraft allmälig «uf Seite des Materialismus werfen, und dann
dürfte das Spiel doch ein gefährliches sein.

Von dem lichtftcundlichen Pastor wenden wir uns zu dem radicalen Par¬
lamentsmitglied. Ludwig Simon steht bei allen Parteien im besten Ruf; er
galt als einer der Ehrlichsten und Begabtesten aus den Reihen der Demokratie.


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[0493] bequem gemacht wird, aber sie ist nicht im Stande, irgend einen ernsten Wider¬ stand zu überwinden, denn sie verleiht der Seele keinen Schwung. Ebenso¬ wenig können sich ihr die wahrhaft Gebildeten anschließen, denn ihre Theorie bleibt tief unter dem Niveau der philosophischen und historischen Erkenntniß. Trotzdem ist die lichtfreundliche Bewegung als ein Symptom der Zeit wohl zu beachten und es ist ganz richtig, wenn man sie einen Vorläufer der Revolution von 1848 genannt hat. Die kirchlichen Neuerungen im orthodoxen Sinne seit den ersten i>0er J,ahren haben den Einzelnen im Ganzen wenig genirt. Wer zu den gebildeten Schichten des Volks gehört, darf sich davon nicht anfechten lassen, denn es zwingt ihn niemand, in die Kirche zu gehen. Selbst die Forschungen auf dem Gebiete der Religion, sobald sie nur die her¬ ausfordernde Form vermelden, sind im Wesentlichen nicht gehemmt. Denken kann bei uns jeder, wie er will, und selbst dem Reden und Schreiben sind nur mäßige Schranken gesetzt. Ganz anders aber wird die Sache, wenn wir die Gesammtheit des Volks ins Auge fassen. Wie man auch über den wissenschaftlichen Werth des Ratio¬ nalismus dachte, mit seiner Moral, mit seiner pädagogischen Wirksamkeit konnte man im Ganzen einverstanden sein. Die neuere Orthodoxie trägt nicht nur andere Dogmen vor, sie lehrt auch - eine andere Moral, und es kann nicht gleichgiltig sein, was den Kindern von frühester Zeit an für sittliche Vorstellungen und Ideale eingeflößt werden. Nicht im Interesse deS gegenwärtigen Ge¬ schlechts, sondern im Interesse unsrer Zukunft tritt man dem Kirchenregiment entgegen und hier wird die Frage sehr ernsthaft. Der alte Rationalismus mir seinen bequemen unbestimmten Formen verwischte die Gegensätze, der neue Supranaturalismus fordert sie heraus. DaS Kirchenregiment hat seine Sache noch nicht gewonnen, wenn es alle Pfarrer und Lehrerstellen mit Orthodoxen besetzt. Es möge sich in unsrer naturwissenschaftlichen Literatur umsehen, um die Festigkeit des Fundaments zu. prüfen, auf dem es seinen Bau aufzurichten gedenkt. Vielleicht wird man es auch hier noch einmal mit der Polizei ver¬ suchen, aber da ist die Aufgabe schwieriger. Lichtfteundliche Gemeinden kann man schließen, ketzerische Bücher kann man verbieten, aber was wird man mit einer Wissenschaft thun, die im schlimmsten Fall die Religion ganz ignorirt und um so eindringlicher auf die Ueberzeugung der Menschen wirkt? DaS Gegen¬ gewicht gegen den Materialismus kann nur der Idealismus bilden, und wenn man diesem alle Thore verschließt, außer dem einen alleinseligmachenden, so wird sich seine Kraft allmälig «uf Seite des Materialismus werfen, und dann dürfte das Spiel doch ein gefährliches sein. Von dem lichtftcundlichen Pastor wenden wir uns zu dem radicalen Par¬ lamentsmitglied. Ludwig Simon steht bei allen Parteien im besten Ruf; er galt als einer der Ehrlichsten und Begabtesten aus den Reihen der Demokratie.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/493>, abgerufen am 23.07.2024.