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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Macht die Grenzen oder mindestens die Linie der Dura und Bereszina verthei¬
digen zu können. Auf dieser Linie wurde deshalb die Reservearmee aufgestellt,
in einem weiten Bogen von Riga und Dünamünde über Dünaburg bis Boris-
sow, Bobruisk und Kiew; hier, in Riga, Dünaburg, Drissa, Bobruisk und
Kiew waren die großen Vorräthe aufgehäuft und die Neserveparks mit dem
Schießbedarf aufgestellt, hier sollte eine Linie von Festungen angelegt werden:
die Arbeiten bei Dünaburg, Bobruisk und Borissow wurden in Angriff ge¬
nommen , bei Drissa an der Dura ein stark verschanztes Lager errichtet. Alles
beweist, daß man in Rußland der Ansicht war, man werde den Feind im
Westen der Dura und Bereszina schlagen können.

Zu diesem Behuf war die russische Armee innerhalb dieses Bogens in zwei
Hauptabtheilungen zerlegt, eine nördlichere unter Barclay, die über1S0,000 Mann
stark sein sollte, in Wahrheit aber nicht 110,000 Mann zählte und eine süd¬
lichere unter Bagration, die circa 80,000 Mann stark sein mochte, aber schon im
Mai mehr als die Hälfte an die noch südlicher stehende Reservearmee Tormassows
abgeben mußt. Wandte sich nun Napoleon gegen Barclay, so sollte sich dieser
-- nach Phulls Plan -- auf das verschanzte Lager bei Drissa!!! zurückziehen --
welches nach den Ansichten dieses Theoretikers als eine Flankenstellung sowol
die Straße nach Petersburg, wie die nach Moskau beherrschte -- während
Bagration in der Flanke und im Rücken des Feindes einen aufreibenden
Parteigängerkrieg führen sollte; wenn aber Napoleon den Fürsten Bagration
mit Uebermacht angreifen sollte, so war diesem vorgeschrieben, nach Borrissow
zu weichen, diesen vermeintlich festen Punkt zu halten, während dann Barclay
gegen Napoleons linke Flanke operiren würde. Das war in den Hauptzügen
Phulls Plan; obgleich er gleich anfangs durch die Theilung der Armee Ba-
grations, deren schwacher Nest von 33,000 Mann der ihm überwiesen"" Auf¬
gabe in keinem von beiden Fällen gewachsen war, in einem wesentlichen Punkt
erschüttert wurde, hielt man doch an ihm fest, weil man nicht ahnte, daß selbst
beide Armeen vereinigt nicht stark genug waren, den Heeresmassen Napo¬
leons Widerstand entgegenzusetzen.

Herr von Bernhard! sührt nun im Einzelnen aus, welche Umstände unter¬
geordneter Natur den Rückzug des russischen Heeres von Ort zu Ort nothwen¬
dig machten. Wir müssen es uns leider versagen, ihm in das Detail zu folgen,
und uns auf die Bemerkung beschränken, daß er den Nachweis führt, wie
während des ganzen, durch augenblickliche Nothwendigkeiten motivirten Rück¬
zugs überall der Gedanke an eine in nächster Frist zu liefernde entscheidende
Schlacht im russischen Hauptquartier vorwaltete, wie man also das Rettungs¬
mittel fortwährend in dem directen Gegentheil des knesebeckschen Gedankens
suchte. Es war hauptsächlich der verkehrte Rückzug nach Drissa, der, weit
davon entfernt, zu einem festen Stützpunkt für den Widerstand zu führen, eben


Macht die Grenzen oder mindestens die Linie der Dura und Bereszina verthei¬
digen zu können. Auf dieser Linie wurde deshalb die Reservearmee aufgestellt,
in einem weiten Bogen von Riga und Dünamünde über Dünaburg bis Boris-
sow, Bobruisk und Kiew; hier, in Riga, Dünaburg, Drissa, Bobruisk und
Kiew waren die großen Vorräthe aufgehäuft und die Neserveparks mit dem
Schießbedarf aufgestellt, hier sollte eine Linie von Festungen angelegt werden:
die Arbeiten bei Dünaburg, Bobruisk und Borissow wurden in Angriff ge¬
nommen , bei Drissa an der Dura ein stark verschanztes Lager errichtet. Alles
beweist, daß man in Rußland der Ansicht war, man werde den Feind im
Westen der Dura und Bereszina schlagen können.

Zu diesem Behuf war die russische Armee innerhalb dieses Bogens in zwei
Hauptabtheilungen zerlegt, eine nördlichere unter Barclay, die über1S0,000 Mann
stark sein sollte, in Wahrheit aber nicht 110,000 Mann zählte und eine süd¬
lichere unter Bagration, die circa 80,000 Mann stark sein mochte, aber schon im
Mai mehr als die Hälfte an die noch südlicher stehende Reservearmee Tormassows
abgeben mußt. Wandte sich nun Napoleon gegen Barclay, so sollte sich dieser
— nach Phulls Plan — auf das verschanzte Lager bei Drissa!!! zurückziehen —
welches nach den Ansichten dieses Theoretikers als eine Flankenstellung sowol
die Straße nach Petersburg, wie die nach Moskau beherrschte — während
Bagration in der Flanke und im Rücken des Feindes einen aufreibenden
Parteigängerkrieg führen sollte; wenn aber Napoleon den Fürsten Bagration
mit Uebermacht angreifen sollte, so war diesem vorgeschrieben, nach Borrissow
zu weichen, diesen vermeintlich festen Punkt zu halten, während dann Barclay
gegen Napoleons linke Flanke operiren würde. Das war in den Hauptzügen
Phulls Plan; obgleich er gleich anfangs durch die Theilung der Armee Ba-
grations, deren schwacher Nest von 33,000 Mann der ihm überwiesen«» Auf¬
gabe in keinem von beiden Fällen gewachsen war, in einem wesentlichen Punkt
erschüttert wurde, hielt man doch an ihm fest, weil man nicht ahnte, daß selbst
beide Armeen vereinigt nicht stark genug waren, den Heeresmassen Napo¬
leons Widerstand entgegenzusetzen.

Herr von Bernhard! sührt nun im Einzelnen aus, welche Umstände unter¬
geordneter Natur den Rückzug des russischen Heeres von Ort zu Ort nothwen¬
dig machten. Wir müssen es uns leider versagen, ihm in das Detail zu folgen,
und uns auf die Bemerkung beschränken, daß er den Nachweis führt, wie
während des ganzen, durch augenblickliche Nothwendigkeiten motivirten Rück¬
zugs überall der Gedanke an eine in nächster Frist zu liefernde entscheidende
Schlacht im russischen Hauptquartier vorwaltete, wie man also das Rettungs¬
mittel fortwährend in dem directen Gegentheil des knesebeckschen Gedankens
suchte. Es war hauptsächlich der verkehrte Rückzug nach Drissa, der, weit
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[0348] Macht die Grenzen oder mindestens die Linie der Dura und Bereszina verthei¬ digen zu können. Auf dieser Linie wurde deshalb die Reservearmee aufgestellt, in einem weiten Bogen von Riga und Dünamünde über Dünaburg bis Boris- sow, Bobruisk und Kiew; hier, in Riga, Dünaburg, Drissa, Bobruisk und Kiew waren die großen Vorräthe aufgehäuft und die Neserveparks mit dem Schießbedarf aufgestellt, hier sollte eine Linie von Festungen angelegt werden: die Arbeiten bei Dünaburg, Bobruisk und Borissow wurden in Angriff ge¬ nommen , bei Drissa an der Dura ein stark verschanztes Lager errichtet. Alles beweist, daß man in Rußland der Ansicht war, man werde den Feind im Westen der Dura und Bereszina schlagen können. Zu diesem Behuf war die russische Armee innerhalb dieses Bogens in zwei Hauptabtheilungen zerlegt, eine nördlichere unter Barclay, die über1S0,000 Mann stark sein sollte, in Wahrheit aber nicht 110,000 Mann zählte und eine süd¬ lichere unter Bagration, die circa 80,000 Mann stark sein mochte, aber schon im Mai mehr als die Hälfte an die noch südlicher stehende Reservearmee Tormassows abgeben mußt. Wandte sich nun Napoleon gegen Barclay, so sollte sich dieser — nach Phulls Plan — auf das verschanzte Lager bei Drissa!!! zurückziehen — welches nach den Ansichten dieses Theoretikers als eine Flankenstellung sowol die Straße nach Petersburg, wie die nach Moskau beherrschte — während Bagration in der Flanke und im Rücken des Feindes einen aufreibenden Parteigängerkrieg führen sollte; wenn aber Napoleon den Fürsten Bagration mit Uebermacht angreifen sollte, so war diesem vorgeschrieben, nach Borrissow zu weichen, diesen vermeintlich festen Punkt zu halten, während dann Barclay gegen Napoleons linke Flanke operiren würde. Das war in den Hauptzügen Phulls Plan; obgleich er gleich anfangs durch die Theilung der Armee Ba- grations, deren schwacher Nest von 33,000 Mann der ihm überwiesen«» Auf¬ gabe in keinem von beiden Fällen gewachsen war, in einem wesentlichen Punkt erschüttert wurde, hielt man doch an ihm fest, weil man nicht ahnte, daß selbst beide Armeen vereinigt nicht stark genug waren, den Heeresmassen Napo¬ leons Widerstand entgegenzusetzen. Herr von Bernhard! sührt nun im Einzelnen aus, welche Umstände unter¬ geordneter Natur den Rückzug des russischen Heeres von Ort zu Ort nothwen¬ dig machten. Wir müssen es uns leider versagen, ihm in das Detail zu folgen, und uns auf die Bemerkung beschränken, daß er den Nachweis führt, wie während des ganzen, durch augenblickliche Nothwendigkeiten motivirten Rück¬ zugs überall der Gedanke an eine in nächster Frist zu liefernde entscheidende Schlacht im russischen Hauptquartier vorwaltete, wie man also das Rettungs¬ mittel fortwährend in dem directen Gegentheil des knesebeckschen Gedankens suchte. Es war hauptsächlich der verkehrte Rückzug nach Drissa, der, weit davon entfernt, zu einem festen Stützpunkt für den Widerstand zu führen, eben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/348>, abgerufen am 23.07.2024.