Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

welche wir nicht ohne Mühe verstehen und in welche sich eine starke produktive
Kraft nur mit Hindernissen und in der Regel mit Widerstreben hineinarbeitet.
Für die kunstmäßige Darstellung solcher Ereignisse aber, welche in unserm
Leben wurzeln, oder doch von uns modernen Menschen in ihren innern Moti¬
ven und ihrem Zusammenhange am leichtesten verstanden werden können, hat
sich im Roman eine neue Form der Poesie entwickelt, welche den Vers ganz
entbehrt und welche sich, gemäß unsrer Betrachtung menschlicher Verhältnisse,
ähnlich zur Geschichte und Biographie verhält, wie das frühere Heldenepos
zur heiligen Sage. Seit diese Gattung epischer Erzählung erfunden, hat die
prosaische Darstellung das Recht, überall einzutreten, wo eine längere, reich-
gegliederle Erzählung mit detaillirter Ausführung verschiedener sich durchkreu¬
zender menschlicher Interessen und eine specielle Schilderung des menschlichen
Herzens, seiner Leidenschaften und Verirrungen wirksam werden soll, d. h.
fast überall, wo ein Stück unsers modernen Lebens aus dem großen Zusammen¬
hange von Ursachen und Wirkungen herausgehoben und für die Kunst ver¬
werthet wird. Dem verstficirten Epos bleiben deshalb fast nur kleinere Stoffe,
in denen eine einheitliche Stimmung so mächtig hervortritt, daß sie dem Dichter
erlaubt, auch die Motive zu vereinfachen, den Fluß der Charaktere in ein ge¬
radliniges Bett zu leiten und der Sprache gesteigerten Ausdruck, Schwung
und Klang des Verses zu geben. Von Hermann und Dorothea bis zu
Byrons Don Juan zeigen solche Stoffe Einfachheit und verhältnißmäßig ge¬
ringen Umfang der erzählten Begebenheit. Aber auffallend ist bei den meisten
dieser Stoffe, daß auch ihre Darstellung in Prosa, als Roman oder Novelle,
an sich nicht unmöglich gewesen wäre, so daß ihre Bildung in versificirter
Form nicht in der Art unbedingte Nothwendigkeit genannt werden kann, wie
der Ausdruck einer musikalischen Stimmung in einem lyrischen Gedicht oder
der Wahnsinn Lears in dramatischer Darstellung. Wie groß auch der Unter¬
schied in der Wirkung sei, welcher immer noch zwischen Goethes Hermann
und Dorothea und einer in Prosa geschriebenen guten Novelle gleiches In¬
halts stattfinden würde, es ist kein Gattungsunterschied wie zwischen der Wir¬
kung eines lyrischen Gedichtes und eines Dramas, und es wird in dem ersten
Stadium des poetischen Schaffens für die meisten Dichter sehr wohl möglich
sein, den epischen Stoff, für welchen sie sich erwärmt haben, auch in prosaischer
Darstellung kunstmäßig herauszubilden. Deshalb fehlt der versificirten Behand¬
lung epischer Stoffe bei uns in vielen Fällen die Nothwendigkeit.

Ja, der Drang, einen epischen Stoss in Versen mit der traditionellen
Methode der Ausführung zu behandeln, ist in vielen Fällen ein unberechtigter.
Nicht selten ist es Trägheit der Phantasie, oder gar absoluter Mangel an
Talent, was zum Verse treibt. Unter den epischen Gedichten der letzten Jahre
sind nicht wenige -- es sei hier nur Hans Haidcguckuck von Noquette er-


welche wir nicht ohne Mühe verstehen und in welche sich eine starke produktive
Kraft nur mit Hindernissen und in der Regel mit Widerstreben hineinarbeitet.
Für die kunstmäßige Darstellung solcher Ereignisse aber, welche in unserm
Leben wurzeln, oder doch von uns modernen Menschen in ihren innern Moti¬
ven und ihrem Zusammenhange am leichtesten verstanden werden können, hat
sich im Roman eine neue Form der Poesie entwickelt, welche den Vers ganz
entbehrt und welche sich, gemäß unsrer Betrachtung menschlicher Verhältnisse,
ähnlich zur Geschichte und Biographie verhält, wie das frühere Heldenepos
zur heiligen Sage. Seit diese Gattung epischer Erzählung erfunden, hat die
prosaische Darstellung das Recht, überall einzutreten, wo eine längere, reich-
gegliederle Erzählung mit detaillirter Ausführung verschiedener sich durchkreu¬
zender menschlicher Interessen und eine specielle Schilderung des menschlichen
Herzens, seiner Leidenschaften und Verirrungen wirksam werden soll, d. h.
fast überall, wo ein Stück unsers modernen Lebens aus dem großen Zusammen¬
hange von Ursachen und Wirkungen herausgehoben und für die Kunst ver¬
werthet wird. Dem verstficirten Epos bleiben deshalb fast nur kleinere Stoffe,
in denen eine einheitliche Stimmung so mächtig hervortritt, daß sie dem Dichter
erlaubt, auch die Motive zu vereinfachen, den Fluß der Charaktere in ein ge¬
radliniges Bett zu leiten und der Sprache gesteigerten Ausdruck, Schwung
und Klang des Verses zu geben. Von Hermann und Dorothea bis zu
Byrons Don Juan zeigen solche Stoffe Einfachheit und verhältnißmäßig ge¬
ringen Umfang der erzählten Begebenheit. Aber auffallend ist bei den meisten
dieser Stoffe, daß auch ihre Darstellung in Prosa, als Roman oder Novelle,
an sich nicht unmöglich gewesen wäre, so daß ihre Bildung in versificirter
Form nicht in der Art unbedingte Nothwendigkeit genannt werden kann, wie
der Ausdruck einer musikalischen Stimmung in einem lyrischen Gedicht oder
der Wahnsinn Lears in dramatischer Darstellung. Wie groß auch der Unter¬
schied in der Wirkung sei, welcher immer noch zwischen Goethes Hermann
und Dorothea und einer in Prosa geschriebenen guten Novelle gleiches In¬
halts stattfinden würde, es ist kein Gattungsunterschied wie zwischen der Wir¬
kung eines lyrischen Gedichtes und eines Dramas, und es wird in dem ersten
Stadium des poetischen Schaffens für die meisten Dichter sehr wohl möglich
sein, den epischen Stoff, für welchen sie sich erwärmt haben, auch in prosaischer
Darstellung kunstmäßig herauszubilden. Deshalb fehlt der versificirten Behand¬
lung epischer Stoffe bei uns in vielen Fällen die Nothwendigkeit.

Ja, der Drang, einen epischen Stoss in Versen mit der traditionellen
Methode der Ausführung zu behandeln, ist in vielen Fällen ein unberechtigter.
Nicht selten ist es Trägheit der Phantasie, oder gar absoluter Mangel an
Talent, was zum Verse treibt. Unter den epischen Gedichten der letzten Jahre
sind nicht wenige — es sei hier nur Hans Haidcguckuck von Noquette er-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0292" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/101285"/>
            <p xml:id="ID_874" prev="#ID_873"> welche wir nicht ohne Mühe verstehen und in welche sich eine starke produktive<lb/>
Kraft nur mit Hindernissen und in der Regel mit Widerstreben hineinarbeitet.<lb/>
Für die kunstmäßige Darstellung solcher Ereignisse aber, welche in unserm<lb/>
Leben wurzeln, oder doch von uns modernen Menschen in ihren innern Moti¬<lb/>
ven und ihrem Zusammenhange am leichtesten verstanden werden können, hat<lb/>
sich im Roman eine neue Form der Poesie entwickelt, welche den Vers ganz<lb/>
entbehrt und welche sich, gemäß unsrer Betrachtung menschlicher Verhältnisse,<lb/>
ähnlich zur Geschichte und Biographie verhält, wie das frühere Heldenepos<lb/>
zur heiligen Sage. Seit diese Gattung epischer Erzählung erfunden, hat die<lb/>
prosaische Darstellung das Recht, überall einzutreten, wo eine längere, reich-<lb/>
gegliederle Erzählung mit detaillirter Ausführung verschiedener sich durchkreu¬<lb/>
zender menschlicher Interessen und eine specielle Schilderung des menschlichen<lb/>
Herzens, seiner Leidenschaften und Verirrungen wirksam werden soll, d. h.<lb/>
fast überall, wo ein Stück unsers modernen Lebens aus dem großen Zusammen¬<lb/>
hange von Ursachen und Wirkungen herausgehoben und für die Kunst ver¬<lb/>
werthet wird. Dem verstficirten Epos bleiben deshalb fast nur kleinere Stoffe,<lb/>
in denen eine einheitliche Stimmung so mächtig hervortritt, daß sie dem Dichter<lb/>
erlaubt, auch die Motive zu vereinfachen, den Fluß der Charaktere in ein ge¬<lb/>
radliniges Bett zu leiten und der Sprache gesteigerten Ausdruck, Schwung<lb/>
und Klang des Verses zu geben. Von Hermann und Dorothea bis zu<lb/>
Byrons Don Juan zeigen solche Stoffe Einfachheit und verhältnißmäßig ge¬<lb/>
ringen Umfang der erzählten Begebenheit. Aber auffallend ist bei den meisten<lb/>
dieser Stoffe, daß auch ihre Darstellung in Prosa, als Roman oder Novelle,<lb/>
an sich nicht unmöglich gewesen wäre, so daß ihre Bildung in versificirter<lb/>
Form nicht in der Art unbedingte Nothwendigkeit genannt werden kann, wie<lb/>
der Ausdruck einer musikalischen Stimmung in einem lyrischen Gedicht oder<lb/>
der Wahnsinn Lears in dramatischer Darstellung. Wie groß auch der Unter¬<lb/>
schied in der Wirkung sei, welcher immer noch zwischen Goethes Hermann<lb/>
und Dorothea und einer in Prosa geschriebenen guten Novelle gleiches In¬<lb/>
halts stattfinden würde, es ist kein Gattungsunterschied wie zwischen der Wir¬<lb/>
kung eines lyrischen Gedichtes und eines Dramas, und es wird in dem ersten<lb/>
Stadium des poetischen Schaffens für die meisten Dichter sehr wohl möglich<lb/>
sein, den epischen Stoff, für welchen sie sich erwärmt haben, auch in prosaischer<lb/>
Darstellung kunstmäßig herauszubilden. Deshalb fehlt der versificirten Behand¬<lb/>
lung epischer Stoffe bei uns in vielen Fällen die Nothwendigkeit.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_875" next="#ID_876"> Ja, der Drang, einen epischen Stoss in Versen mit der traditionellen<lb/>
Methode der Ausführung zu behandeln, ist in vielen Fällen ein unberechtigter.<lb/>
Nicht selten ist es Trägheit der Phantasie, oder gar absoluter Mangel an<lb/>
Talent, was zum Verse treibt. Unter den epischen Gedichten der letzten Jahre<lb/>
sind nicht wenige &#x2014; es sei hier nur Hans Haidcguckuck von Noquette er-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0292] welche wir nicht ohne Mühe verstehen und in welche sich eine starke produktive Kraft nur mit Hindernissen und in der Regel mit Widerstreben hineinarbeitet. Für die kunstmäßige Darstellung solcher Ereignisse aber, welche in unserm Leben wurzeln, oder doch von uns modernen Menschen in ihren innern Moti¬ ven und ihrem Zusammenhange am leichtesten verstanden werden können, hat sich im Roman eine neue Form der Poesie entwickelt, welche den Vers ganz entbehrt und welche sich, gemäß unsrer Betrachtung menschlicher Verhältnisse, ähnlich zur Geschichte und Biographie verhält, wie das frühere Heldenepos zur heiligen Sage. Seit diese Gattung epischer Erzählung erfunden, hat die prosaische Darstellung das Recht, überall einzutreten, wo eine längere, reich- gegliederle Erzählung mit detaillirter Ausführung verschiedener sich durchkreu¬ zender menschlicher Interessen und eine specielle Schilderung des menschlichen Herzens, seiner Leidenschaften und Verirrungen wirksam werden soll, d. h. fast überall, wo ein Stück unsers modernen Lebens aus dem großen Zusammen¬ hange von Ursachen und Wirkungen herausgehoben und für die Kunst ver¬ werthet wird. Dem verstficirten Epos bleiben deshalb fast nur kleinere Stoffe, in denen eine einheitliche Stimmung so mächtig hervortritt, daß sie dem Dichter erlaubt, auch die Motive zu vereinfachen, den Fluß der Charaktere in ein ge¬ radliniges Bett zu leiten und der Sprache gesteigerten Ausdruck, Schwung und Klang des Verses zu geben. Von Hermann und Dorothea bis zu Byrons Don Juan zeigen solche Stoffe Einfachheit und verhältnißmäßig ge¬ ringen Umfang der erzählten Begebenheit. Aber auffallend ist bei den meisten dieser Stoffe, daß auch ihre Darstellung in Prosa, als Roman oder Novelle, an sich nicht unmöglich gewesen wäre, so daß ihre Bildung in versificirter Form nicht in der Art unbedingte Nothwendigkeit genannt werden kann, wie der Ausdruck einer musikalischen Stimmung in einem lyrischen Gedicht oder der Wahnsinn Lears in dramatischer Darstellung. Wie groß auch der Unter¬ schied in der Wirkung sei, welcher immer noch zwischen Goethes Hermann und Dorothea und einer in Prosa geschriebenen guten Novelle gleiches In¬ halts stattfinden würde, es ist kein Gattungsunterschied wie zwischen der Wir¬ kung eines lyrischen Gedichtes und eines Dramas, und es wird in dem ersten Stadium des poetischen Schaffens für die meisten Dichter sehr wohl möglich sein, den epischen Stoff, für welchen sie sich erwärmt haben, auch in prosaischer Darstellung kunstmäßig herauszubilden. Deshalb fehlt der versificirten Behand¬ lung epischer Stoffe bei uns in vielen Fällen die Nothwendigkeit. Ja, der Drang, einen epischen Stoss in Versen mit der traditionellen Methode der Ausführung zu behandeln, ist in vielen Fällen ein unberechtigter. Nicht selten ist es Trägheit der Phantasie, oder gar absoluter Mangel an Talent, was zum Verse treibt. Unter den epischen Gedichten der letzten Jahre sind nicht wenige — es sei hier nur Hans Haidcguckuck von Noquette er-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/292
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/292>, abgerufen am 23.07.2024.