Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

meinsam handelnde Massen. Wenn die Heere zur Schlacht auszogen, blieben
die Völker unvollständig gerüstet und bewaffnet, meist in Wurfweite voneinan¬
der, und von beiden Seiten flogen Pfeile, Steine und Geschosse; nur die vor-
kämpfenden Helden, "die Rufer im Streit", rückten auf den Zwischenraum,
"die Brücke des Kampfes" vor, drangen auf die feindlichen Massen ein oder
fochten mit würdigen Gegnern in Einzelkämvfcn, nachdem sie oft in langen
Wechselreden einander herausgefordert und verhöhnt hatten. Sie waren mit
Helm, Panzer, Beinschienen und großen Schilden, die den ganzen Mann deckten,
wohlversehen und diese Schutzwaffen theils aus Kupfer, theils aus Leder;
ihre Hauptangriffswaffe war eine große Lanze zu Wurf und Stoß, daneben
auch zwei leichtere Wurfspieße und ein kurzes Schwert, ausnahmsweise der
Bogen. Sie fochten theils zu Fuß, theils zu Wagen, den dann ein Freund
oder Diener lenkte, und der immer mit zwei oder'drei Pferden bespannt war.
Reiterei war völlig unbekannt.

Die Städte des homerischen Griechenlands waren schon zu einer nicht ge¬
ringen Stufe der Entwicklung gediehen. Die Ortsanhänglichkeit war bereits
tief gewurzelt, das Landeigenthum erblich, und Tempel und Paläste, Häfen
und Schiffswerfte, Weinberge und Gärten verliehen den Städten einen statt¬
lichen Anblick. Das Uebergewicht der Vertheidigungsmittel über die Angriffs¬
mittel war ganz unverhältnißmäßig, und dies Uebergewicht ist eine der Haupt¬
ursachen für das Wachsthum des bürgerlichen Lebens und den Fortschritt im
Allgemeinen gewesen.

Die Kunst war noch in ihren rohesten Anfängen. Das sollte freilich keines
Beweises bedürfen, wenn man die eben geschilderten Zustande in Erwägung
zieht, aber da man vielfach die im Homer beschriebenen Wunderwerke für
reelle Productionen der damaligen Zeit gehalten hat, so ist es wol nicht un¬
nütz, die gänzliche UnHaltbarkeit solcher Vorstellungen zu beweisen. Werke der
bildenden Kunst kommen bei Homer entweder nur als Arbeiten des Gottes
Hephästos oder bei den Phäaken vor. Wer dem von Hephästos geschmiede¬
ten Schilde Aedilis Realität beilegt, kann mit ebensoviel Recht die goldenen
Mädchen, die der Gott zu seinem Dienste belebt hatte und auf die er sich
beim Gehen stützte, für wirkliche Dinge halten und die Meisterschaft der home¬
rischen Zeit in Verfertigung von Automaten bewundern. Wer die goldenen
Knaben, die bei den nächtlichen Mahlen im Königshause der Phäaken Fackeln
halten, für etwas Wirkliches hält, muß auch an die Schiffe der Phäaken glau¬
ben, denen man blos den Bestimmungsort der Fahrt anzugeben brauchte, und
die dann unverzüglich den Weg ohne weitere Lenkung durch Steuer zurück¬
legten. Die Phäakeninsel ist ein Wunderland, das grade so viel Realität
hat, als irgendeine Feeninsel in Tausend und eine Nacht, und die Versuche
der Alten, sie in Corfu zu localisiren, sind grade ebenso berechtigt, wie die der


meinsam handelnde Massen. Wenn die Heere zur Schlacht auszogen, blieben
die Völker unvollständig gerüstet und bewaffnet, meist in Wurfweite voneinan¬
der, und von beiden Seiten flogen Pfeile, Steine und Geschosse; nur die vor-
kämpfenden Helden, „die Rufer im Streit", rückten auf den Zwischenraum,
„die Brücke des Kampfes" vor, drangen auf die feindlichen Massen ein oder
fochten mit würdigen Gegnern in Einzelkämvfcn, nachdem sie oft in langen
Wechselreden einander herausgefordert und verhöhnt hatten. Sie waren mit
Helm, Panzer, Beinschienen und großen Schilden, die den ganzen Mann deckten,
wohlversehen und diese Schutzwaffen theils aus Kupfer, theils aus Leder;
ihre Hauptangriffswaffe war eine große Lanze zu Wurf und Stoß, daneben
auch zwei leichtere Wurfspieße und ein kurzes Schwert, ausnahmsweise der
Bogen. Sie fochten theils zu Fuß, theils zu Wagen, den dann ein Freund
oder Diener lenkte, und der immer mit zwei oder'drei Pferden bespannt war.
Reiterei war völlig unbekannt.

Die Städte des homerischen Griechenlands waren schon zu einer nicht ge¬
ringen Stufe der Entwicklung gediehen. Die Ortsanhänglichkeit war bereits
tief gewurzelt, das Landeigenthum erblich, und Tempel und Paläste, Häfen
und Schiffswerfte, Weinberge und Gärten verliehen den Städten einen statt¬
lichen Anblick. Das Uebergewicht der Vertheidigungsmittel über die Angriffs¬
mittel war ganz unverhältnißmäßig, und dies Uebergewicht ist eine der Haupt¬
ursachen für das Wachsthum des bürgerlichen Lebens und den Fortschritt im
Allgemeinen gewesen.

Die Kunst war noch in ihren rohesten Anfängen. Das sollte freilich keines
Beweises bedürfen, wenn man die eben geschilderten Zustande in Erwägung
zieht, aber da man vielfach die im Homer beschriebenen Wunderwerke für
reelle Productionen der damaligen Zeit gehalten hat, so ist es wol nicht un¬
nütz, die gänzliche UnHaltbarkeit solcher Vorstellungen zu beweisen. Werke der
bildenden Kunst kommen bei Homer entweder nur als Arbeiten des Gottes
Hephästos oder bei den Phäaken vor. Wer dem von Hephästos geschmiede¬
ten Schilde Aedilis Realität beilegt, kann mit ebensoviel Recht die goldenen
Mädchen, die der Gott zu seinem Dienste belebt hatte und auf die er sich
beim Gehen stützte, für wirkliche Dinge halten und die Meisterschaft der home¬
rischen Zeit in Verfertigung von Automaten bewundern. Wer die goldenen
Knaben, die bei den nächtlichen Mahlen im Königshause der Phäaken Fackeln
halten, für etwas Wirkliches hält, muß auch an die Schiffe der Phäaken glau¬
ben, denen man blos den Bestimmungsort der Fahrt anzugeben brauchte, und
die dann unverzüglich den Weg ohne weitere Lenkung durch Steuer zurück¬
legten. Die Phäakeninsel ist ein Wunderland, das grade so viel Realität
hat, als irgendeine Feeninsel in Tausend und eine Nacht, und die Versuche
der Alten, sie in Corfu zu localisiren, sind grade ebenso berechtigt, wie die der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0338" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/101331"/>
          <p xml:id="ID_1027" prev="#ID_1026"> meinsam handelnde Massen. Wenn die Heere zur Schlacht auszogen, blieben<lb/>
die Völker unvollständig gerüstet und bewaffnet, meist in Wurfweite voneinan¬<lb/>
der, und von beiden Seiten flogen Pfeile, Steine und Geschosse; nur die vor-<lb/>
kämpfenden Helden, &#x201E;die Rufer im Streit", rückten auf den Zwischenraum,<lb/>
&#x201E;die Brücke des Kampfes" vor, drangen auf die feindlichen Massen ein oder<lb/>
fochten mit würdigen Gegnern in Einzelkämvfcn, nachdem sie oft in langen<lb/>
Wechselreden einander herausgefordert und verhöhnt hatten. Sie waren mit<lb/>
Helm, Panzer, Beinschienen und großen Schilden, die den ganzen Mann deckten,<lb/>
wohlversehen und diese Schutzwaffen theils aus Kupfer, theils aus Leder;<lb/>
ihre Hauptangriffswaffe war eine große Lanze zu Wurf und Stoß, daneben<lb/>
auch zwei leichtere Wurfspieße und ein kurzes Schwert, ausnahmsweise der<lb/>
Bogen. Sie fochten theils zu Fuß, theils zu Wagen, den dann ein Freund<lb/>
oder Diener lenkte, und der immer mit zwei oder'drei Pferden bespannt war.<lb/>
Reiterei war völlig unbekannt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1028"> Die Städte des homerischen Griechenlands waren schon zu einer nicht ge¬<lb/>
ringen Stufe der Entwicklung gediehen. Die Ortsanhänglichkeit war bereits<lb/>
tief gewurzelt, das Landeigenthum erblich, und Tempel und Paläste, Häfen<lb/>
und Schiffswerfte, Weinberge und Gärten verliehen den Städten einen statt¬<lb/>
lichen Anblick. Das Uebergewicht der Vertheidigungsmittel über die Angriffs¬<lb/>
mittel war ganz unverhältnißmäßig, und dies Uebergewicht ist eine der Haupt¬<lb/>
ursachen für das Wachsthum des bürgerlichen Lebens und den Fortschritt im<lb/>
Allgemeinen gewesen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1029" next="#ID_1030"> Die Kunst war noch in ihren rohesten Anfängen. Das sollte freilich keines<lb/>
Beweises bedürfen, wenn man die eben geschilderten Zustande in Erwägung<lb/>
zieht, aber da man vielfach die im Homer beschriebenen Wunderwerke für<lb/>
reelle Productionen der damaligen Zeit gehalten hat, so ist es wol nicht un¬<lb/>
nütz, die gänzliche UnHaltbarkeit solcher Vorstellungen zu beweisen. Werke der<lb/>
bildenden Kunst kommen bei Homer entweder nur als Arbeiten des Gottes<lb/>
Hephästos oder bei den Phäaken vor. Wer dem von Hephästos geschmiede¬<lb/>
ten Schilde Aedilis Realität beilegt, kann mit ebensoviel Recht die goldenen<lb/>
Mädchen, die der Gott zu seinem Dienste belebt hatte und auf die er sich<lb/>
beim Gehen stützte, für wirkliche Dinge halten und die Meisterschaft der home¬<lb/>
rischen Zeit in Verfertigung von Automaten bewundern. Wer die goldenen<lb/>
Knaben, die bei den nächtlichen Mahlen im Königshause der Phäaken Fackeln<lb/>
halten, für etwas Wirkliches hält, muß auch an die Schiffe der Phäaken glau¬<lb/>
ben, denen man blos den Bestimmungsort der Fahrt anzugeben brauchte, und<lb/>
die dann unverzüglich den Weg ohne weitere Lenkung durch Steuer zurück¬<lb/>
legten. Die Phäakeninsel ist ein Wunderland, das grade so viel Realität<lb/>
hat, als irgendeine Feeninsel in Tausend und eine Nacht, und die Versuche<lb/>
der Alten, sie in Corfu zu localisiren, sind grade ebenso berechtigt, wie die der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0338] meinsam handelnde Massen. Wenn die Heere zur Schlacht auszogen, blieben die Völker unvollständig gerüstet und bewaffnet, meist in Wurfweite voneinan¬ der, und von beiden Seiten flogen Pfeile, Steine und Geschosse; nur die vor- kämpfenden Helden, „die Rufer im Streit", rückten auf den Zwischenraum, „die Brücke des Kampfes" vor, drangen auf die feindlichen Massen ein oder fochten mit würdigen Gegnern in Einzelkämvfcn, nachdem sie oft in langen Wechselreden einander herausgefordert und verhöhnt hatten. Sie waren mit Helm, Panzer, Beinschienen und großen Schilden, die den ganzen Mann deckten, wohlversehen und diese Schutzwaffen theils aus Kupfer, theils aus Leder; ihre Hauptangriffswaffe war eine große Lanze zu Wurf und Stoß, daneben auch zwei leichtere Wurfspieße und ein kurzes Schwert, ausnahmsweise der Bogen. Sie fochten theils zu Fuß, theils zu Wagen, den dann ein Freund oder Diener lenkte, und der immer mit zwei oder'drei Pferden bespannt war. Reiterei war völlig unbekannt. Die Städte des homerischen Griechenlands waren schon zu einer nicht ge¬ ringen Stufe der Entwicklung gediehen. Die Ortsanhänglichkeit war bereits tief gewurzelt, das Landeigenthum erblich, und Tempel und Paläste, Häfen und Schiffswerfte, Weinberge und Gärten verliehen den Städten einen statt¬ lichen Anblick. Das Uebergewicht der Vertheidigungsmittel über die Angriffs¬ mittel war ganz unverhältnißmäßig, und dies Uebergewicht ist eine der Haupt¬ ursachen für das Wachsthum des bürgerlichen Lebens und den Fortschritt im Allgemeinen gewesen. Die Kunst war noch in ihren rohesten Anfängen. Das sollte freilich keines Beweises bedürfen, wenn man die eben geschilderten Zustande in Erwägung zieht, aber da man vielfach die im Homer beschriebenen Wunderwerke für reelle Productionen der damaligen Zeit gehalten hat, so ist es wol nicht un¬ nütz, die gänzliche UnHaltbarkeit solcher Vorstellungen zu beweisen. Werke der bildenden Kunst kommen bei Homer entweder nur als Arbeiten des Gottes Hephästos oder bei den Phäaken vor. Wer dem von Hephästos geschmiede¬ ten Schilde Aedilis Realität beilegt, kann mit ebensoviel Recht die goldenen Mädchen, die der Gott zu seinem Dienste belebt hatte und auf die er sich beim Gehen stützte, für wirkliche Dinge halten und die Meisterschaft der home¬ rischen Zeit in Verfertigung von Automaten bewundern. Wer die goldenen Knaben, die bei den nächtlichen Mahlen im Königshause der Phäaken Fackeln halten, für etwas Wirkliches hält, muß auch an die Schiffe der Phäaken glau¬ ben, denen man blos den Bestimmungsort der Fahrt anzugeben brauchte, und die dann unverzüglich den Weg ohne weitere Lenkung durch Steuer zurück¬ legten. Die Phäakeninsel ist ein Wunderland, das grade so viel Realität hat, als irgendeine Feeninsel in Tausend und eine Nacht, und die Versuche der Alten, sie in Corfu zu localisiren, sind grade ebenso berechtigt, wie die der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/338
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/338>, abgerufen am 23.07.2024.