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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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der Schütten einer Ironie darüber, die im Grunde sehr wohlfeil ist. In dem
heiligsten Enthusiasmus bemerkt man zuweilen, daß der Braten angebrannt
ist, daß der Ofen dunstet, daß der Stiefel drückt u. s. w. Es gehört kein
sehr großer Scharfsinn dazu, um zu entdecken, daß große und kleine Züge
gleichzeitig nebeneinander vorkommen. Ein altes Sprichwort sagt: Für den
Bedienten gibt es keinen Helden: aber nicht weil der Held kein Held, sondern
weil der Bediente ein Bediente ist. Wir wollen mit diesem Vergleich nichts
Nachtheiliges gegen Thackeray sagen. Die Verwandtschaft liegt nur in der
Art der Beobachtung. Beim Bedienten liegt es in seiner Natur, wenn er in
dem Herrn nichts weiter sieht, als wie er sich ankleidet, sich räuspert, ißt
und trinkt u. s. w. Thackeray kann das Große und Gute wol sehen, aber
er steht es nicht, weil er sich mit dem Mikroskop zu nahe stellt. Seine Be¬
obachtung ist nur scheinbar richtig, denn sie leidet an einem falschen Stand¬
punkt. Er setzt sich den Körper gewissermaßen erst aus seinen einzelnen Theilen
zusammen, die er mikroskopisch untersucht, und wobei er zuweilen die Mittel¬
glieder ausgelassen hat. Darum auch trotz der reichen Einzelnheiten die Fami¬
lienähnlichkeit so vieler seiner Figuren, denn die Grundbestandtheile der mensch¬
lichen Natur sind überall die nämlichen, und wenn man überall auf diese
zurückgeht, so hat die Zahl der Combinationen eine bestimmte Grenze.

Es ist in diesen Romanen etwas von dem Materialismus unserer moder¬
nen Naturforscher. Wir wissen nicht, ob Thackeray mit Vogt, Moleschott
u. s. w, bekannt ist, ob er weiß, daß der Mensch eine sich selbst heizende
Locomotive ist u. s. w., aber er schafft, wie jene analystren, und halt die
Grenze seines Talents für die Grenze deS wirklichen Lebens. --


Die Kammerjungfer. Roman'von F anny Lewald. Zwei Bde. Braunschweig,
Vieweg Le Sohn. >--

Mit dem gewissenhaften Ernst und dem ehrlichen Glauben.an ihre Gegen¬
stände, welcher diese Dichterin auszeichnet, hat sich Fanny Lewald dies Mal
in das verkümmerre Leben jener Mädchen vertieft, die halb gebildet sind, halb
nicht, bei denen die Anhänglichkeit mit dem Unabhängigkeitstrieb abwechselt,
und die mit einem Wort ziemlich unerquickliche Erscheinungen sind, wenn nicht
ein günstiger Stern sich ihrer annimmt und ihnen einen angemessenen Lebens¬
kreis anweist. Fanny Lewald hat die Natur dieser Classe richtig erkannt, sie
in die angemessenen Conflicte geführt und die richtige Lösung gefunden. Nur
eins fehlt dem Roman: es ist ihr nicht ganz gelungen, dem Leser für den
Stoff jenes Interesse einzuflößen, das man nicht ohne weiteres voraussetzen
darf. Man möchte ihr etwas von jener mikroskopischen Detailanschauung wün¬
schen, die Thackeray in zu reichem Maße besitzt, denn um beschränkte Verhält¬
nisse und unbedeutende Persönlichkeiten bedeutend und interessant zu machen,


Grenzboten. I. -I8LV. 52

der Schütten einer Ironie darüber, die im Grunde sehr wohlfeil ist. In dem
heiligsten Enthusiasmus bemerkt man zuweilen, daß der Braten angebrannt
ist, daß der Ofen dunstet, daß der Stiefel drückt u. s. w. Es gehört kein
sehr großer Scharfsinn dazu, um zu entdecken, daß große und kleine Züge
gleichzeitig nebeneinander vorkommen. Ein altes Sprichwort sagt: Für den
Bedienten gibt es keinen Helden: aber nicht weil der Held kein Held, sondern
weil der Bediente ein Bediente ist. Wir wollen mit diesem Vergleich nichts
Nachtheiliges gegen Thackeray sagen. Die Verwandtschaft liegt nur in der
Art der Beobachtung. Beim Bedienten liegt es in seiner Natur, wenn er in
dem Herrn nichts weiter sieht, als wie er sich ankleidet, sich räuspert, ißt
und trinkt u. s. w. Thackeray kann das Große und Gute wol sehen, aber
er steht es nicht, weil er sich mit dem Mikroskop zu nahe stellt. Seine Be¬
obachtung ist nur scheinbar richtig, denn sie leidet an einem falschen Stand¬
punkt. Er setzt sich den Körper gewissermaßen erst aus seinen einzelnen Theilen
zusammen, die er mikroskopisch untersucht, und wobei er zuweilen die Mittel¬
glieder ausgelassen hat. Darum auch trotz der reichen Einzelnheiten die Fami¬
lienähnlichkeit so vieler seiner Figuren, denn die Grundbestandtheile der mensch¬
lichen Natur sind überall die nämlichen, und wenn man überall auf diese
zurückgeht, so hat die Zahl der Combinationen eine bestimmte Grenze.

Es ist in diesen Romanen etwas von dem Materialismus unserer moder¬
nen Naturforscher. Wir wissen nicht, ob Thackeray mit Vogt, Moleschott
u. s. w, bekannt ist, ob er weiß, daß der Mensch eine sich selbst heizende
Locomotive ist u. s. w., aber er schafft, wie jene analystren, und halt die
Grenze seines Talents für die Grenze deS wirklichen Lebens. —


Die Kammerjungfer. Roman'von F anny Lewald. Zwei Bde. Braunschweig,
Vieweg Le Sohn. >—

Mit dem gewissenhaften Ernst und dem ehrlichen Glauben.an ihre Gegen¬
stände, welcher diese Dichterin auszeichnet, hat sich Fanny Lewald dies Mal
in das verkümmerre Leben jener Mädchen vertieft, die halb gebildet sind, halb
nicht, bei denen die Anhänglichkeit mit dem Unabhängigkeitstrieb abwechselt,
und die mit einem Wort ziemlich unerquickliche Erscheinungen sind, wenn nicht
ein günstiger Stern sich ihrer annimmt und ihnen einen angemessenen Lebens¬
kreis anweist. Fanny Lewald hat die Natur dieser Classe richtig erkannt, sie
in die angemessenen Conflicte geführt und die richtige Lösung gefunden. Nur
eins fehlt dem Roman: es ist ihr nicht ganz gelungen, dem Leser für den
Stoff jenes Interesse einzuflößen, das man nicht ohne weiteres voraussetzen
darf. Man möchte ihr etwas von jener mikroskopischen Detailanschauung wün¬
schen, die Thackeray in zu reichem Maße besitzt, denn um beschränkte Verhält¬
nisse und unbedeutende Persönlichkeiten bedeutend und interessant zu machen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/417>, abgerufen am 23.07.2024.