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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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mystische Phrasen und Autoritätenglaube, sondern nur die Zurückführung der
Glaubenssätze auf unser Gewissen uns von deren Nichtigkeit überzeugen kann.
Was hatten denn die Heiden oder was hat heute jeder von uns angesichts der
vielen historischen Greuel und Verirrungen sogenannten Christenthums für einen
Grund, christliche Ueberzeugungen zu hegen? Doch wol nicht den, daß uns
dieselben von Kindesbeinen an vorgesagt sind? Oder die Furcht vor der Hölle,
mit welcher man uns andernfalls im Namen des allliebenden Gottes bis in alle
Ewigkeit hin bedroht? Nein, selbst die viclgedeutetcn und ungedeuteten Aus-
sprüche Christi würden uns um so kälter lassen, je häufiger sie zu angeblichen
Beweisen jedes theologischen Unsinns gemißbraucht worden sind -- wenn nicht
allen Verdrehungen trotzend die einfache Lehre Christi, der Ausdruck seiner
tiefen und göttlichen Empfindungen, sein edles, erhabenes und doch so schlich¬
tes Thun mit der unwiderstehlichen Gewalt der Wahrheit und Begeisterung
Geist und Gemüth des Menschen in gleicher Weise ergriffe und fesselte.

Wollen wir also die Bewegungen unsers Gewissens als Prüfstein und als
Mittel der Erkenntniß benutzen, so fragt es sich, auf welche Weise wir den
drohenden Täuschungen am sichersten entgehen können. Die Beobachtung lehrt
nun, daß nur die Thätigkeit der Vernunft, wenn wir unter dieser ausschlie߬
lich die Fähigkeit zu logischen Schlüssen verstehen, vor Irrthum schützen kann.
Zwar täuschen uns die Sinne selbst selten oder eigentlich nie, aber durch die
sinnliche Wahrnehmung allein kann keine tiefgehende Erkenntniß, nicht einmal
des Sinnlichen gewonnen werden; unser Verstand dagegen befähigt uns zwar
zu Urtheilen und Unterscheidungen des Sinnenfälligen, wie der Begriffe, täuscht
uns aber über beides sehr häufig. Nur die Vernunft täuscht sich, so viel wir
wissen, niemals, scheinbarer Irrthum liegt stets in den Voraussetzungen, während
die Schlußfolgerung die bekannte, noch unerklärte Eigenschaft, unbedingt zu über¬
zeugen, besitzt. An einer Kette von Schlüssen, deren erste Glieder unumstö߬
liche Ariome sind, zu zweifeln, ist uns daher völlig unmöglich, ihre Resultate
sind sür uns absolute Wahrheiten. Da nun die Betrachtung der Mathematik,
bisher der einzigen streng logischen Wissenschaft, lehrt, daß die Resultate unsers
Denkens der Naturwirklichkeit völlig entsprechen, so müssen die Gesetze unsrer
Vernunflbewcgungen mit den Naturgesetzen identisch sein. Noch weniger aber
können heterogene Gesetze die Gemüthsbewegungen beherrschen, da Geist und
Gemüth nicht allein nach allgemeiner Annahme einer einheitlichen Seele ent¬
stammen, sondern auch, wie wir sahen, in der That wieder zusammenfallen und
überhaupt stets in nothwendiger Wechselwirkung miteinander stehen. Wir
müssen also, um die Wahrheit zu finden, die Gesetze unsers Gewissens und
seiner unmittelb.nen Eingebungen, also unsern Glauben mit der Vernunft zu
erfassen oder wenigstens den letztem zu prüfen und zu läutern uns bemühen.
Hierzu reicht, wie wir gesehen haben, ein bloßes Raisonniren des trügerischen


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mystische Phrasen und Autoritätenglaube, sondern nur die Zurückführung der
Glaubenssätze auf unser Gewissen uns von deren Nichtigkeit überzeugen kann.
Was hatten denn die Heiden oder was hat heute jeder von uns angesichts der
vielen historischen Greuel und Verirrungen sogenannten Christenthums für einen
Grund, christliche Ueberzeugungen zu hegen? Doch wol nicht den, daß uns
dieselben von Kindesbeinen an vorgesagt sind? Oder die Furcht vor der Hölle,
mit welcher man uns andernfalls im Namen des allliebenden Gottes bis in alle
Ewigkeit hin bedroht? Nein, selbst die viclgedeutetcn und ungedeuteten Aus-
sprüche Christi würden uns um so kälter lassen, je häufiger sie zu angeblichen
Beweisen jedes theologischen Unsinns gemißbraucht worden sind — wenn nicht
allen Verdrehungen trotzend die einfache Lehre Christi, der Ausdruck seiner
tiefen und göttlichen Empfindungen, sein edles, erhabenes und doch so schlich¬
tes Thun mit der unwiderstehlichen Gewalt der Wahrheit und Begeisterung
Geist und Gemüth des Menschen in gleicher Weise ergriffe und fesselte.

Wollen wir also die Bewegungen unsers Gewissens als Prüfstein und als
Mittel der Erkenntniß benutzen, so fragt es sich, auf welche Weise wir den
drohenden Täuschungen am sichersten entgehen können. Die Beobachtung lehrt
nun, daß nur die Thätigkeit der Vernunft, wenn wir unter dieser ausschlie߬
lich die Fähigkeit zu logischen Schlüssen verstehen, vor Irrthum schützen kann.
Zwar täuschen uns die Sinne selbst selten oder eigentlich nie, aber durch die
sinnliche Wahrnehmung allein kann keine tiefgehende Erkenntniß, nicht einmal
des Sinnlichen gewonnen werden; unser Verstand dagegen befähigt uns zwar
zu Urtheilen und Unterscheidungen des Sinnenfälligen, wie der Begriffe, täuscht
uns aber über beides sehr häufig. Nur die Vernunft täuscht sich, so viel wir
wissen, niemals, scheinbarer Irrthum liegt stets in den Voraussetzungen, während
die Schlußfolgerung die bekannte, noch unerklärte Eigenschaft, unbedingt zu über¬
zeugen, besitzt. An einer Kette von Schlüssen, deren erste Glieder unumstö߬
liche Ariome sind, zu zweifeln, ist uns daher völlig unmöglich, ihre Resultate
sind sür uns absolute Wahrheiten. Da nun die Betrachtung der Mathematik,
bisher der einzigen streng logischen Wissenschaft, lehrt, daß die Resultate unsers
Denkens der Naturwirklichkeit völlig entsprechen, so müssen die Gesetze unsrer
Vernunflbewcgungen mit den Naturgesetzen identisch sein. Noch weniger aber
können heterogene Gesetze die Gemüthsbewegungen beherrschen, da Geist und
Gemüth nicht allein nach allgemeiner Annahme einer einheitlichen Seele ent¬
stammen, sondern auch, wie wir sahen, in der That wieder zusammenfallen und
überhaupt stets in nothwendiger Wechselwirkung miteinander stehen. Wir
müssen also, um die Wahrheit zu finden, die Gesetze unsers Gewissens und
seiner unmittelb.nen Eingebungen, also unsern Glauben mit der Vernunft zu
erfassen oder wenigstens den letztem zu prüfen und zu läutern uns bemühen.
Hierzu reicht, wie wir gesehen haben, ein bloßes Raisonniren des trügerischen


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[0187] mystische Phrasen und Autoritätenglaube, sondern nur die Zurückführung der Glaubenssätze auf unser Gewissen uns von deren Nichtigkeit überzeugen kann. Was hatten denn die Heiden oder was hat heute jeder von uns angesichts der vielen historischen Greuel und Verirrungen sogenannten Christenthums für einen Grund, christliche Ueberzeugungen zu hegen? Doch wol nicht den, daß uns dieselben von Kindesbeinen an vorgesagt sind? Oder die Furcht vor der Hölle, mit welcher man uns andernfalls im Namen des allliebenden Gottes bis in alle Ewigkeit hin bedroht? Nein, selbst die viclgedeutetcn und ungedeuteten Aus- sprüche Christi würden uns um so kälter lassen, je häufiger sie zu angeblichen Beweisen jedes theologischen Unsinns gemißbraucht worden sind — wenn nicht allen Verdrehungen trotzend die einfache Lehre Christi, der Ausdruck seiner tiefen und göttlichen Empfindungen, sein edles, erhabenes und doch so schlich¬ tes Thun mit der unwiderstehlichen Gewalt der Wahrheit und Begeisterung Geist und Gemüth des Menschen in gleicher Weise ergriffe und fesselte. Wollen wir also die Bewegungen unsers Gewissens als Prüfstein und als Mittel der Erkenntniß benutzen, so fragt es sich, auf welche Weise wir den drohenden Täuschungen am sichersten entgehen können. Die Beobachtung lehrt nun, daß nur die Thätigkeit der Vernunft, wenn wir unter dieser ausschlie߬ lich die Fähigkeit zu logischen Schlüssen verstehen, vor Irrthum schützen kann. Zwar täuschen uns die Sinne selbst selten oder eigentlich nie, aber durch die sinnliche Wahrnehmung allein kann keine tiefgehende Erkenntniß, nicht einmal des Sinnlichen gewonnen werden; unser Verstand dagegen befähigt uns zwar zu Urtheilen und Unterscheidungen des Sinnenfälligen, wie der Begriffe, täuscht uns aber über beides sehr häufig. Nur die Vernunft täuscht sich, so viel wir wissen, niemals, scheinbarer Irrthum liegt stets in den Voraussetzungen, während die Schlußfolgerung die bekannte, noch unerklärte Eigenschaft, unbedingt zu über¬ zeugen, besitzt. An einer Kette von Schlüssen, deren erste Glieder unumstö߬ liche Ariome sind, zu zweifeln, ist uns daher völlig unmöglich, ihre Resultate sind sür uns absolute Wahrheiten. Da nun die Betrachtung der Mathematik, bisher der einzigen streng logischen Wissenschaft, lehrt, daß die Resultate unsers Denkens der Naturwirklichkeit völlig entsprechen, so müssen die Gesetze unsrer Vernunflbewcgungen mit den Naturgesetzen identisch sein. Noch weniger aber können heterogene Gesetze die Gemüthsbewegungen beherrschen, da Geist und Gemüth nicht allein nach allgemeiner Annahme einer einheitlichen Seele ent¬ stammen, sondern auch, wie wir sahen, in der That wieder zusammenfallen und überhaupt stets in nothwendiger Wechselwirkung miteinander stehen. Wir müssen also, um die Wahrheit zu finden, die Gesetze unsers Gewissens und seiner unmittelb.nen Eingebungen, also unsern Glauben mit der Vernunft zu erfassen oder wenigstens den letztem zu prüfen und zu läutern uns bemühen. Hierzu reicht, wie wir gesehen haben, ein bloßes Raisonniren des trügerischen 23*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/187>, abgerufen am 23.07.2024.