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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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leiten. Unmittelbar beruht jedes Wissen auf Begriffen und auf Erkenntniß,
welche nur durch das Denkvermögen, welches wir Geist nennen wollen, be¬
schafft werden können. Der Glaube dagegen entspringt wesentlich der höchsten
Entfaltung der Gemüthsthätigkeit, welche wir als Gewissen bezeichnen wollen;
daS Pflichtgefühl, die Liebe, die Rührung, das Mitleiden, die Begeisterung
für das Edle, Wahre, Gcistigschöne und Erhabene sind die Functionen des
Gewissens und zugleich die Grundlage wahrer Religion. Die Rührung, sagt
ein Naturforscher, ist das Begreifen des Gemüths, die Liebe sein Nachdenken
und diese befähigt uns, göttliche Empfindungen nachzubilden, wie die Ver¬
nunft göttliche Gedanken zu begreifen. Der Glaube also, dem Gemüth oder
dem Gewissen entsprungen, hat zunächst mit dem Wissen, mit der Erkenntniß
nichts gemein; ihm zu den Empfindungen auch Worte und Begriffe zu leihen,
wird nur durch die Nothwendigkeit des Wollens und Handelns geboten. Wie
in niederer Gemüthssphäre Interessen, Leidenschaften, Affecte die Antriebe zu
Willensacten geben, so thut es auch das Gewissen; insonderheit erzeugt die
Ehrfurcht vor Gott, vereint mit der Liebe zu den Nebenmenschen, daS Be¬
dürfniß eines gemeinsamen Glaubensbekenntnisses und gemeinsamen Gottes¬
dienstes. Sobald aber irgendein dem Gemüth entstammender Antrieb zur That
werden soll, muß das Ziel der Handlung gedacht sein, also eine Thätigkeit des
Geistes mit der gemüthlichen sich vereinigen.

Zum Behufe der Religion und 'des Gottesdienstes nun fühlen wir uns
vor allem gedrungen (obwol nur mit sehr unvollkommener Erkenntniß ausge¬
rüstet), uns einen Begriff von Gott zu bilden; wir müssen uns ferner über
die schwierigsten Dinge mit unsren Nebenmenschen verständigen und haben
endlich nicht allein völlig rein und gewissenhaft, ja begeistert zu empfinden,
sondern auch diese 'tiefsten und innerlichsten Bewegungen des Gemüths in
widerstrebende Worte zu fassen; erst nachdem dies alles geschehen, können
wir unsern Glauben bekennen. Selbstverständlich wäre kein einzelner Mensch
im Stande, aus eigner Kraft diese Aufgaben zu lösen; doch zum.Glück hat
uns Christus durch Lehre und That eine wahrhaft überirdische und göttliche
Tiefe, Reinheit und Kraft des Gemüths offenbart und ist dadurch zum Vor¬
bild und Prüfstein der nach ihm christlich genannten Gesinnung geworden.
Dennoch sind die oben bezeichneten Schwierigkeiten immer noch sehr groß, so¬
bald man sich nicht auf ein gedankenloses nachsprechen der von Christus aus¬
gesprochenen Worte und seiner von den Theologen bald so, bald so verstan¬
denen oder mißverstandenen und in andre Worte umgefaßten Lehren oder aber,
wie es jetzt vielfach gebräuchlich ist, auf Phrasenmachen einlassen will; denn
eignes Nachdenken, eignes nachempfinden, eignes Wollen und Thun ist jedem
unerläßlich, der die christliche Lehre sich verinnerlichen und aus bewußter Ueber¬
zeugung sich zum Christenthum bekennen will.


Grenzboten. I. -I8ö6. HZ

leiten. Unmittelbar beruht jedes Wissen auf Begriffen und auf Erkenntniß,
welche nur durch das Denkvermögen, welches wir Geist nennen wollen, be¬
schafft werden können. Der Glaube dagegen entspringt wesentlich der höchsten
Entfaltung der Gemüthsthätigkeit, welche wir als Gewissen bezeichnen wollen;
daS Pflichtgefühl, die Liebe, die Rührung, das Mitleiden, die Begeisterung
für das Edle, Wahre, Gcistigschöne und Erhabene sind die Functionen des
Gewissens und zugleich die Grundlage wahrer Religion. Die Rührung, sagt
ein Naturforscher, ist das Begreifen des Gemüths, die Liebe sein Nachdenken
und diese befähigt uns, göttliche Empfindungen nachzubilden, wie die Ver¬
nunft göttliche Gedanken zu begreifen. Der Glaube also, dem Gemüth oder
dem Gewissen entsprungen, hat zunächst mit dem Wissen, mit der Erkenntniß
nichts gemein; ihm zu den Empfindungen auch Worte und Begriffe zu leihen,
wird nur durch die Nothwendigkeit des Wollens und Handelns geboten. Wie
in niederer Gemüthssphäre Interessen, Leidenschaften, Affecte die Antriebe zu
Willensacten geben, so thut es auch das Gewissen; insonderheit erzeugt die
Ehrfurcht vor Gott, vereint mit der Liebe zu den Nebenmenschen, daS Be¬
dürfniß eines gemeinsamen Glaubensbekenntnisses und gemeinsamen Gottes¬
dienstes. Sobald aber irgendein dem Gemüth entstammender Antrieb zur That
werden soll, muß das Ziel der Handlung gedacht sein, also eine Thätigkeit des
Geistes mit der gemüthlichen sich vereinigen.

Zum Behufe der Religion und 'des Gottesdienstes nun fühlen wir uns
vor allem gedrungen (obwol nur mit sehr unvollkommener Erkenntniß ausge¬
rüstet), uns einen Begriff von Gott zu bilden; wir müssen uns ferner über
die schwierigsten Dinge mit unsren Nebenmenschen verständigen und haben
endlich nicht allein völlig rein und gewissenhaft, ja begeistert zu empfinden,
sondern auch diese 'tiefsten und innerlichsten Bewegungen des Gemüths in
widerstrebende Worte zu fassen; erst nachdem dies alles geschehen, können
wir unsern Glauben bekennen. Selbstverständlich wäre kein einzelner Mensch
im Stande, aus eigner Kraft diese Aufgaben zu lösen; doch zum.Glück hat
uns Christus durch Lehre und That eine wahrhaft überirdische und göttliche
Tiefe, Reinheit und Kraft des Gemüths offenbart und ist dadurch zum Vor¬
bild und Prüfstein der nach ihm christlich genannten Gesinnung geworden.
Dennoch sind die oben bezeichneten Schwierigkeiten immer noch sehr groß, so¬
bald man sich nicht auf ein gedankenloses nachsprechen der von Christus aus¬
gesprochenen Worte und seiner von den Theologen bald so, bald so verstan¬
denen oder mißverstandenen und in andre Worte umgefaßten Lehren oder aber,
wie es jetzt vielfach gebräuchlich ist, auf Phrasenmachen einlassen will; denn
eignes Nachdenken, eignes nachempfinden, eignes Wollen und Thun ist jedem
unerläßlich, der die christliche Lehre sich verinnerlichen und aus bewußter Ueber¬
zeugung sich zum Christenthum bekennen will.


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[0185] leiten. Unmittelbar beruht jedes Wissen auf Begriffen und auf Erkenntniß, welche nur durch das Denkvermögen, welches wir Geist nennen wollen, be¬ schafft werden können. Der Glaube dagegen entspringt wesentlich der höchsten Entfaltung der Gemüthsthätigkeit, welche wir als Gewissen bezeichnen wollen; daS Pflichtgefühl, die Liebe, die Rührung, das Mitleiden, die Begeisterung für das Edle, Wahre, Gcistigschöne und Erhabene sind die Functionen des Gewissens und zugleich die Grundlage wahrer Religion. Die Rührung, sagt ein Naturforscher, ist das Begreifen des Gemüths, die Liebe sein Nachdenken und diese befähigt uns, göttliche Empfindungen nachzubilden, wie die Ver¬ nunft göttliche Gedanken zu begreifen. Der Glaube also, dem Gemüth oder dem Gewissen entsprungen, hat zunächst mit dem Wissen, mit der Erkenntniß nichts gemein; ihm zu den Empfindungen auch Worte und Begriffe zu leihen, wird nur durch die Nothwendigkeit des Wollens und Handelns geboten. Wie in niederer Gemüthssphäre Interessen, Leidenschaften, Affecte die Antriebe zu Willensacten geben, so thut es auch das Gewissen; insonderheit erzeugt die Ehrfurcht vor Gott, vereint mit der Liebe zu den Nebenmenschen, daS Be¬ dürfniß eines gemeinsamen Glaubensbekenntnisses und gemeinsamen Gottes¬ dienstes. Sobald aber irgendein dem Gemüth entstammender Antrieb zur That werden soll, muß das Ziel der Handlung gedacht sein, also eine Thätigkeit des Geistes mit der gemüthlichen sich vereinigen. Zum Behufe der Religion und 'des Gottesdienstes nun fühlen wir uns vor allem gedrungen (obwol nur mit sehr unvollkommener Erkenntniß ausge¬ rüstet), uns einen Begriff von Gott zu bilden; wir müssen uns ferner über die schwierigsten Dinge mit unsren Nebenmenschen verständigen und haben endlich nicht allein völlig rein und gewissenhaft, ja begeistert zu empfinden, sondern auch diese 'tiefsten und innerlichsten Bewegungen des Gemüths in widerstrebende Worte zu fassen; erst nachdem dies alles geschehen, können wir unsern Glauben bekennen. Selbstverständlich wäre kein einzelner Mensch im Stande, aus eigner Kraft diese Aufgaben zu lösen; doch zum.Glück hat uns Christus durch Lehre und That eine wahrhaft überirdische und göttliche Tiefe, Reinheit und Kraft des Gemüths offenbart und ist dadurch zum Vor¬ bild und Prüfstein der nach ihm christlich genannten Gesinnung geworden. Dennoch sind die oben bezeichneten Schwierigkeiten immer noch sehr groß, so¬ bald man sich nicht auf ein gedankenloses nachsprechen der von Christus aus¬ gesprochenen Worte und seiner von den Theologen bald so, bald so verstan¬ denen oder mißverstandenen und in andre Worte umgefaßten Lehren oder aber, wie es jetzt vielfach gebräuchlich ist, auf Phrasenmachen einlassen will; denn eignes Nachdenken, eignes nachempfinden, eignes Wollen und Thun ist jedem unerläßlich, der die christliche Lehre sich verinnerlichen und aus bewußter Ueber¬ zeugung sich zum Christenthum bekennen will. Grenzboten. I. -I8ö6. HZ

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/185>, abgerufen am 23.07.2024.