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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Verstandes nicht aus, also nicht ein Umsichwerfen mit verschiedenartigen Hypo¬
thesen, wie es der moderne Materialismus liebt, sondern wir müssen vor allen
Dingen feste Axiome suchen und dann mit Schlüssen vorgehen. Di.ehe Axiome
können aber nicht in Berufung auf Autoritäten, oder auf beliebige, aus dem
Zusanunenhang gerissene, in der Deutung unsichere Bibelsprüche, sondern nnr
in unleugbar richtige", christlichen Grundfäden gefunden werden; ein solches
allgemein anerkanntes Arion ist z. B, der Sah, daß wir die Wahrheit und
nicht die Unwahrheit suchen sollen. Da nun das vernünftig Erkannte für uns
absolute Wahrheit ist, so muß jeder vermeintliche Glaubenssatz, welcher der Ver¬
nunft widerstreitet, nicht allein als unwahr, sondern auch als unchristlich und
gewissenlos betrachtet werden. Da ferner absurd wäre, anzunehmen, daß unser
Gewissen, welches doch daS Suchen der Wahrheit verlangt und durch den
eigenthümlichen Zauber der Erkenntniß belohnt, Unwahrheiten in unsern Ge¬
danken hervorbringen könnte, so schließen wir, daß uns das Gewissen ebenso¬
wenig täuschen kann, wie die Vernunft und daß der Irrthum stets hier vom
Verstände, dort von den niedern Gemüthsbewegungen, dem Selbstgefühl mit
seinen egoistischen Interessen und Begierden ausgeht. Die Erfahrung bestätigt
diesen Satz vollkommen, der Egoismus bemäntelt sich' stets mit sophistischen
Gründen und ein blos verständiges Denken findet im Egoismus seinen Glau¬
ben und seine Moral; eine höfliche Berücksichtigung des gegenseitigen Egois¬
mus ist die Moral der Materialisten, die Herrschsucht wie der Egoismus pro¬
testantischer wie katholischer Jesuiten wehrt mit sophistischen Gründen und
Autoritäten der Vernunft die Prüfung ihrer Dogmen und Meinuugssyfteme.
Genan dasselbe lehrt die Selbstbeobachtung; wir finden stets Egoismus und
Verstand im Bunde gegen Vernunft und Gewissen, niemals aber einen Wider¬
streit der beiden letztern. Fügen wir noch hinzu, daß die moralischen Grund¬
sätze Ausdrücke sind, welche wir aus der Betrachtung edler d. h. aus Ge¬
wissen und Vernunft hervorgegangener Thaten abgeleitet haben, so haben wir
die Elemente des Glaubens beisammen. Der Glaube ist also das Resultat
unsers angestrengtesten Nachdenkens, unsrer tiefsten und innerlichsten Gemüths¬
thätigkeit und unsrer schönsten Erinnerungen.

Es ist aber klar, daß der ideale Glaube in Wirklichkeit durch die stören¬
den Einflüsse der niedern Seelenthätigkeiten und durch die Unzulänglichkeit der
vernünftigen Erkenntnisse vielfach gefährdet und beeinträchtigt wird. Wo na¬
mentlich die vernünftige Erkenntniß aufhört, da ist den verständigen Reflexionen
ein weiter Spielraum gelassen, den wir mit subjectiven Meinungen oder Ver¬
neinungen auszufüllen geneigt und selbst genöthigt sind. Da diese an sich
ebensowol richtig und gut, als falsch und schlecht sein können, dieses zu unter¬
scheiden aber kein sicheres Mittel eristirt, so kann es niemandem verwehrt
sein, durch VerstandeSthätigkeit die Lücken der Erkenntniß auszufüllen, mag


Verstandes nicht aus, also nicht ein Umsichwerfen mit verschiedenartigen Hypo¬
thesen, wie es der moderne Materialismus liebt, sondern wir müssen vor allen
Dingen feste Axiome suchen und dann mit Schlüssen vorgehen. Di.ehe Axiome
können aber nicht in Berufung auf Autoritäten, oder auf beliebige, aus dem
Zusanunenhang gerissene, in der Deutung unsichere Bibelsprüche, sondern nnr
in unleugbar richtige», christlichen Grundfäden gefunden werden; ein solches
allgemein anerkanntes Arion ist z. B, der Sah, daß wir die Wahrheit und
nicht die Unwahrheit suchen sollen. Da nun das vernünftig Erkannte für uns
absolute Wahrheit ist, so muß jeder vermeintliche Glaubenssatz, welcher der Ver¬
nunft widerstreitet, nicht allein als unwahr, sondern auch als unchristlich und
gewissenlos betrachtet werden. Da ferner absurd wäre, anzunehmen, daß unser
Gewissen, welches doch daS Suchen der Wahrheit verlangt und durch den
eigenthümlichen Zauber der Erkenntniß belohnt, Unwahrheiten in unsern Ge¬
danken hervorbringen könnte, so schließen wir, daß uns das Gewissen ebenso¬
wenig täuschen kann, wie die Vernunft und daß der Irrthum stets hier vom
Verstände, dort von den niedern Gemüthsbewegungen, dem Selbstgefühl mit
seinen egoistischen Interessen und Begierden ausgeht. Die Erfahrung bestätigt
diesen Satz vollkommen, der Egoismus bemäntelt sich' stets mit sophistischen
Gründen und ein blos verständiges Denken findet im Egoismus seinen Glau¬
ben und seine Moral; eine höfliche Berücksichtigung des gegenseitigen Egois¬
mus ist die Moral der Materialisten, die Herrschsucht wie der Egoismus pro¬
testantischer wie katholischer Jesuiten wehrt mit sophistischen Gründen und
Autoritäten der Vernunft die Prüfung ihrer Dogmen und Meinuugssyfteme.
Genan dasselbe lehrt die Selbstbeobachtung; wir finden stets Egoismus und
Verstand im Bunde gegen Vernunft und Gewissen, niemals aber einen Wider¬
streit der beiden letztern. Fügen wir noch hinzu, daß die moralischen Grund¬
sätze Ausdrücke sind, welche wir aus der Betrachtung edler d. h. aus Ge¬
wissen und Vernunft hervorgegangener Thaten abgeleitet haben, so haben wir
die Elemente des Glaubens beisammen. Der Glaube ist also das Resultat
unsers angestrengtesten Nachdenkens, unsrer tiefsten und innerlichsten Gemüths¬
thätigkeit und unsrer schönsten Erinnerungen.

Es ist aber klar, daß der ideale Glaube in Wirklichkeit durch die stören¬
den Einflüsse der niedern Seelenthätigkeiten und durch die Unzulänglichkeit der
vernünftigen Erkenntnisse vielfach gefährdet und beeinträchtigt wird. Wo na¬
mentlich die vernünftige Erkenntniß aufhört, da ist den verständigen Reflexionen
ein weiter Spielraum gelassen, den wir mit subjectiven Meinungen oder Ver¬
neinungen auszufüllen geneigt und selbst genöthigt sind. Da diese an sich
ebensowol richtig und gut, als falsch und schlecht sein können, dieses zu unter¬
scheiden aber kein sicheres Mittel eristirt, so kann es niemandem verwehrt
sein, durch VerstandeSthätigkeit die Lücken der Erkenntniß auszufüllen, mag


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[0188] Verstandes nicht aus, also nicht ein Umsichwerfen mit verschiedenartigen Hypo¬ thesen, wie es der moderne Materialismus liebt, sondern wir müssen vor allen Dingen feste Axiome suchen und dann mit Schlüssen vorgehen. Di.ehe Axiome können aber nicht in Berufung auf Autoritäten, oder auf beliebige, aus dem Zusanunenhang gerissene, in der Deutung unsichere Bibelsprüche, sondern nnr in unleugbar richtige», christlichen Grundfäden gefunden werden; ein solches allgemein anerkanntes Arion ist z. B, der Sah, daß wir die Wahrheit und nicht die Unwahrheit suchen sollen. Da nun das vernünftig Erkannte für uns absolute Wahrheit ist, so muß jeder vermeintliche Glaubenssatz, welcher der Ver¬ nunft widerstreitet, nicht allein als unwahr, sondern auch als unchristlich und gewissenlos betrachtet werden. Da ferner absurd wäre, anzunehmen, daß unser Gewissen, welches doch daS Suchen der Wahrheit verlangt und durch den eigenthümlichen Zauber der Erkenntniß belohnt, Unwahrheiten in unsern Ge¬ danken hervorbringen könnte, so schließen wir, daß uns das Gewissen ebenso¬ wenig täuschen kann, wie die Vernunft und daß der Irrthum stets hier vom Verstände, dort von den niedern Gemüthsbewegungen, dem Selbstgefühl mit seinen egoistischen Interessen und Begierden ausgeht. Die Erfahrung bestätigt diesen Satz vollkommen, der Egoismus bemäntelt sich' stets mit sophistischen Gründen und ein blos verständiges Denken findet im Egoismus seinen Glau¬ ben und seine Moral; eine höfliche Berücksichtigung des gegenseitigen Egois¬ mus ist die Moral der Materialisten, die Herrschsucht wie der Egoismus pro¬ testantischer wie katholischer Jesuiten wehrt mit sophistischen Gründen und Autoritäten der Vernunft die Prüfung ihrer Dogmen und Meinuugssyfteme. Genan dasselbe lehrt die Selbstbeobachtung; wir finden stets Egoismus und Verstand im Bunde gegen Vernunft und Gewissen, niemals aber einen Wider¬ streit der beiden letztern. Fügen wir noch hinzu, daß die moralischen Grund¬ sätze Ausdrücke sind, welche wir aus der Betrachtung edler d. h. aus Ge¬ wissen und Vernunft hervorgegangener Thaten abgeleitet haben, so haben wir die Elemente des Glaubens beisammen. Der Glaube ist also das Resultat unsers angestrengtesten Nachdenkens, unsrer tiefsten und innerlichsten Gemüths¬ thätigkeit und unsrer schönsten Erinnerungen. Es ist aber klar, daß der ideale Glaube in Wirklichkeit durch die stören¬ den Einflüsse der niedern Seelenthätigkeiten und durch die Unzulänglichkeit der vernünftigen Erkenntnisse vielfach gefährdet und beeinträchtigt wird. Wo na¬ mentlich die vernünftige Erkenntniß aufhört, da ist den verständigen Reflexionen ein weiter Spielraum gelassen, den wir mit subjectiven Meinungen oder Ver¬ neinungen auszufüllen geneigt und selbst genöthigt sind. Da diese an sich ebensowol richtig und gut, als falsch und schlecht sein können, dieses zu unter¬ scheiden aber kein sicheres Mittel eristirt, so kann es niemandem verwehrt sein, durch VerstandeSthätigkeit die Lücken der Erkenntniß auszufüllen, mag

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/188>, abgerufen am 23.07.2024.