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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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bemerkt, daß um die Mitte desselben die Abgaben und Dienste über alles Maß
hinaus gesteigert wuvden: die Frohuden wuchsen bis zu der Höhe von vier
Tagen in der Woche, die Brutalität des persönlichen Verhältnisses übersprang
alle Schranken. Die Edelleute, schrieb ein Reisender im Jahre 1781, mi߬
handeln jedes Mädchen, welches ihnen gefällt und jagen einen jeden, der sich
dem widersetzen mochte, mit hundert Stockschlägen hinweg. Georg Forster, der
sie Jahrelang in der Nähe beobachtet hatte, sprach 1791 das furchtbare Wort
über sie aus: die polnischen Edelleute haben allein in Europa die Unwissen¬
heit und Barbarei so weit getrieben, in ihren Leibeignen beinahe die letzte
Spur der Denkkraft zu vertilgen. In der That, sie waren in eine in dem
übrigen Welttheile unerhörte Armuth und thierische Stumpfheit versunken. In
Großpolen fanden die Reisenden sie nur etwas elender, als in den schlechte¬
sten Gegenden Deutschlands,, aber doch immer viel leidlicher gestellt, als im
Innern des Landes. Hier aber wohnten sie in hölzernen, mit Lehm bewor-'
selten Hütten; das Innere derselben bildete stets einen einzigen Raum, in
welchem Männer und Weiber, Menschen und Vieh zusammen hausten; es gab
kein Hausgeräth als den großen Ofen, der zugleich die Schlafstätte der ganzen
Familie bildete und dessen Rauch durch die Thüre und die Fugen des Ge¬
bäudes den.Ausgang suchte. Dem Zustande der Wohnung entsprach die Klei¬
dung und.Nahrung: von geistiger Ausbildung war keine Rede und die allen
Slawen eigne mechanische Anstellung wurde in dem armseligen Einerlei ihres
Daseins, nicht entwickelt. Keiner suchte etwas vor sich zu bringen, weil keiner
etwas für sich oder seine Kinder erwarb; der Kantschu des Herrn trieb sie
zur Arbeit und hinter dem Rücken desselben fielen sie in schlaffe Unthätigkeit
zurück. Die einzige Freude war es für Männer und Weiber, in der Schenke,
welche jeder Gutsherr unterhielt, allsonntäglich beim Schall der Geige im
Branntweinrausche das Elend ihres Lebens zu vergessen. So waren sie so
weit herabgekommen, daß sie jedes Gefühl für einen bessern Zustand und jedes
Streben nach menschlicher Existenz verloren hatten. Es war beinahe unerhört
seit hundert Jahren, daß es zu einer Widersetzlichkeit unter den Bauern ge¬
kommen wäre: in keiner der vielen Zwistigkeiten, durch welche der Adel den
polnischen Staat zerrüttet, hatte sich unter dem Volke eine politische Regung
gezeigt. Dieselbe Stumpfheit herrschte aber auch jetzt, als es sich um das
Dasein des Reiches handelte. Woher hätten sie Gemeingefühl und Vaterlands¬
liebe nehmen sollen? Sie wußten nichts vom Staate und fragten nicht, wer
sie beherrschte, weil alle Herrschaft ihnen nichts als Fcohnde, Mißhandlung
und Brannlweinschank brachte. Um so gleichgiltiger mußte eS ihnen sein, ob
ihre Herren einer polnischen Republik, einer russischen Zarin oder einem deut¬
schen König gehorchten: sie hätten das Letzte vielleicht gewünscht, wenn in
ihre Hütten eine Kunde gedrungen wäre, daß ihre Stammesgenossen in West-


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bemerkt, daß um die Mitte desselben die Abgaben und Dienste über alles Maß
hinaus gesteigert wuvden: die Frohuden wuchsen bis zu der Höhe von vier
Tagen in der Woche, die Brutalität des persönlichen Verhältnisses übersprang
alle Schranken. Die Edelleute, schrieb ein Reisender im Jahre 1781, mi߬
handeln jedes Mädchen, welches ihnen gefällt und jagen einen jeden, der sich
dem widersetzen mochte, mit hundert Stockschlägen hinweg. Georg Forster, der
sie Jahrelang in der Nähe beobachtet hatte, sprach 1791 das furchtbare Wort
über sie aus: die polnischen Edelleute haben allein in Europa die Unwissen¬
heit und Barbarei so weit getrieben, in ihren Leibeignen beinahe die letzte
Spur der Denkkraft zu vertilgen. In der That, sie waren in eine in dem
übrigen Welttheile unerhörte Armuth und thierische Stumpfheit versunken. In
Großpolen fanden die Reisenden sie nur etwas elender, als in den schlechte¬
sten Gegenden Deutschlands,, aber doch immer viel leidlicher gestellt, als im
Innern des Landes. Hier aber wohnten sie in hölzernen, mit Lehm bewor-'
selten Hütten; das Innere derselben bildete stets einen einzigen Raum, in
welchem Männer und Weiber, Menschen und Vieh zusammen hausten; es gab
kein Hausgeräth als den großen Ofen, der zugleich die Schlafstätte der ganzen
Familie bildete und dessen Rauch durch die Thüre und die Fugen des Ge¬
bäudes den.Ausgang suchte. Dem Zustande der Wohnung entsprach die Klei¬
dung und.Nahrung: von geistiger Ausbildung war keine Rede und die allen
Slawen eigne mechanische Anstellung wurde in dem armseligen Einerlei ihres
Daseins, nicht entwickelt. Keiner suchte etwas vor sich zu bringen, weil keiner
etwas für sich oder seine Kinder erwarb; der Kantschu des Herrn trieb sie
zur Arbeit und hinter dem Rücken desselben fielen sie in schlaffe Unthätigkeit
zurück. Die einzige Freude war es für Männer und Weiber, in der Schenke,
welche jeder Gutsherr unterhielt, allsonntäglich beim Schall der Geige im
Branntweinrausche das Elend ihres Lebens zu vergessen. So waren sie so
weit herabgekommen, daß sie jedes Gefühl für einen bessern Zustand und jedes
Streben nach menschlicher Existenz verloren hatten. Es war beinahe unerhört
seit hundert Jahren, daß es zu einer Widersetzlichkeit unter den Bauern ge¬
kommen wäre: in keiner der vielen Zwistigkeiten, durch welche der Adel den
polnischen Staat zerrüttet, hatte sich unter dem Volke eine politische Regung
gezeigt. Dieselbe Stumpfheit herrschte aber auch jetzt, als es sich um das
Dasein des Reiches handelte. Woher hätten sie Gemeingefühl und Vaterlands¬
liebe nehmen sollen? Sie wußten nichts vom Staate und fragten nicht, wer
sie beherrschte, weil alle Herrschaft ihnen nichts als Fcohnde, Mißhandlung
und Brannlweinschank brachte. Um so gleichgiltiger mußte eS ihnen sein, ob
ihre Herren einer polnischen Republik, einer russischen Zarin oder einem deut¬
schen König gehorchten: sie hätten das Letzte vielleicht gewünscht, wenn in
ihre Hütten eine Kunde gedrungen wäre, daß ihre Stammesgenossen in West-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/257>, abgerufen am 23.07.2024.