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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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rungcn des Volkes, die höchsten Fortschritte des deutschen Seelenlebens liegen
auf ihrem Gebiete. Sie hat dem Charakter der deutschen Nation ihr Gepräge
mächtig ausgedrückt. Als Lehrerin und Bildnerin hat sie gethan, was sie ver¬
mochte, hat dem erwachenden Bewußtsein der Deutschen schöne Stimmungen,
neuen Schwung, Behendigkeit, sich für Hohes zu erwärmen, Opferfreudigkeit
und Genuß des irdischen Daseins wiedergegeben. Aber sie konnte ihm nicht
alles geben, was dem Deutschen'fehlt, nicht die männliche Kraft, welche nur
in den starken Strömungen der Wirklichkeit gewonnen wird, nicht die praktische
Richtung auf die höchsten menschlichen Bildungen, auf das politische Leben deS
eignen Volkes, nicht Ausdauer, nicht sofort ein energisches Wollen. Jetzt aber,
nach einigen Jahrzehnten, in denen die Ideale der Dichter verblühten, die
Theorien der Philosophen in sophistischen Schulgezänk abgenutzt wurden, nach
einem andern Jahrzehnt unruhiger Begehrlichkeit und nach einigen heftigen
Ausbrüchen politischer Leidenschaft, jetzt, seit dem Jahre-I8S0, lassen sich mitten
aus der Abspannung uno Ermüdung, welche noch immer auf dem Volke liegt,
die Anfange einer ganz neuen Richtung, zunächst in einer Reihe von Schöpfun¬
gen Einzelner erkennen. Wieder ist es der theoretische Geist, welcher, wie stets
bei den Denischen, das Führeramt übernimmt, aber dies Mal nicht die Poesie,
sondern die ernste, unbestechliche, ehrliche Wissenschaft. Während die Natur"
Wissenschaften mit leidenschaftlichem Eifer bemüht sind, falsche Traditionen zu
zerstören und die Sinne der Nation zu schärfen, erhebt die königliche Historie
ihr beredtes Haupt und spricht zu dem Volke in einer Sprache, die den Deut¬
schen ganz neu ist, mit einer Gesinnung, so groß, so männlich und so liebe¬
voll, baß wir ihren Worten mit Ehrfurcht und froher Ahnung lauschen. Es
ist eine wunderbare Sache, daß seil dem Jahre 1848 plötzlich eine Fülle von
Kraft und politischer Weisheit in unsrer Geschichtschreibung zu Tage kommt.
Männer aus verschiedenen Landschaften, aus verschiedenen Schulen'und aus
sehr verschiedenen Disciplinen sind aus einmal begeisterte Apostel derselben
Kirche geworden, Richter der Vergangenheit, Lehrer der Gegenwart und
Propheten der Zukunft. Gelehrte Männer, welche sonst ihre Lebensaufgabe
darin fanden, die poetischen Schöpfungen der Vergangenheit zu verstehen, wie
Gervinus, oder römische Inschriften, griechische Münzen und die Grundsätze
des antiken Rechts zu erklären, wie Theodor Mommsen, oder die Tragiker der
Hellenen zu übersetzen und den Staat Alerander des Großen zu durchpilgern,
wie Droysen, stehen jetzt als- Bundesgenossen auf demselben Schlachtfelde mit
Schülern von Ranke, mit den Rednern der Kaiserpartei' in der Paulskirche,
mit von Sybel, Hauffer, Duncker, Waitz u. a. Mehre von ihnen sind in
unsern letzten Nevolutionsjahren durch politische und parlamentarische Thätig¬
keit auf denselben Bänken der Paulskirche geschult worden, alle haben in den
auflodernden Leidenschaften und gegenüber den Straßenkämpfen der unheimlichen


rungcn des Volkes, die höchsten Fortschritte des deutschen Seelenlebens liegen
auf ihrem Gebiete. Sie hat dem Charakter der deutschen Nation ihr Gepräge
mächtig ausgedrückt. Als Lehrerin und Bildnerin hat sie gethan, was sie ver¬
mochte, hat dem erwachenden Bewußtsein der Deutschen schöne Stimmungen,
neuen Schwung, Behendigkeit, sich für Hohes zu erwärmen, Opferfreudigkeit
und Genuß des irdischen Daseins wiedergegeben. Aber sie konnte ihm nicht
alles geben, was dem Deutschen'fehlt, nicht die männliche Kraft, welche nur
in den starken Strömungen der Wirklichkeit gewonnen wird, nicht die praktische
Richtung auf die höchsten menschlichen Bildungen, auf das politische Leben deS
eignen Volkes, nicht Ausdauer, nicht sofort ein energisches Wollen. Jetzt aber,
nach einigen Jahrzehnten, in denen die Ideale der Dichter verblühten, die
Theorien der Philosophen in sophistischen Schulgezänk abgenutzt wurden, nach
einem andern Jahrzehnt unruhiger Begehrlichkeit und nach einigen heftigen
Ausbrüchen politischer Leidenschaft, jetzt, seit dem Jahre-I8S0, lassen sich mitten
aus der Abspannung uno Ermüdung, welche noch immer auf dem Volke liegt,
die Anfange einer ganz neuen Richtung, zunächst in einer Reihe von Schöpfun¬
gen Einzelner erkennen. Wieder ist es der theoretische Geist, welcher, wie stets
bei den Denischen, das Führeramt übernimmt, aber dies Mal nicht die Poesie,
sondern die ernste, unbestechliche, ehrliche Wissenschaft. Während die Natur»
Wissenschaften mit leidenschaftlichem Eifer bemüht sind, falsche Traditionen zu
zerstören und die Sinne der Nation zu schärfen, erhebt die königliche Historie
ihr beredtes Haupt und spricht zu dem Volke in einer Sprache, die den Deut¬
schen ganz neu ist, mit einer Gesinnung, so groß, so männlich und so liebe¬
voll, baß wir ihren Worten mit Ehrfurcht und froher Ahnung lauschen. Es
ist eine wunderbare Sache, daß seil dem Jahre 1848 plötzlich eine Fülle von
Kraft und politischer Weisheit in unsrer Geschichtschreibung zu Tage kommt.
Männer aus verschiedenen Landschaften, aus verschiedenen Schulen'und aus
sehr verschiedenen Disciplinen sind aus einmal begeisterte Apostel derselben
Kirche geworden, Richter der Vergangenheit, Lehrer der Gegenwart und
Propheten der Zukunft. Gelehrte Männer, welche sonst ihre Lebensaufgabe
darin fanden, die poetischen Schöpfungen der Vergangenheit zu verstehen, wie
Gervinus, oder römische Inschriften, griechische Münzen und die Grundsätze
des antiken Rechts zu erklären, wie Theodor Mommsen, oder die Tragiker der
Hellenen zu übersetzen und den Staat Alerander des Großen zu durchpilgern,
wie Droysen, stehen jetzt als- Bundesgenossen auf demselben Schlachtfelde mit
Schülern von Ranke, mit den Rednern der Kaiserpartei' in der Paulskirche,
mit von Sybel, Hauffer, Duncker, Waitz u. a. Mehre von ihnen sind in
unsern letzten Nevolutionsjahren durch politische und parlamentarische Thätig¬
keit auf denselben Bänken der Paulskirche geschult worden, alle haben in den
auflodernden Leidenschaften und gegenüber den Straßenkämpfen der unheimlichen


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[0250] rungcn des Volkes, die höchsten Fortschritte des deutschen Seelenlebens liegen auf ihrem Gebiete. Sie hat dem Charakter der deutschen Nation ihr Gepräge mächtig ausgedrückt. Als Lehrerin und Bildnerin hat sie gethan, was sie ver¬ mochte, hat dem erwachenden Bewußtsein der Deutschen schöne Stimmungen, neuen Schwung, Behendigkeit, sich für Hohes zu erwärmen, Opferfreudigkeit und Genuß des irdischen Daseins wiedergegeben. Aber sie konnte ihm nicht alles geben, was dem Deutschen'fehlt, nicht die männliche Kraft, welche nur in den starken Strömungen der Wirklichkeit gewonnen wird, nicht die praktische Richtung auf die höchsten menschlichen Bildungen, auf das politische Leben deS eignen Volkes, nicht Ausdauer, nicht sofort ein energisches Wollen. Jetzt aber, nach einigen Jahrzehnten, in denen die Ideale der Dichter verblühten, die Theorien der Philosophen in sophistischen Schulgezänk abgenutzt wurden, nach einem andern Jahrzehnt unruhiger Begehrlichkeit und nach einigen heftigen Ausbrüchen politischer Leidenschaft, jetzt, seit dem Jahre-I8S0, lassen sich mitten aus der Abspannung uno Ermüdung, welche noch immer auf dem Volke liegt, die Anfange einer ganz neuen Richtung, zunächst in einer Reihe von Schöpfun¬ gen Einzelner erkennen. Wieder ist es der theoretische Geist, welcher, wie stets bei den Denischen, das Führeramt übernimmt, aber dies Mal nicht die Poesie, sondern die ernste, unbestechliche, ehrliche Wissenschaft. Während die Natur» Wissenschaften mit leidenschaftlichem Eifer bemüht sind, falsche Traditionen zu zerstören und die Sinne der Nation zu schärfen, erhebt die königliche Historie ihr beredtes Haupt und spricht zu dem Volke in einer Sprache, die den Deut¬ schen ganz neu ist, mit einer Gesinnung, so groß, so männlich und so liebe¬ voll, baß wir ihren Worten mit Ehrfurcht und froher Ahnung lauschen. Es ist eine wunderbare Sache, daß seil dem Jahre 1848 plötzlich eine Fülle von Kraft und politischer Weisheit in unsrer Geschichtschreibung zu Tage kommt. Männer aus verschiedenen Landschaften, aus verschiedenen Schulen'und aus sehr verschiedenen Disciplinen sind aus einmal begeisterte Apostel derselben Kirche geworden, Richter der Vergangenheit, Lehrer der Gegenwart und Propheten der Zukunft. Gelehrte Männer, welche sonst ihre Lebensaufgabe darin fanden, die poetischen Schöpfungen der Vergangenheit zu verstehen, wie Gervinus, oder römische Inschriften, griechische Münzen und die Grundsätze des antiken Rechts zu erklären, wie Theodor Mommsen, oder die Tragiker der Hellenen zu übersetzen und den Staat Alerander des Großen zu durchpilgern, wie Droysen, stehen jetzt als- Bundesgenossen auf demselben Schlachtfelde mit Schülern von Ranke, mit den Rednern der Kaiserpartei' in der Paulskirche, mit von Sybel, Hauffer, Duncker, Waitz u. a. Mehre von ihnen sind in unsern letzten Nevolutionsjahren durch politische und parlamentarische Thätig¬ keit auf denselben Bänken der Paulskirche geschult worden, alle haben in den auflodernden Leidenschaften und gegenüber den Straßenkämpfen der unheimlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/250>, abgerufen am 23.07.2024.