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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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die Jahrelang das Hab und Gut des Odysseus aufzehrten, fanden wol Mi߬
billigung in Ithaka, aber so stark war die öffentliche Meinung durchaus nicht,
daß sie diesem schreienden Unrecht im mindesten Schranken gesetzt hätte. Waisen
waren im hohen Grade hilf- und schutzlos, ihre Jugend war traurig und ihr
Eigenthum der Willkür des Stärkern anheimgegeben. Die einzige Spur des
Völkerrechts in jener Zeit ist die Unverletzlichkeit der Herolde, die Bot¬
schaften auch zwischen Stämmen, die einander bekriegten, hin und her trugen.

So waren die sittlichen Zustände des homerischen Zeitalters. Lebensweise
und Beschäftigung war natürlich vielmehr eine ländliche als städtische ; Acker¬
bau und Viehzucht die Haupterwerbsmittcl, Handwerke wenig, Handel so gut
als gar nicht. Da selbst die Edlen nicht verschmähten, die zum Haushalt
nöthige Arbeit selbst zu verrichten, da sie überdies zahlreiche Sklaven be¬
saßen, die dazu geschickt waren, und" die Fürstinnen die Kleider für Männer
und Söhne selbst spannen, webten, Selekten und wuschen, so konnte ein eigent¬
licher Handwerkerstand nicht entstehen. Doch da nicht alles von dem Haus¬
herrn und den Hausgenossen selbst gearbeitet werden konnte, so mußte man
mitunter auch Handwerker ins Haus rusen, die man "Volksarbeiter" nannte.
Es waren besonders der Schmied, Lederarbeiter, Töpfer, Wagner, Maurer,
Zimmermann und Baumeister, die bei der allgemeinen Nachfrage nach ihrer
Arbeit von ihrer Kunst leben konnten; und zu diesen "Volköarbeitern" rechnete
die homerische Zeit auch den Arzt, Propheten und Sänger. Zwar auch in der
Arzneikunde, die sich wol auf Heilung von Wunden (auch durch Beschwörun¬
gen) beschränkte, waren die Edeln nicht unerfahren; aber doch waren die eigent¬
lichen Aerzte sehr geschätzt und gesucht, und galten namentlich im Kriege viel.
Auch die Sänger, die bei den Gastmählern der Könige regelmäßige Gäste
waren und die Anwesenden durch Gesang und Saitenspiel erfreuten, waren
hochgeehrt. Sie sangen Lieder von den Thaten der Götter und Menschen,
vermuthlich recitativisch, und begleiteten sich mit Griffen in die Saiten der
Cither. Auch bei andern festlichen Veranlassungen fehlte es nicht an Gesang
und Spiel. Die Gabe der Prophezeihung war nicht selten, sei eS, daß der
Prophet in plötzlicher ekstatischer Begeisterung verkündete, was ein Gott ihm
eingab, sei es, daß er verstand, die Zukunft aus Zeichen zu deuten, die dem
gewöhnlichen Sinn unverständlich blieben, als Himmelserscheinungen, Vögel¬
flug und Träume. Uebrigens waren die Orakel von Dodona und Delphi
schon berühmt, und aller Wahrscheinlichkeit nach kannte man auch Todten-
orakel.

Die homerischen Griechen waren, wie gesagt, bereits eine seßhafte, acker¬
bautreibende Bevölkerung, keine umherschweifenden Nomaden oder Jäger. Wol
jagten die Edeln im Bergwalde, aber mehr um Muth, Kraft und Schnelligkeit
zu erproben, als um der Beute willen, besonders Eber und Löwen. Die zahl-


die Jahrelang das Hab und Gut des Odysseus aufzehrten, fanden wol Mi߬
billigung in Ithaka, aber so stark war die öffentliche Meinung durchaus nicht,
daß sie diesem schreienden Unrecht im mindesten Schranken gesetzt hätte. Waisen
waren im hohen Grade hilf- und schutzlos, ihre Jugend war traurig und ihr
Eigenthum der Willkür des Stärkern anheimgegeben. Die einzige Spur des
Völkerrechts in jener Zeit ist die Unverletzlichkeit der Herolde, die Bot¬
schaften auch zwischen Stämmen, die einander bekriegten, hin und her trugen.

So waren die sittlichen Zustände des homerischen Zeitalters. Lebensweise
und Beschäftigung war natürlich vielmehr eine ländliche als städtische ; Acker¬
bau und Viehzucht die Haupterwerbsmittcl, Handwerke wenig, Handel so gut
als gar nicht. Da selbst die Edlen nicht verschmähten, die zum Haushalt
nöthige Arbeit selbst zu verrichten, da sie überdies zahlreiche Sklaven be¬
saßen, die dazu geschickt waren, und» die Fürstinnen die Kleider für Männer
und Söhne selbst spannen, webten, Selekten und wuschen, so konnte ein eigent¬
licher Handwerkerstand nicht entstehen. Doch da nicht alles von dem Haus¬
herrn und den Hausgenossen selbst gearbeitet werden konnte, so mußte man
mitunter auch Handwerker ins Haus rusen, die man „Volksarbeiter" nannte.
Es waren besonders der Schmied, Lederarbeiter, Töpfer, Wagner, Maurer,
Zimmermann und Baumeister, die bei der allgemeinen Nachfrage nach ihrer
Arbeit von ihrer Kunst leben konnten; und zu diesen „Volköarbeitern" rechnete
die homerische Zeit auch den Arzt, Propheten und Sänger. Zwar auch in der
Arzneikunde, die sich wol auf Heilung von Wunden (auch durch Beschwörun¬
gen) beschränkte, waren die Edeln nicht unerfahren; aber doch waren die eigent¬
lichen Aerzte sehr geschätzt und gesucht, und galten namentlich im Kriege viel.
Auch die Sänger, die bei den Gastmählern der Könige regelmäßige Gäste
waren und die Anwesenden durch Gesang und Saitenspiel erfreuten, waren
hochgeehrt. Sie sangen Lieder von den Thaten der Götter und Menschen,
vermuthlich recitativisch, und begleiteten sich mit Griffen in die Saiten der
Cither. Auch bei andern festlichen Veranlassungen fehlte es nicht an Gesang
und Spiel. Die Gabe der Prophezeihung war nicht selten, sei eS, daß der
Prophet in plötzlicher ekstatischer Begeisterung verkündete, was ein Gott ihm
eingab, sei es, daß er verstand, die Zukunft aus Zeichen zu deuten, die dem
gewöhnlichen Sinn unverständlich blieben, als Himmelserscheinungen, Vögel¬
flug und Träume. Uebrigens waren die Orakel von Dodona und Delphi
schon berühmt, und aller Wahrscheinlichkeit nach kannte man auch Todten-
orakel.

Die homerischen Griechen waren, wie gesagt, bereits eine seßhafte, acker¬
bautreibende Bevölkerung, keine umherschweifenden Nomaden oder Jäger. Wol
jagten die Edeln im Bergwalde, aber mehr um Muth, Kraft und Schnelligkeit
zu erproben, als um der Beute willen, besonders Eber und Löwen. Die zahl-


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[0335] die Jahrelang das Hab und Gut des Odysseus aufzehrten, fanden wol Mi߬ billigung in Ithaka, aber so stark war die öffentliche Meinung durchaus nicht, daß sie diesem schreienden Unrecht im mindesten Schranken gesetzt hätte. Waisen waren im hohen Grade hilf- und schutzlos, ihre Jugend war traurig und ihr Eigenthum der Willkür des Stärkern anheimgegeben. Die einzige Spur des Völkerrechts in jener Zeit ist die Unverletzlichkeit der Herolde, die Bot¬ schaften auch zwischen Stämmen, die einander bekriegten, hin und her trugen. So waren die sittlichen Zustände des homerischen Zeitalters. Lebensweise und Beschäftigung war natürlich vielmehr eine ländliche als städtische ; Acker¬ bau und Viehzucht die Haupterwerbsmittcl, Handwerke wenig, Handel so gut als gar nicht. Da selbst die Edlen nicht verschmähten, die zum Haushalt nöthige Arbeit selbst zu verrichten, da sie überdies zahlreiche Sklaven be¬ saßen, die dazu geschickt waren, und» die Fürstinnen die Kleider für Männer und Söhne selbst spannen, webten, Selekten und wuschen, so konnte ein eigent¬ licher Handwerkerstand nicht entstehen. Doch da nicht alles von dem Haus¬ herrn und den Hausgenossen selbst gearbeitet werden konnte, so mußte man mitunter auch Handwerker ins Haus rusen, die man „Volksarbeiter" nannte. Es waren besonders der Schmied, Lederarbeiter, Töpfer, Wagner, Maurer, Zimmermann und Baumeister, die bei der allgemeinen Nachfrage nach ihrer Arbeit von ihrer Kunst leben konnten; und zu diesen „Volköarbeitern" rechnete die homerische Zeit auch den Arzt, Propheten und Sänger. Zwar auch in der Arzneikunde, die sich wol auf Heilung von Wunden (auch durch Beschwörun¬ gen) beschränkte, waren die Edeln nicht unerfahren; aber doch waren die eigent¬ lichen Aerzte sehr geschätzt und gesucht, und galten namentlich im Kriege viel. Auch die Sänger, die bei den Gastmählern der Könige regelmäßige Gäste waren und die Anwesenden durch Gesang und Saitenspiel erfreuten, waren hochgeehrt. Sie sangen Lieder von den Thaten der Götter und Menschen, vermuthlich recitativisch, und begleiteten sich mit Griffen in die Saiten der Cither. Auch bei andern festlichen Veranlassungen fehlte es nicht an Gesang und Spiel. Die Gabe der Prophezeihung war nicht selten, sei eS, daß der Prophet in plötzlicher ekstatischer Begeisterung verkündete, was ein Gott ihm eingab, sei es, daß er verstand, die Zukunft aus Zeichen zu deuten, die dem gewöhnlichen Sinn unverständlich blieben, als Himmelserscheinungen, Vögel¬ flug und Träume. Uebrigens waren die Orakel von Dodona und Delphi schon berühmt, und aller Wahrscheinlichkeit nach kannte man auch Todten- orakel. Die homerischen Griechen waren, wie gesagt, bereits eine seßhafte, acker¬ bautreibende Bevölkerung, keine umherschweifenden Nomaden oder Jäger. Wol jagten die Edeln im Bergwalde, aber mehr um Muth, Kraft und Schnelligkeit zu erproben, als um der Beute willen, besonders Eber und Löwen. Die zahl-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/335>, abgerufen am 23.07.2024.