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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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war der Gastfreund, er mochte noch so gering sein, er mochte selbst eine Schuld
auf sich geladen haben: er mußte auch mit der feinsten Rücksicht behandelt
werden , die der Neugierde des Bewirthenden wenigstens beim ersten Empfang
Schweigen auferlegte. Wenn er Abschied nahm, erhielt er Gastgeschenke und
Geleit. Die Pflichten und Rechte der Gastfreundschaft erbten sich fort und
noch die Söhne und Enkel von Männern, die einer des andern Gastfreund¬
schaft genossen, waren durch dieses Band verbunden. Nur der Cyklop d. l).
der wilde Bewohner eines von der Civilisation völlig unberührten Landes ist
indifferent gegen die Gebote der Gastfreundschaft. Bei allen wesentlich rohen
Stämmen findet sich dieselbe Beobachtung der Gastfreundschaft und wechsel¬
seitigen Treue zwischen Verwandten und Waffengefährten, wie bei den homeri¬
schen Griechen; bei den Arabern der Wüste, den Drusen aus dem Libanon, den
Jndianerstämmen in Nordamerika und unsern Vorfahren im Zeitalter des'
Tacitus.

Außerhalb der Familie und des Gastrechts waren in der homerischen Zeit
wenig moralische Kräfte so allgemein wirksam, daß sie der VerÜbung von Ver¬
brechen und Unrecht nachdrückliche Hemmnisse entgegengesetzt hätten. Nicht
blos Todschlag, sondern auch Mord, und nicht blos Mord in der Leidenschaft
und mit Gewalt verübt, sondern auch Meuchelmord waren nicht selten, ohne
daß von einem sittlichen Abscheu vor solchen Thaten, geschweige denn von einem
Einschreiten der Staatsgewalt die Rede wäre. Nur den Verwandten des Er¬
schlagenen lag die Bestrafung des Mörders d. h. die Blutrache ob, aber der
Mörder konnte sich (ebenfalls wie bei den Indianern von Nordamerika und
den deutschen Stämmen des Mitrelalters) durch eine Geldbuße von der Ver¬
folgung loskaufen. Fand eine solche Einigung nicht statt, so mußte er land¬
flüchtig werden. Den Satz des mosaischen wie des späteren griechischen Rechts:
"Wer blutschuldig ist, schändet das Land, und das Land kann vom Blute nicht
versöhnt werden, das darin vergossen wird, ohne durch das Blut dessen, der es
vergossen hat" -- diesen Satz kannte das homerische Zeitalter nicht. Auch die
Begriffe über das Eigenthumsrecht können nicht sehr entwickelt gewesen sein,
wenn Autolytus (Odysseus mütterlicher Großvater), sich "auszeichnete vor allen
Menschen durch Diebstahl und Eid," d. h. Meineid: ein Vorzug, hen er von
dem Gotte Hermes zum Dank sür seine wohlgefälligen Opfer erhalten hatte.
Seeräuberei wurde zwar nicht gebilligt, aber ebensowenig verdammt und für un¬
ehrenhaft gehalten; im Ganzen erfuhr sie dieselbe nachsichtige Beurtheilung,
wie im Mittelalter der Straßenrand, und man konnte einem zur See an¬
kommenden Fremden die Frage, ob er in Geschäften oder als Pirat das Meer
befahre, vorlegen, ohne ihn zu beleidigen. Einfälle in das Gebiet von Stäm¬
men, mit denen kein freundschaftliches Verhältniß stattfand, um Vieh zu rauben,
waren häufig, und wurden auch als Repressalien unternommen. Die Freier,


war der Gastfreund, er mochte noch so gering sein, er mochte selbst eine Schuld
auf sich geladen haben: er mußte auch mit der feinsten Rücksicht behandelt
werden , die der Neugierde des Bewirthenden wenigstens beim ersten Empfang
Schweigen auferlegte. Wenn er Abschied nahm, erhielt er Gastgeschenke und
Geleit. Die Pflichten und Rechte der Gastfreundschaft erbten sich fort und
noch die Söhne und Enkel von Männern, die einer des andern Gastfreund¬
schaft genossen, waren durch dieses Band verbunden. Nur der Cyklop d. l).
der wilde Bewohner eines von der Civilisation völlig unberührten Landes ist
indifferent gegen die Gebote der Gastfreundschaft. Bei allen wesentlich rohen
Stämmen findet sich dieselbe Beobachtung der Gastfreundschaft und wechsel¬
seitigen Treue zwischen Verwandten und Waffengefährten, wie bei den homeri¬
schen Griechen; bei den Arabern der Wüste, den Drusen aus dem Libanon, den
Jndianerstämmen in Nordamerika und unsern Vorfahren im Zeitalter des'
Tacitus.

Außerhalb der Familie und des Gastrechts waren in der homerischen Zeit
wenig moralische Kräfte so allgemein wirksam, daß sie der VerÜbung von Ver¬
brechen und Unrecht nachdrückliche Hemmnisse entgegengesetzt hätten. Nicht
blos Todschlag, sondern auch Mord, und nicht blos Mord in der Leidenschaft
und mit Gewalt verübt, sondern auch Meuchelmord waren nicht selten, ohne
daß von einem sittlichen Abscheu vor solchen Thaten, geschweige denn von einem
Einschreiten der Staatsgewalt die Rede wäre. Nur den Verwandten des Er¬
schlagenen lag die Bestrafung des Mörders d. h. die Blutrache ob, aber der
Mörder konnte sich (ebenfalls wie bei den Indianern von Nordamerika und
den deutschen Stämmen des Mitrelalters) durch eine Geldbuße von der Ver¬
folgung loskaufen. Fand eine solche Einigung nicht statt, so mußte er land¬
flüchtig werden. Den Satz des mosaischen wie des späteren griechischen Rechts:
„Wer blutschuldig ist, schändet das Land, und das Land kann vom Blute nicht
versöhnt werden, das darin vergossen wird, ohne durch das Blut dessen, der es
vergossen hat" — diesen Satz kannte das homerische Zeitalter nicht. Auch die
Begriffe über das Eigenthumsrecht können nicht sehr entwickelt gewesen sein,
wenn Autolytus (Odysseus mütterlicher Großvater), sich „auszeichnete vor allen
Menschen durch Diebstahl und Eid," d. h. Meineid: ein Vorzug, hen er von
dem Gotte Hermes zum Dank sür seine wohlgefälligen Opfer erhalten hatte.
Seeräuberei wurde zwar nicht gebilligt, aber ebensowenig verdammt und für un¬
ehrenhaft gehalten; im Ganzen erfuhr sie dieselbe nachsichtige Beurtheilung,
wie im Mittelalter der Straßenrand, und man konnte einem zur See an¬
kommenden Fremden die Frage, ob er in Geschäften oder als Pirat das Meer
befahre, vorlegen, ohne ihn zu beleidigen. Einfälle in das Gebiet von Stäm¬
men, mit denen kein freundschaftliches Verhältniß stattfand, um Vieh zu rauben,
waren häufig, und wurden auch als Repressalien unternommen. Die Freier,


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[0334] war der Gastfreund, er mochte noch so gering sein, er mochte selbst eine Schuld auf sich geladen haben: er mußte auch mit der feinsten Rücksicht behandelt werden , die der Neugierde des Bewirthenden wenigstens beim ersten Empfang Schweigen auferlegte. Wenn er Abschied nahm, erhielt er Gastgeschenke und Geleit. Die Pflichten und Rechte der Gastfreundschaft erbten sich fort und noch die Söhne und Enkel von Männern, die einer des andern Gastfreund¬ schaft genossen, waren durch dieses Band verbunden. Nur der Cyklop d. l). der wilde Bewohner eines von der Civilisation völlig unberührten Landes ist indifferent gegen die Gebote der Gastfreundschaft. Bei allen wesentlich rohen Stämmen findet sich dieselbe Beobachtung der Gastfreundschaft und wechsel¬ seitigen Treue zwischen Verwandten und Waffengefährten, wie bei den homeri¬ schen Griechen; bei den Arabern der Wüste, den Drusen aus dem Libanon, den Jndianerstämmen in Nordamerika und unsern Vorfahren im Zeitalter des' Tacitus. Außerhalb der Familie und des Gastrechts waren in der homerischen Zeit wenig moralische Kräfte so allgemein wirksam, daß sie der VerÜbung von Ver¬ brechen und Unrecht nachdrückliche Hemmnisse entgegengesetzt hätten. Nicht blos Todschlag, sondern auch Mord, und nicht blos Mord in der Leidenschaft und mit Gewalt verübt, sondern auch Meuchelmord waren nicht selten, ohne daß von einem sittlichen Abscheu vor solchen Thaten, geschweige denn von einem Einschreiten der Staatsgewalt die Rede wäre. Nur den Verwandten des Er¬ schlagenen lag die Bestrafung des Mörders d. h. die Blutrache ob, aber der Mörder konnte sich (ebenfalls wie bei den Indianern von Nordamerika und den deutschen Stämmen des Mitrelalters) durch eine Geldbuße von der Ver¬ folgung loskaufen. Fand eine solche Einigung nicht statt, so mußte er land¬ flüchtig werden. Den Satz des mosaischen wie des späteren griechischen Rechts: „Wer blutschuldig ist, schändet das Land, und das Land kann vom Blute nicht versöhnt werden, das darin vergossen wird, ohne durch das Blut dessen, der es vergossen hat" — diesen Satz kannte das homerische Zeitalter nicht. Auch die Begriffe über das Eigenthumsrecht können nicht sehr entwickelt gewesen sein, wenn Autolytus (Odysseus mütterlicher Großvater), sich „auszeichnete vor allen Menschen durch Diebstahl und Eid," d. h. Meineid: ein Vorzug, hen er von dem Gotte Hermes zum Dank sür seine wohlgefälligen Opfer erhalten hatte. Seeräuberei wurde zwar nicht gebilligt, aber ebensowenig verdammt und für un¬ ehrenhaft gehalten; im Ganzen erfuhr sie dieselbe nachsichtige Beurtheilung, wie im Mittelalter der Straßenrand, und man konnte einem zur See an¬ kommenden Fremden die Frage, ob er in Geschäften oder als Pirat das Meer befahre, vorlegen, ohne ihn zu beleidigen. Einfälle in das Gebiet von Stäm¬ men, mit denen kein freundschaftliches Verhältniß stattfand, um Vieh zu rauben, waren häufig, und wurden auch als Repressalien unternommen. Die Freier,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/334>, abgerufen am 23.07.2024.