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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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nichtung des feindlichen Heeres mitwirken zu lassen, maßgebend gewesen ist,
sondern daß derselbe durch die ursprünglichen falschen Maßregeln bedingt und
durch eine Kette von Fehlern nothwendig gemacht wurde, daß die Russen
widerwillig von Ort zu Ort wichen und stets die Absicht festhielten, eine
entscheidende Schlacht zu liefern. Bekanntlich hat die entgegengesetzte Auf¬
fassung, die in dem Rückzug einen tiefen, auf die Ausdehnung des Reiches
und seine dünne Bevölkerung wohlberechneten Plan erblickte, durch Müsflings
Mittheilungen eine nicht unverächtliche Stütze erhalten, und es ist eine jetzt
erwiesene Thatsache, daß einige preußische Offiziere, namentlich Knesebeck, die
Natur jenes merkwürdigen Feldzugs sehr deutlich voraushaben und Zeit und
Raum zu Hauptfactoreu für ihre Vorschläge machten, und daß andere solchen
Ideen wenigstens sehr nahe kamen, indem sie an der Möglichkeit zweifelten, daß
das Nequisitionssystem in einem Lande, wo weniger als 800 Menschen aus der
Quadratmeile lebten, mit Erfolg durchgeführt werden könnte; woraus sich
dann die Nachtheile, die einer übermäßigen Verlängerung der Verbindungslinie
folgen mußten, von selbst ergaben. Wir wissen, daß Knesebeck im März 1812 dem
Kaiser Alexander seinen auf die klare Erkenntniß dieser Umstände gestützten Plan
eines weiten Rückzugs in das Innere des Reichs auseinandersetzte und von
ihm mit der Ueberzeugung schied, daß der Kaiser für diese Ideen gewonnen
sei; wir wissen auch, daß Alexander, obgleich er nie selbst formell den Ober¬
befehl über das Heer übernahm, eS dennoch nie unterlassen konnte, auf die
Leitung der Operationen mehr oder minder entscheidend einzuwirken, und wir
könnten es demnach für möglich halten, daß, wenn auch im russischen Haupt¬
quartier ganz andere Ansichten vorwalteten, durch die persönliche Einwirkung
des Kaisers die Thatsachen dennoch einen Lauf erhielten, durch den sie der
Ausführung des knesebeckschen Gedankens nahekamen. Dazu kommt noch,
daß Müffling im I. 1819 von Phull, dessen Operationöplan dem Rückzug
der Russen nach dem Lager bei Drissa zum Grunde lag, erfuhr, dieser Plan
sei nur die Hälfte seiner Disposition gewesen, die andere, die den Rückzug
von Drissa nach Moskau behandelt, habe nur der Kaiser gekannt; Müffling
schenkte den Aussagen Phulls, die doch schon durch die Lage Drissas sehr
zweifelhaft gemacht werden, ohne weiteres Glauben und meinte auch in einem
Schreiben Knesebecks über seine Sendung nach Petersburg im I. 1812 die
Bestätigung derselben gefunden zu haben. Allein aus diesem Schreiben geht
das Gegentheil hervor: Phulls Plan ist älter als Knesebecks Unterredungen
mit dem Kaiser; er lag bereits unter den Papieren des Kaisers, als Knesebeck
in Se. Petersburg eintraf, und wenn er mit den Gedanken des letztern so
vollständig übereingestimmt hätte, wie Müffling annimmt, so würde ihn
Knesebeck nicht unter den Projecten aufgeführt haben, deren Beseitigung noth¬
wendig gewesen wäre, um seinen eignen Ideen Eingang zu verschaffen. Küche-


nichtung des feindlichen Heeres mitwirken zu lassen, maßgebend gewesen ist,
sondern daß derselbe durch die ursprünglichen falschen Maßregeln bedingt und
durch eine Kette von Fehlern nothwendig gemacht wurde, daß die Russen
widerwillig von Ort zu Ort wichen und stets die Absicht festhielten, eine
entscheidende Schlacht zu liefern. Bekanntlich hat die entgegengesetzte Auf¬
fassung, die in dem Rückzug einen tiefen, auf die Ausdehnung des Reiches
und seine dünne Bevölkerung wohlberechneten Plan erblickte, durch Müsflings
Mittheilungen eine nicht unverächtliche Stütze erhalten, und es ist eine jetzt
erwiesene Thatsache, daß einige preußische Offiziere, namentlich Knesebeck, die
Natur jenes merkwürdigen Feldzugs sehr deutlich voraushaben und Zeit und
Raum zu Hauptfactoreu für ihre Vorschläge machten, und daß andere solchen
Ideen wenigstens sehr nahe kamen, indem sie an der Möglichkeit zweifelten, daß
das Nequisitionssystem in einem Lande, wo weniger als 800 Menschen aus der
Quadratmeile lebten, mit Erfolg durchgeführt werden könnte; woraus sich
dann die Nachtheile, die einer übermäßigen Verlängerung der Verbindungslinie
folgen mußten, von selbst ergaben. Wir wissen, daß Knesebeck im März 1812 dem
Kaiser Alexander seinen auf die klare Erkenntniß dieser Umstände gestützten Plan
eines weiten Rückzugs in das Innere des Reichs auseinandersetzte und von
ihm mit der Ueberzeugung schied, daß der Kaiser für diese Ideen gewonnen
sei; wir wissen auch, daß Alexander, obgleich er nie selbst formell den Ober¬
befehl über das Heer übernahm, eS dennoch nie unterlassen konnte, auf die
Leitung der Operationen mehr oder minder entscheidend einzuwirken, und wir
könnten es demnach für möglich halten, daß, wenn auch im russischen Haupt¬
quartier ganz andere Ansichten vorwalteten, durch die persönliche Einwirkung
des Kaisers die Thatsachen dennoch einen Lauf erhielten, durch den sie der
Ausführung des knesebeckschen Gedankens nahekamen. Dazu kommt noch,
daß Müffling im I. 1819 von Phull, dessen Operationöplan dem Rückzug
der Russen nach dem Lager bei Drissa zum Grunde lag, erfuhr, dieser Plan
sei nur die Hälfte seiner Disposition gewesen, die andere, die den Rückzug
von Drissa nach Moskau behandelt, habe nur der Kaiser gekannt; Müffling
schenkte den Aussagen Phulls, die doch schon durch die Lage Drissas sehr
zweifelhaft gemacht werden, ohne weiteres Glauben und meinte auch in einem
Schreiben Knesebecks über seine Sendung nach Petersburg im I. 1812 die
Bestätigung derselben gefunden zu haben. Allein aus diesem Schreiben geht
das Gegentheil hervor: Phulls Plan ist älter als Knesebecks Unterredungen
mit dem Kaiser; er lag bereits unter den Papieren des Kaisers, als Knesebeck
in Se. Petersburg eintraf, und wenn er mit den Gedanken des letztern so
vollständig übereingestimmt hätte, wie Müffling annimmt, so würde ihn
Knesebeck nicht unter den Projecten aufgeführt haben, deren Beseitigung noth¬
wendig gewesen wäre, um seinen eignen Ideen Eingang zu verschaffen. Küche-


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[0346] nichtung des feindlichen Heeres mitwirken zu lassen, maßgebend gewesen ist, sondern daß derselbe durch die ursprünglichen falschen Maßregeln bedingt und durch eine Kette von Fehlern nothwendig gemacht wurde, daß die Russen widerwillig von Ort zu Ort wichen und stets die Absicht festhielten, eine entscheidende Schlacht zu liefern. Bekanntlich hat die entgegengesetzte Auf¬ fassung, die in dem Rückzug einen tiefen, auf die Ausdehnung des Reiches und seine dünne Bevölkerung wohlberechneten Plan erblickte, durch Müsflings Mittheilungen eine nicht unverächtliche Stütze erhalten, und es ist eine jetzt erwiesene Thatsache, daß einige preußische Offiziere, namentlich Knesebeck, die Natur jenes merkwürdigen Feldzugs sehr deutlich voraushaben und Zeit und Raum zu Hauptfactoreu für ihre Vorschläge machten, und daß andere solchen Ideen wenigstens sehr nahe kamen, indem sie an der Möglichkeit zweifelten, daß das Nequisitionssystem in einem Lande, wo weniger als 800 Menschen aus der Quadratmeile lebten, mit Erfolg durchgeführt werden könnte; woraus sich dann die Nachtheile, die einer übermäßigen Verlängerung der Verbindungslinie folgen mußten, von selbst ergaben. Wir wissen, daß Knesebeck im März 1812 dem Kaiser Alexander seinen auf die klare Erkenntniß dieser Umstände gestützten Plan eines weiten Rückzugs in das Innere des Reichs auseinandersetzte und von ihm mit der Ueberzeugung schied, daß der Kaiser für diese Ideen gewonnen sei; wir wissen auch, daß Alexander, obgleich er nie selbst formell den Ober¬ befehl über das Heer übernahm, eS dennoch nie unterlassen konnte, auf die Leitung der Operationen mehr oder minder entscheidend einzuwirken, und wir könnten es demnach für möglich halten, daß, wenn auch im russischen Haupt¬ quartier ganz andere Ansichten vorwalteten, durch die persönliche Einwirkung des Kaisers die Thatsachen dennoch einen Lauf erhielten, durch den sie der Ausführung des knesebeckschen Gedankens nahekamen. Dazu kommt noch, daß Müffling im I. 1819 von Phull, dessen Operationöplan dem Rückzug der Russen nach dem Lager bei Drissa zum Grunde lag, erfuhr, dieser Plan sei nur die Hälfte seiner Disposition gewesen, die andere, die den Rückzug von Drissa nach Moskau behandelt, habe nur der Kaiser gekannt; Müffling schenkte den Aussagen Phulls, die doch schon durch die Lage Drissas sehr zweifelhaft gemacht werden, ohne weiteres Glauben und meinte auch in einem Schreiben Knesebecks über seine Sendung nach Petersburg im I. 1812 die Bestätigung derselben gefunden zu haben. Allein aus diesem Schreiben geht das Gegentheil hervor: Phulls Plan ist älter als Knesebecks Unterredungen mit dem Kaiser; er lag bereits unter den Papieren des Kaisers, als Knesebeck in Se. Petersburg eintraf, und wenn er mit den Gedanken des letztern so vollständig übereingestimmt hätte, wie Müffling annimmt, so würde ihn Knesebeck nicht unter den Projecten aufgeführt haben, deren Beseitigung noth¬ wendig gewesen wäre, um seinen eignen Ideen Eingang zu verschaffen. Küche-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/346>, abgerufen am 23.07.2024.