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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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seinem Könige, Rhodope reicht ihm ihre Hand, aber nachdem sie auf diese
Weise ihre Ehre wiederhergestellt, tobtet sie sich selbst.

In der alten Fabel, die auf der orientalischen Sitte beruht, daß das Weib
im Serail den Augen der Menge verschlossen bleibt, spricht sich die alte sehr
beherzigenswerthe Lehre aus, man solle auch dem besten Freunde seinen Schatz
nicht zeigen, denn man verleite ihn dadurch zum Verrath. Die Geschichte ist
vollkommen im Kostüm des Orients gedacht, wo die Leidenschaft schrankenlos,
durch kein sittliches Gefühl gebändigt, sich in die Welt der Erscheinung ergießt.
-- Der Dichter hat nun aber, um psychologische Feinheiten anzubringen, seine
Charaktere auf eine Weise individualisirt, daß der naive Ton der Fabel ver¬
loren geht.

Zunächst ist es nicht allgemeine Sitte, sondern individuelle oder wenig¬
stens blos landömannschaftliche Stimmung der Königin, daß sie das fremde
Auge scheut. Rhodope ist ein Gegenbild der Marianne; sie ist eine lebendige
Casuistik des Ehrenpunkts, aber nicht, wie es im spanischen Drama stattfand,
wo das Gebot der Ehre äußerlich bestimmt wurde, sondern so, daß sie die
zwingenden Gefühlspflichten aus sich selbst herausschöpft. Sie handelt nicht
im Zorn, nicht in der Leidenschaft, sie nimmt sogar ein gewisses anerkennendes
Interesse an Gyges, das sich aber keineswegs zur Liebe steigert. Sie handelt
aus Gefühlspflicht, grade wie Marianne. -- Ihr gegenüber steht der König,
der freilich nichts weniger ist , als ein orientalischer Sultan. Er wird von
vornherein als Neuerer dargestellt, der die rohen, unbehilflichen Sitten seines
Volks durch Reformen zu bessern sucht und deshalb daS Mißfallen seiner alten
treuen Diener erregt. Er ist vorurtheilsfrei und handelt also bei jenem Factum
ganz unbefangen. Er ist dabei ein ungewöhnlich edler Mann und zwar nicht
wie sonst die orientalischen Sultane edel sind, in der Aufwallung, aus Tempe¬
rament, sondern ganz wie seine Gemahlin aus Pflichtgefühl. Er reflectirt fort¬
während über die Handlungen und daS dabei zu beobachtende Verfahren und
läßt sich nicht durch einen Zug des Gemüths, sondern durch ein moralisches
Urtheil bestimmen und hier ist es wiederum schlimm, daß das Motiv des Ur¬
theils nicht in den Sitten gegeben ist, sondern jedes Mal aus den Eingebungen
des Gemüths hervorgesucht werden muß. -- Der dritte im Bunde ist Gyges, der
moralisirte Golo. Als er im Schlafzimmer der Königin ist, dreht er plötzlich den
Ring um, um sichtbar zu werden und dadurch den König zu veranlassen, ihn zu
tödten. Zwar liebt er Rhodope, aber das jedesmalige Pflichtgefühl ist herr¬
schend über seine Leidenschaft und wenn er später dennoch seinen Freund und
Wohlthäter tödtet, so geschieht auch das aus Pflichtgefühl. Kurz, es ist
zwischen den dreien ein beständiger Conflict moralischer Motive, der nur dann
einen Sinn und ein Interesse hätte, wenn die Motive unsre eignen wären.
Das ist aber nicht der Fall, denn das Ganze ist ein Problem der Reflexion.


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seinem Könige, Rhodope reicht ihm ihre Hand, aber nachdem sie auf diese
Weise ihre Ehre wiederhergestellt, tobtet sie sich selbst.

In der alten Fabel, die auf der orientalischen Sitte beruht, daß das Weib
im Serail den Augen der Menge verschlossen bleibt, spricht sich die alte sehr
beherzigenswerthe Lehre aus, man solle auch dem besten Freunde seinen Schatz
nicht zeigen, denn man verleite ihn dadurch zum Verrath. Die Geschichte ist
vollkommen im Kostüm des Orients gedacht, wo die Leidenschaft schrankenlos,
durch kein sittliches Gefühl gebändigt, sich in die Welt der Erscheinung ergießt.
— Der Dichter hat nun aber, um psychologische Feinheiten anzubringen, seine
Charaktere auf eine Weise individualisirt, daß der naive Ton der Fabel ver¬
loren geht.

Zunächst ist es nicht allgemeine Sitte, sondern individuelle oder wenig¬
stens blos landömannschaftliche Stimmung der Königin, daß sie das fremde
Auge scheut. Rhodope ist ein Gegenbild der Marianne; sie ist eine lebendige
Casuistik des Ehrenpunkts, aber nicht, wie es im spanischen Drama stattfand,
wo das Gebot der Ehre äußerlich bestimmt wurde, sondern so, daß sie die
zwingenden Gefühlspflichten aus sich selbst herausschöpft. Sie handelt nicht
im Zorn, nicht in der Leidenschaft, sie nimmt sogar ein gewisses anerkennendes
Interesse an Gyges, das sich aber keineswegs zur Liebe steigert. Sie handelt
aus Gefühlspflicht, grade wie Marianne. — Ihr gegenüber steht der König,
der freilich nichts weniger ist , als ein orientalischer Sultan. Er wird von
vornherein als Neuerer dargestellt, der die rohen, unbehilflichen Sitten seines
Volks durch Reformen zu bessern sucht und deshalb daS Mißfallen seiner alten
treuen Diener erregt. Er ist vorurtheilsfrei und handelt also bei jenem Factum
ganz unbefangen. Er ist dabei ein ungewöhnlich edler Mann und zwar nicht
wie sonst die orientalischen Sultane edel sind, in der Aufwallung, aus Tempe¬
rament, sondern ganz wie seine Gemahlin aus Pflichtgefühl. Er reflectirt fort¬
während über die Handlungen und daS dabei zu beobachtende Verfahren und
läßt sich nicht durch einen Zug des Gemüths, sondern durch ein moralisches
Urtheil bestimmen und hier ist es wiederum schlimm, daß das Motiv des Ur¬
theils nicht in den Sitten gegeben ist, sondern jedes Mal aus den Eingebungen
des Gemüths hervorgesucht werden muß. — Der dritte im Bunde ist Gyges, der
moralisirte Golo. Als er im Schlafzimmer der Königin ist, dreht er plötzlich den
Ring um, um sichtbar zu werden und dadurch den König zu veranlassen, ihn zu
tödten. Zwar liebt er Rhodope, aber das jedesmalige Pflichtgefühl ist herr¬
schend über seine Leidenschaft und wenn er später dennoch seinen Freund und
Wohlthäter tödtet, so geschieht auch das aus Pflichtgefühl. Kurz, es ist
zwischen den dreien ein beständiger Conflict moralischer Motive, der nur dann
einen Sinn und ein Interesse hätte, wenn die Motive unsre eignen wären.
Das ist aber nicht der Fall, denn das Ganze ist ein Problem der Reflexion.


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[0459] seinem Könige, Rhodope reicht ihm ihre Hand, aber nachdem sie auf diese Weise ihre Ehre wiederhergestellt, tobtet sie sich selbst. In der alten Fabel, die auf der orientalischen Sitte beruht, daß das Weib im Serail den Augen der Menge verschlossen bleibt, spricht sich die alte sehr beherzigenswerthe Lehre aus, man solle auch dem besten Freunde seinen Schatz nicht zeigen, denn man verleite ihn dadurch zum Verrath. Die Geschichte ist vollkommen im Kostüm des Orients gedacht, wo die Leidenschaft schrankenlos, durch kein sittliches Gefühl gebändigt, sich in die Welt der Erscheinung ergießt. — Der Dichter hat nun aber, um psychologische Feinheiten anzubringen, seine Charaktere auf eine Weise individualisirt, daß der naive Ton der Fabel ver¬ loren geht. Zunächst ist es nicht allgemeine Sitte, sondern individuelle oder wenig¬ stens blos landömannschaftliche Stimmung der Königin, daß sie das fremde Auge scheut. Rhodope ist ein Gegenbild der Marianne; sie ist eine lebendige Casuistik des Ehrenpunkts, aber nicht, wie es im spanischen Drama stattfand, wo das Gebot der Ehre äußerlich bestimmt wurde, sondern so, daß sie die zwingenden Gefühlspflichten aus sich selbst herausschöpft. Sie handelt nicht im Zorn, nicht in der Leidenschaft, sie nimmt sogar ein gewisses anerkennendes Interesse an Gyges, das sich aber keineswegs zur Liebe steigert. Sie handelt aus Gefühlspflicht, grade wie Marianne. — Ihr gegenüber steht der König, der freilich nichts weniger ist , als ein orientalischer Sultan. Er wird von vornherein als Neuerer dargestellt, der die rohen, unbehilflichen Sitten seines Volks durch Reformen zu bessern sucht und deshalb daS Mißfallen seiner alten treuen Diener erregt. Er ist vorurtheilsfrei und handelt also bei jenem Factum ganz unbefangen. Er ist dabei ein ungewöhnlich edler Mann und zwar nicht wie sonst die orientalischen Sultane edel sind, in der Aufwallung, aus Tempe¬ rament, sondern ganz wie seine Gemahlin aus Pflichtgefühl. Er reflectirt fort¬ während über die Handlungen und daS dabei zu beobachtende Verfahren und läßt sich nicht durch einen Zug des Gemüths, sondern durch ein moralisches Urtheil bestimmen und hier ist es wiederum schlimm, daß das Motiv des Ur¬ theils nicht in den Sitten gegeben ist, sondern jedes Mal aus den Eingebungen des Gemüths hervorgesucht werden muß. — Der dritte im Bunde ist Gyges, der moralisirte Golo. Als er im Schlafzimmer der Königin ist, dreht er plötzlich den Ring um, um sichtbar zu werden und dadurch den König zu veranlassen, ihn zu tödten. Zwar liebt er Rhodope, aber das jedesmalige Pflichtgefühl ist herr¬ schend über seine Leidenschaft und wenn er später dennoch seinen Freund und Wohlthäter tödtet, so geschieht auch das aus Pflichtgefühl. Kurz, es ist zwischen den dreien ein beständiger Conflict moralischer Motive, der nur dann einen Sinn und ein Interesse hätte, wenn die Motive unsre eignen wären. Das ist aber nicht der Fall, denn das Ganze ist ein Problem der Reflexion. S7*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/459>, abgerufen am 23.07.2024.