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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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wunderlichsten Problemen ausgehen, die Unnatur gab sich wenigstens nicht
handgreiflich kund. Seitdem man aber ängstlich zu individualisiren anfing,
entstand ein solches Raffinement in den Motiven, daß die Dichtung, anstatt
uns einen idealen Weg zu zeigen, uns vielmehr die Krankhaftigkeit und Un-
stetigkeit als den echten Gehalt des Lebens anzuweisen suchte. Manche Dichter
thaten das vollkommen unbefangen, wie z. B. Gutzkow, der seine Charaktere
von den allerabsurdesten und niedrigsten Motiven bestimmen ließ, ohne es zu
merken; andre, die das Ungesunde einer so willkürlichen Bestimmung fühlten,
verfielen darüber in einen Pessimismus, der einen um so unangenehmern
Eindruck machte, je weniger man das Talent verkennen durfte.

Zu den letztern gehört vorzugsweise Hevbel. Es sind in seinen frühern
Stücken einige wilde Nachtscenen, die ihre Wirkung nicht verfehlen, wenn man
sie auch für abscheulich erklären muß. Es ist in seinen frühern Stücken bis
zur Julia hin ein beständiger Schauder vor dem Leben, vor der Existenz im
Allgemeinen", ein Schauder, der sich namentlich in dem letzten Stück in den
widerlichsten Bildern ausspricht. Seit der Zeit hat e,r sich bemüht, gegen diese
Neigung anzukämpfen und das Fratzenhafte und Greuliche tritt immer mehr
in den Hintergrund. Was aber das Raffinement seiner Erfindungen betrifft,
so steht er noch auf dem alten Standpunkt und maux merkt das um so mehr,
da mit jenen Nachtscenen auch seine eigentliche Virtuosität wegfällt. Dies ist
es auch, was wir bei seinem neusten Werk gefunden haben: Gyges und
sein Ring, eine Tragödie in fünf Acten von Fr. Hebbel. (Wien,
Tendler). ^

Die alte Hcrodotische Geschichte nimmt in diesem Drama folgende Gestalt
an. Kandaules, der König von Lydien, erzählt seinem griechischen Günstling Gyges
von der Schönheit seiner Gemahlin und fordert ihn im Eifer deS Gesprächs
auf, sie anzusehen. Da keine andre Gelegenheit dazu da ist, führt er ihn trotz
alles Sträubens in ihr Schlafgemach, überzeugt, daß dieser Versuch ohne Folgen
bleiben wird, weil Gyges einen Ring besitzt, der unsichtbar macht. Trotzdem merkt
die Königin Rhodope, was geschehen ist, sie merkt auch, wer der Thäter war, weil
sie die Geschichte mit dem Ringe kennt; sie ahnt aber nicht, daß ihr Gemahl
um die Sache weiß. Sie läßt also Gyges, um ihre gekränkte Ehre zu rächen,
von ihren Trabanten verhaften, veranlaßt ihn zum Geständnis) seiner Schuld
und fordert nun den König auf, ihn tödten zu lassen. Dieser ist ehrlich genug,
den wahren Hergang zu erzählen und so wendet sich nun ihr Zorn gegen
ihren Gemahl. Sie fordert Gyges auf, den König zu tödten und verspricht
ihm für diesen Fall ihre Hand. Gyges wird darüber sehr traurig, doch willigt
er endlich ein, stellt Kandaules das ganze Sachverhältniß dar und dieser,
gleichfalls von Reue ergrissen, ist zum Tode bereit. Doch wird die Sache in
einem Zweikampf abgemacht, Kandaules fällt, das Volk wählt Gyges zu


wunderlichsten Problemen ausgehen, die Unnatur gab sich wenigstens nicht
handgreiflich kund. Seitdem man aber ängstlich zu individualisiren anfing,
entstand ein solches Raffinement in den Motiven, daß die Dichtung, anstatt
uns einen idealen Weg zu zeigen, uns vielmehr die Krankhaftigkeit und Un-
stetigkeit als den echten Gehalt des Lebens anzuweisen suchte. Manche Dichter
thaten das vollkommen unbefangen, wie z. B. Gutzkow, der seine Charaktere
von den allerabsurdesten und niedrigsten Motiven bestimmen ließ, ohne es zu
merken; andre, die das Ungesunde einer so willkürlichen Bestimmung fühlten,
verfielen darüber in einen Pessimismus, der einen um so unangenehmern
Eindruck machte, je weniger man das Talent verkennen durfte.

Zu den letztern gehört vorzugsweise Hevbel. Es sind in seinen frühern
Stücken einige wilde Nachtscenen, die ihre Wirkung nicht verfehlen, wenn man
sie auch für abscheulich erklären muß. Es ist in seinen frühern Stücken bis
zur Julia hin ein beständiger Schauder vor dem Leben, vor der Existenz im
Allgemeinen", ein Schauder, der sich namentlich in dem letzten Stück in den
widerlichsten Bildern ausspricht. Seit der Zeit hat e,r sich bemüht, gegen diese
Neigung anzukämpfen und das Fratzenhafte und Greuliche tritt immer mehr
in den Hintergrund. Was aber das Raffinement seiner Erfindungen betrifft,
so steht er noch auf dem alten Standpunkt und maux merkt das um so mehr,
da mit jenen Nachtscenen auch seine eigentliche Virtuosität wegfällt. Dies ist
es auch, was wir bei seinem neusten Werk gefunden haben: Gyges und
sein Ring, eine Tragödie in fünf Acten von Fr. Hebbel. (Wien,
Tendler). ^

Die alte Hcrodotische Geschichte nimmt in diesem Drama folgende Gestalt
an. Kandaules, der König von Lydien, erzählt seinem griechischen Günstling Gyges
von der Schönheit seiner Gemahlin und fordert ihn im Eifer deS Gesprächs
auf, sie anzusehen. Da keine andre Gelegenheit dazu da ist, führt er ihn trotz
alles Sträubens in ihr Schlafgemach, überzeugt, daß dieser Versuch ohne Folgen
bleiben wird, weil Gyges einen Ring besitzt, der unsichtbar macht. Trotzdem merkt
die Königin Rhodope, was geschehen ist, sie merkt auch, wer der Thäter war, weil
sie die Geschichte mit dem Ringe kennt; sie ahnt aber nicht, daß ihr Gemahl
um die Sache weiß. Sie läßt also Gyges, um ihre gekränkte Ehre zu rächen,
von ihren Trabanten verhaften, veranlaßt ihn zum Geständnis) seiner Schuld
und fordert nun den König auf, ihn tödten zu lassen. Dieser ist ehrlich genug,
den wahren Hergang zu erzählen und so wendet sich nun ihr Zorn gegen
ihren Gemahl. Sie fordert Gyges auf, den König zu tödten und verspricht
ihm für diesen Fall ihre Hand. Gyges wird darüber sehr traurig, doch willigt
er endlich ein, stellt Kandaules das ganze Sachverhältniß dar und dieser,
gleichfalls von Reue ergrissen, ist zum Tode bereit. Doch wird die Sache in
einem Zweikampf abgemacht, Kandaules fällt, das Volk wählt Gyges zu


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[0458] wunderlichsten Problemen ausgehen, die Unnatur gab sich wenigstens nicht handgreiflich kund. Seitdem man aber ängstlich zu individualisiren anfing, entstand ein solches Raffinement in den Motiven, daß die Dichtung, anstatt uns einen idealen Weg zu zeigen, uns vielmehr die Krankhaftigkeit und Un- stetigkeit als den echten Gehalt des Lebens anzuweisen suchte. Manche Dichter thaten das vollkommen unbefangen, wie z. B. Gutzkow, der seine Charaktere von den allerabsurdesten und niedrigsten Motiven bestimmen ließ, ohne es zu merken; andre, die das Ungesunde einer so willkürlichen Bestimmung fühlten, verfielen darüber in einen Pessimismus, der einen um so unangenehmern Eindruck machte, je weniger man das Talent verkennen durfte. Zu den letztern gehört vorzugsweise Hevbel. Es sind in seinen frühern Stücken einige wilde Nachtscenen, die ihre Wirkung nicht verfehlen, wenn man sie auch für abscheulich erklären muß. Es ist in seinen frühern Stücken bis zur Julia hin ein beständiger Schauder vor dem Leben, vor der Existenz im Allgemeinen", ein Schauder, der sich namentlich in dem letzten Stück in den widerlichsten Bildern ausspricht. Seit der Zeit hat e,r sich bemüht, gegen diese Neigung anzukämpfen und das Fratzenhafte und Greuliche tritt immer mehr in den Hintergrund. Was aber das Raffinement seiner Erfindungen betrifft, so steht er noch auf dem alten Standpunkt und maux merkt das um so mehr, da mit jenen Nachtscenen auch seine eigentliche Virtuosität wegfällt. Dies ist es auch, was wir bei seinem neusten Werk gefunden haben: Gyges und sein Ring, eine Tragödie in fünf Acten von Fr. Hebbel. (Wien, Tendler). ^ Die alte Hcrodotische Geschichte nimmt in diesem Drama folgende Gestalt an. Kandaules, der König von Lydien, erzählt seinem griechischen Günstling Gyges von der Schönheit seiner Gemahlin und fordert ihn im Eifer deS Gesprächs auf, sie anzusehen. Da keine andre Gelegenheit dazu da ist, führt er ihn trotz alles Sträubens in ihr Schlafgemach, überzeugt, daß dieser Versuch ohne Folgen bleiben wird, weil Gyges einen Ring besitzt, der unsichtbar macht. Trotzdem merkt die Königin Rhodope, was geschehen ist, sie merkt auch, wer der Thäter war, weil sie die Geschichte mit dem Ringe kennt; sie ahnt aber nicht, daß ihr Gemahl um die Sache weiß. Sie läßt also Gyges, um ihre gekränkte Ehre zu rächen, von ihren Trabanten verhaften, veranlaßt ihn zum Geständnis) seiner Schuld und fordert nun den König auf, ihn tödten zu lassen. Dieser ist ehrlich genug, den wahren Hergang zu erzählen und so wendet sich nun ihr Zorn gegen ihren Gemahl. Sie fordert Gyges auf, den König zu tödten und verspricht ihm für diesen Fall ihre Hand. Gyges wird darüber sehr traurig, doch willigt er endlich ein, stellt Kandaules das ganze Sachverhältniß dar und dieser, gleichfalls von Reue ergrissen, ist zum Tode bereit. Doch wird die Sache in einem Zweikampf abgemacht, Kandaules fällt, das Volk wählt Gyges zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/458>, abgerufen am 23.07.2024.