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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Reihe feiner Beobachtungen, wieder eine völlige Abwesenheit aller Composition,
wieder jene pessimistische Grundstimmung, die grade in den edelsten Seiten
des Herzens die Schwächen aufsucht und folgerichtig die Schwächen beschönigt.
Wir haben viele einzelne Stellen gefunden, die Theilnahme, Rührung oder
Heiterkeit erwecken; wir haben der Menschenkenntniß des Verfassers auch dies
Mal unsere Bewunderung nicht versagen können; aber wir müssen es grade
heraussagen, das Buch als Ganzes hat uns entsetzlich gelangweilt, und wenn
wir es dennoch zu Ende gebracht haben, so war das ein Act des Willens,
der uns nicht leicht geworden ist. Wir glauben, daß es den meisten Lesern
ebenso ergehen wird.

Jede größere Dichtung, gleichviel ob Epos, Drama oder Roman, hat
die Aufgabe, uns eine bestimmt zusammenhängende, nach dem Gesetz der
Spannung geordnete Geschichte zu erzählen; wenn man aber einzelne Bege¬
benheiten aneinandersädelt, die nichts weiter gemein haben, als daß dieselben
Personen darin auftreten, so ermüdet das auch die rüstigste Aufmerksamkeit.
Thackerav ist in einen Fehler verfallen, den er Balzac abgelernt hat: er läßt
mehre Personen des Pendennis wieder auftreten, ja er stellt Pendennis selbst
als den Autor des vorliegenden Werks dar, und verspricht, in einem nächst¬
folgenden Roman die Lebensbeschreibung einzelner Personen, die hier abge¬
brochen wird, weiter fortzusetzen. Es liegt darin ein Verkennen aller Kunst.
In der Wirklichkeit gehen freilich die Fäden unaufhörlich ineinander über,
und es gibt nirgend einen Abschluß. Die Kunst soll aber eben diesen Abschluß
finden, und uns ein fertiges Gemälde geben. In der Physiognomie der Per¬
sonen, die fortwährend aus dem Rahmen heraussehen, liegt etwas Verschwom¬
menes und Unbestimmtes, was durch die scharfe Charakteristik des Einzelnen
nicht aufgehoben wird.

Je größer das Talent ist, dessen Mißbrauch wir beklagen müssen, desto
schärfer haben wir auf die Uebelstände der ganzen Richtung hinzuweisen, um
vor Nachahmung zu warnen.

Die mikroskopische Beobachtung ertödtet zunächst allen Idealismus, und
ersetzt ihn durch eine trübe, sentimentale Stimmung, die niemals recht weiß,
ob sie weinen oder lachen soll. Dem Anschein nach hat man die reine Wirk¬
lichkeit vor sich, in der That aber ist es nichts als die plastische Versinnlichung
einer subjectiven Stimmung, weshalb sich der Dichter denn auch fortwährend
veranlaßt steht, mit seiner eignen Person hervorzutreten, den Leser darauf
aufmerkam zu machen, wie richtig seine Anschauung sei, den Kritiker zurecht¬
zuweisen und über Gott und die Welt zu Philosophiren. Man kann diese
Darstellung auch nicht als eine Satire gegen bestehende Uebelstände anneh¬
men, denn zur Satire gehört ein fester Glaube. Die schönen und großen
Momente werden nicht rein dargestellt, denn es breitet sich von vornherein


Reihe feiner Beobachtungen, wieder eine völlige Abwesenheit aller Composition,
wieder jene pessimistische Grundstimmung, die grade in den edelsten Seiten
des Herzens die Schwächen aufsucht und folgerichtig die Schwächen beschönigt.
Wir haben viele einzelne Stellen gefunden, die Theilnahme, Rührung oder
Heiterkeit erwecken; wir haben der Menschenkenntniß des Verfassers auch dies
Mal unsere Bewunderung nicht versagen können; aber wir müssen es grade
heraussagen, das Buch als Ganzes hat uns entsetzlich gelangweilt, und wenn
wir es dennoch zu Ende gebracht haben, so war das ein Act des Willens,
der uns nicht leicht geworden ist. Wir glauben, daß es den meisten Lesern
ebenso ergehen wird.

Jede größere Dichtung, gleichviel ob Epos, Drama oder Roman, hat
die Aufgabe, uns eine bestimmt zusammenhängende, nach dem Gesetz der
Spannung geordnete Geschichte zu erzählen; wenn man aber einzelne Bege¬
benheiten aneinandersädelt, die nichts weiter gemein haben, als daß dieselben
Personen darin auftreten, so ermüdet das auch die rüstigste Aufmerksamkeit.
Thackerav ist in einen Fehler verfallen, den er Balzac abgelernt hat: er läßt
mehre Personen des Pendennis wieder auftreten, ja er stellt Pendennis selbst
als den Autor des vorliegenden Werks dar, und verspricht, in einem nächst¬
folgenden Roman die Lebensbeschreibung einzelner Personen, die hier abge¬
brochen wird, weiter fortzusetzen. Es liegt darin ein Verkennen aller Kunst.
In der Wirklichkeit gehen freilich die Fäden unaufhörlich ineinander über,
und es gibt nirgend einen Abschluß. Die Kunst soll aber eben diesen Abschluß
finden, und uns ein fertiges Gemälde geben. In der Physiognomie der Per¬
sonen, die fortwährend aus dem Rahmen heraussehen, liegt etwas Verschwom¬
menes und Unbestimmtes, was durch die scharfe Charakteristik des Einzelnen
nicht aufgehoben wird.

Je größer das Talent ist, dessen Mißbrauch wir beklagen müssen, desto
schärfer haben wir auf die Uebelstände der ganzen Richtung hinzuweisen, um
vor Nachahmung zu warnen.

Die mikroskopische Beobachtung ertödtet zunächst allen Idealismus, und
ersetzt ihn durch eine trübe, sentimentale Stimmung, die niemals recht weiß,
ob sie weinen oder lachen soll. Dem Anschein nach hat man die reine Wirk¬
lichkeit vor sich, in der That aber ist es nichts als die plastische Versinnlichung
einer subjectiven Stimmung, weshalb sich der Dichter denn auch fortwährend
veranlaßt steht, mit seiner eignen Person hervorzutreten, den Leser darauf
aufmerkam zu machen, wie richtig seine Anschauung sei, den Kritiker zurecht¬
zuweisen und über Gott und die Welt zu Philosophiren. Man kann diese
Darstellung auch nicht als eine Satire gegen bestehende Uebelstände anneh¬
men, denn zur Satire gehört ein fester Glaube. Die schönen und großen
Momente werden nicht rein dargestellt, denn es breitet sich von vornherein


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[0416] Reihe feiner Beobachtungen, wieder eine völlige Abwesenheit aller Composition, wieder jene pessimistische Grundstimmung, die grade in den edelsten Seiten des Herzens die Schwächen aufsucht und folgerichtig die Schwächen beschönigt. Wir haben viele einzelne Stellen gefunden, die Theilnahme, Rührung oder Heiterkeit erwecken; wir haben der Menschenkenntniß des Verfassers auch dies Mal unsere Bewunderung nicht versagen können; aber wir müssen es grade heraussagen, das Buch als Ganzes hat uns entsetzlich gelangweilt, und wenn wir es dennoch zu Ende gebracht haben, so war das ein Act des Willens, der uns nicht leicht geworden ist. Wir glauben, daß es den meisten Lesern ebenso ergehen wird. Jede größere Dichtung, gleichviel ob Epos, Drama oder Roman, hat die Aufgabe, uns eine bestimmt zusammenhängende, nach dem Gesetz der Spannung geordnete Geschichte zu erzählen; wenn man aber einzelne Bege¬ benheiten aneinandersädelt, die nichts weiter gemein haben, als daß dieselben Personen darin auftreten, so ermüdet das auch die rüstigste Aufmerksamkeit. Thackerav ist in einen Fehler verfallen, den er Balzac abgelernt hat: er läßt mehre Personen des Pendennis wieder auftreten, ja er stellt Pendennis selbst als den Autor des vorliegenden Werks dar, und verspricht, in einem nächst¬ folgenden Roman die Lebensbeschreibung einzelner Personen, die hier abge¬ brochen wird, weiter fortzusetzen. Es liegt darin ein Verkennen aller Kunst. In der Wirklichkeit gehen freilich die Fäden unaufhörlich ineinander über, und es gibt nirgend einen Abschluß. Die Kunst soll aber eben diesen Abschluß finden, und uns ein fertiges Gemälde geben. In der Physiognomie der Per¬ sonen, die fortwährend aus dem Rahmen heraussehen, liegt etwas Verschwom¬ menes und Unbestimmtes, was durch die scharfe Charakteristik des Einzelnen nicht aufgehoben wird. Je größer das Talent ist, dessen Mißbrauch wir beklagen müssen, desto schärfer haben wir auf die Uebelstände der ganzen Richtung hinzuweisen, um vor Nachahmung zu warnen. Die mikroskopische Beobachtung ertödtet zunächst allen Idealismus, und ersetzt ihn durch eine trübe, sentimentale Stimmung, die niemals recht weiß, ob sie weinen oder lachen soll. Dem Anschein nach hat man die reine Wirk¬ lichkeit vor sich, in der That aber ist es nichts als die plastische Versinnlichung einer subjectiven Stimmung, weshalb sich der Dichter denn auch fortwährend veranlaßt steht, mit seiner eignen Person hervorzutreten, den Leser darauf aufmerkam zu machen, wie richtig seine Anschauung sei, den Kritiker zurecht¬ zuweisen und über Gott und die Welt zu Philosophiren. Man kann diese Darstellung auch nicht als eine Satire gegen bestehende Uebelstände anneh¬ men, denn zur Satire gehört ein fester Glaube. Die schönen und großen Momente werden nicht rein dargestellt, denn es breitet sich von vornherein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/416>, abgerufen am 23.07.2024.