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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Einfluß deS Oberkönigs in diesem Senat war vorwiegend, er hatte einen wesent¬
lich konsultativen Charakter, ohne die königliche Macht aufzuheben. Wurde
dann die Versammlung des ganzen Volks berufen, so geschal) eS nicht, um,
ihren Willen zu vernehmen, sondern um ihr den gefaßten Beschluß bekannt
zu machen. Der König berief die Versammlung, Herolde geboten Schweigen
und sitzend hörte das Volk die Redner an. Nur die Häuptlinge redeten,
das Volk kam nur als Masse in Betracht, in der der Einzelne nichts galt,
"weder im Kriege zu rechnen, noch im Rathe." Der Redner stand auf und
ergriff einen Stab (Scepter)votirt ward nicht. Die Versammlung verhielt
sich im Ganzen sehr unterwürfig, gewöhnlich beistimmend, selten schwankend, nie
gradezu widerspenstig. Wer sich eine übelwollende Beurtheilung der von
den Häuptlingen gefaßten Beschlüsse erlaubte, erschien als ein frecher Wider-
beller, dessen Züchtigung als verdient allgemein Beifall fand. Die Unpopula-
rität eines solchen Charakters im homerischen Zeitalter ist schon in der äußern
Erscheinung des Thersites hinreichend dargethan; dieser Opponent ist ein Muster
von Häßlichkeit und ein nichtsnutziger Gesell. Als im Fortgange der Staats¬
entwicklung an die Stelle monarchischer Verfassungen fast überall in Griechen¬
land demokratische traten, schlug die Empfindung ins Gegentheil um. Die
Scene von der Züchtigung des Thersites, die ohne Zweifel den Jubel der
homerischen Zuhörer erregte, fand bei den Bürgern Athens lebhafte Mißbilli¬
gung. In der homerischen Zeit war die monarchische Regierung unumstößlich
fest auf den Glauben an ihr göttliches Recht und die persönliche Empfindung
der Völker basirt, die "Vielherrschaft" wurde allgemein als ein Uebel angesehn.
Deshalb lud der König durch die Bekanntmachung seiner Beschlüsse in der
Versammlung nie eine Verantwortlichkeit auf sich. Auch Recht wurde vor sol¬
chen Versammlungen gesprochen, die zwar auch hier keine Stimme hatten, aber
wenigstens durch Zuruf ihre Theilnahme an der Verhandlung der Parteien
zu erkennen gaben. .

In seiner Götterwelt schuf sich das homerische Zeitalter ein analoges Ab¬
bild dieser Verfassung. Auch hier war der Wille des Zeus entscheidend und
fand, unbedingt ausgesprochen, keinen Widerstand; aber er verschmähte doch
nicht den Rath der Götter, die nach ihm die gewaltigsten waren, ja er ord¬
nete wol auch seinen Beschluß dem andrer unter. Und wollte er seinen Willen
allen verkünden, dann wurde auch im Olymp eine allgemeine Versammlung
berufen, die in schweigender Ehrfurcht die Rede des Vaters der Götter und
Menschen vernahm.

Ueberall zeigt die griechische Legende nur große Individualitäten, in denen
die Nation aufgeht, der Völker gedenkt sie nicht oder doch nur beiläufig. Doch
empfand auch diese Zeit, daß sie in dem gemeinsamen Bande, das durch die
Medien von Senat und Volksversammlung alle Mitglieder des Staats zu


Einfluß deS Oberkönigs in diesem Senat war vorwiegend, er hatte einen wesent¬
lich konsultativen Charakter, ohne die königliche Macht aufzuheben. Wurde
dann die Versammlung des ganzen Volks berufen, so geschal) eS nicht, um,
ihren Willen zu vernehmen, sondern um ihr den gefaßten Beschluß bekannt
zu machen. Der König berief die Versammlung, Herolde geboten Schweigen
und sitzend hörte das Volk die Redner an. Nur die Häuptlinge redeten,
das Volk kam nur als Masse in Betracht, in der der Einzelne nichts galt,
„weder im Kriege zu rechnen, noch im Rathe." Der Redner stand auf und
ergriff einen Stab (Scepter)votirt ward nicht. Die Versammlung verhielt
sich im Ganzen sehr unterwürfig, gewöhnlich beistimmend, selten schwankend, nie
gradezu widerspenstig. Wer sich eine übelwollende Beurtheilung der von
den Häuptlingen gefaßten Beschlüsse erlaubte, erschien als ein frecher Wider-
beller, dessen Züchtigung als verdient allgemein Beifall fand. Die Unpopula-
rität eines solchen Charakters im homerischen Zeitalter ist schon in der äußern
Erscheinung des Thersites hinreichend dargethan; dieser Opponent ist ein Muster
von Häßlichkeit und ein nichtsnutziger Gesell. Als im Fortgange der Staats¬
entwicklung an die Stelle monarchischer Verfassungen fast überall in Griechen¬
land demokratische traten, schlug die Empfindung ins Gegentheil um. Die
Scene von der Züchtigung des Thersites, die ohne Zweifel den Jubel der
homerischen Zuhörer erregte, fand bei den Bürgern Athens lebhafte Mißbilli¬
gung. In der homerischen Zeit war die monarchische Regierung unumstößlich
fest auf den Glauben an ihr göttliches Recht und die persönliche Empfindung
der Völker basirt, die „Vielherrschaft" wurde allgemein als ein Uebel angesehn.
Deshalb lud der König durch die Bekanntmachung seiner Beschlüsse in der
Versammlung nie eine Verantwortlichkeit auf sich. Auch Recht wurde vor sol¬
chen Versammlungen gesprochen, die zwar auch hier keine Stimme hatten, aber
wenigstens durch Zuruf ihre Theilnahme an der Verhandlung der Parteien
zu erkennen gaben. .

In seiner Götterwelt schuf sich das homerische Zeitalter ein analoges Ab¬
bild dieser Verfassung. Auch hier war der Wille des Zeus entscheidend und
fand, unbedingt ausgesprochen, keinen Widerstand; aber er verschmähte doch
nicht den Rath der Götter, die nach ihm die gewaltigsten waren, ja er ord¬
nete wol auch seinen Beschluß dem andrer unter. Und wollte er seinen Willen
allen verkünden, dann wurde auch im Olymp eine allgemeine Versammlung
berufen, die in schweigender Ehrfurcht die Rede des Vaters der Götter und
Menschen vernahm.

Ueberall zeigt die griechische Legende nur große Individualitäten, in denen
die Nation aufgeht, der Völker gedenkt sie nicht oder doch nur beiläufig. Doch
empfand auch diese Zeit, daß sie in dem gemeinsamen Bande, das durch die
Medien von Senat und Volksversammlung alle Mitglieder des Staats zu


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[0332] Einfluß deS Oberkönigs in diesem Senat war vorwiegend, er hatte einen wesent¬ lich konsultativen Charakter, ohne die königliche Macht aufzuheben. Wurde dann die Versammlung des ganzen Volks berufen, so geschal) eS nicht, um, ihren Willen zu vernehmen, sondern um ihr den gefaßten Beschluß bekannt zu machen. Der König berief die Versammlung, Herolde geboten Schweigen und sitzend hörte das Volk die Redner an. Nur die Häuptlinge redeten, das Volk kam nur als Masse in Betracht, in der der Einzelne nichts galt, „weder im Kriege zu rechnen, noch im Rathe." Der Redner stand auf und ergriff einen Stab (Scepter)votirt ward nicht. Die Versammlung verhielt sich im Ganzen sehr unterwürfig, gewöhnlich beistimmend, selten schwankend, nie gradezu widerspenstig. Wer sich eine übelwollende Beurtheilung der von den Häuptlingen gefaßten Beschlüsse erlaubte, erschien als ein frecher Wider- beller, dessen Züchtigung als verdient allgemein Beifall fand. Die Unpopula- rität eines solchen Charakters im homerischen Zeitalter ist schon in der äußern Erscheinung des Thersites hinreichend dargethan; dieser Opponent ist ein Muster von Häßlichkeit und ein nichtsnutziger Gesell. Als im Fortgange der Staats¬ entwicklung an die Stelle monarchischer Verfassungen fast überall in Griechen¬ land demokratische traten, schlug die Empfindung ins Gegentheil um. Die Scene von der Züchtigung des Thersites, die ohne Zweifel den Jubel der homerischen Zuhörer erregte, fand bei den Bürgern Athens lebhafte Mißbilli¬ gung. In der homerischen Zeit war die monarchische Regierung unumstößlich fest auf den Glauben an ihr göttliches Recht und die persönliche Empfindung der Völker basirt, die „Vielherrschaft" wurde allgemein als ein Uebel angesehn. Deshalb lud der König durch die Bekanntmachung seiner Beschlüsse in der Versammlung nie eine Verantwortlichkeit auf sich. Auch Recht wurde vor sol¬ chen Versammlungen gesprochen, die zwar auch hier keine Stimme hatten, aber wenigstens durch Zuruf ihre Theilnahme an der Verhandlung der Parteien zu erkennen gaben. . In seiner Götterwelt schuf sich das homerische Zeitalter ein analoges Ab¬ bild dieser Verfassung. Auch hier war der Wille des Zeus entscheidend und fand, unbedingt ausgesprochen, keinen Widerstand; aber er verschmähte doch nicht den Rath der Götter, die nach ihm die gewaltigsten waren, ja er ord¬ nete wol auch seinen Beschluß dem andrer unter. Und wollte er seinen Willen allen verkünden, dann wurde auch im Olymp eine allgemeine Versammlung berufen, die in schweigender Ehrfurcht die Rede des Vaters der Götter und Menschen vernahm. Ueberall zeigt die griechische Legende nur große Individualitäten, in denen die Nation aufgeht, der Völker gedenkt sie nicht oder doch nur beiläufig. Doch empfand auch diese Zeit, daß sie in dem gemeinsamen Bande, das durch die Medien von Senat und Volksversammlung alle Mitglieder des Staats zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/332>, abgerufen am 23.07.2024.