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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Franzosenhasses und ihrer Ungastlichkeil, auch der Puritanismus berührte ihn
unangenehm, er warnte später seinen Freund Casaubouus zu "diesen Affen"
zu gehe". Auch die müssiggäugerischen s(-llov8 der englischen Colleges ließ er
nicht unbemerkt.

Nach seiner Rückkehr nahm er in Frankreich an dem zweiten und dritten
Religionskriege 70) Antheil, verlor den Nest seines Vermögens und
auf den Schlachtfeldern die Mehrzahl seiner Freunde. Aus seiner Nieder¬
geschlagenheit richtete ihn de'r große Jurist Cujacius in Valence auf. Dieser
in seiner Großartigkeit vielleicht einzige Gelehrte lebte mit dem jungen Mann
im vertrauten Umgang, führte ihn in das Studium des römischen Rechts ein
und begründete unter andern seine Freundschaft mit dem spätern Geschicht¬
schreiber und Präsidenten de Thon. Nachdem eine diplomatische Sendung
nach Polen, an der Scaliger auf CujaciuS Veranlassung hatte Theil nehmen
sollen, unausgeführt geblieben war, verließ Scaliger das mit dem Blut der
Bartholomäusnacht befleckte Frankreich und ließ sich in Genf nieder. Er sollte
dort Philosophie dociren, aber er taugte nie dazu "ä euquvtvr en ckalrv öl
peclantsr" und hat in der That das seltene Glück gehabt, während zweier
Jahrzehente seines Mannesalters sich ungedruckt von Amtspflichten einer rein
wissenschaftlichen Thätigkeit hingeben zu können. In dieser beginnt nun eine
neue Epoche. Bis dahin hatte er durch die Bearbeitung lateinischer Schrift¬
steller und Dichter für die Textkritik den richtigen Weg gewiesen, gezeigt, wie
man die Ueberlieferung der Urgestalt annähern müsse. Dies war um so noth¬
wendiger und segensreicher in einer Zeit, wo die italienischen Philologen eine
Behandlung der literarischen Ueberreste des Alterthums eingeführt hatten, die
im'besten Falle mehr künstlerisch, als wissenschaftlich war. Wie man sich in
Italien im sechzehnten Jahrhundert bei Auffindung alter Kunstwerke beeilte,
das Verstümmelte schnell auf gutes Glück zu ergänzen, um doch ein genie߬
bares Ganze zu haben, ohne daß man daöei auf die Intention des alten
Künstlers viel Rücksicht nahm -- mit ähnlicher Willkür verfuhr man auch bei
der Herstellung der schriftlichen Monumente. Man übertünchte die Schäden
auf Gerathewohl, füllte die Lücken nach Belieben aus und blieb nicht einmal
immer dabei stehn, sondern gar mancher Gelehrte fügte den alten Dichtern
seine eignen Einfälle bei. Dann sank der anfänglich begeisterte Eifer ganz zur
Tändelei herab, die Studien geriethen in die Gefahr, dem Genuß dienstbar
gemacht zu werden und dabei suchten die Italiener für sich ein Monopol auf
Classicität zu behaupten. Scaliger gab der Wahrheit in der Kritik ihr Recht
wieder, das die Schönheit ihr hatte nehmen wollen und stellte den wissen¬
schaftlichen Ernst der classischen Studie" her.

Nach dieser divrthotisch-kritischen Wirksamkeit wandte sich Scaliger zu einer ^
historisch-kritischen und trat mit einem chronologischen epochemachenden Sy-


Franzosenhasses und ihrer Ungastlichkeil, auch der Puritanismus berührte ihn
unangenehm, er warnte später seinen Freund Casaubouus zu „diesen Affen"
zu gehe». Auch die müssiggäugerischen s(-llov8 der englischen Colleges ließ er
nicht unbemerkt.

Nach seiner Rückkehr nahm er in Frankreich an dem zweiten und dritten
Religionskriege 70) Antheil, verlor den Nest seines Vermögens und
auf den Schlachtfeldern die Mehrzahl seiner Freunde. Aus seiner Nieder¬
geschlagenheit richtete ihn de'r große Jurist Cujacius in Valence auf. Dieser
in seiner Großartigkeit vielleicht einzige Gelehrte lebte mit dem jungen Mann
im vertrauten Umgang, führte ihn in das Studium des römischen Rechts ein
und begründete unter andern seine Freundschaft mit dem spätern Geschicht¬
schreiber und Präsidenten de Thon. Nachdem eine diplomatische Sendung
nach Polen, an der Scaliger auf CujaciuS Veranlassung hatte Theil nehmen
sollen, unausgeführt geblieben war, verließ Scaliger das mit dem Blut der
Bartholomäusnacht befleckte Frankreich und ließ sich in Genf nieder. Er sollte
dort Philosophie dociren, aber er taugte nie dazu „ä euquvtvr en ckalrv öl
peclantsr" und hat in der That das seltene Glück gehabt, während zweier
Jahrzehente seines Mannesalters sich ungedruckt von Amtspflichten einer rein
wissenschaftlichen Thätigkeit hingeben zu können. In dieser beginnt nun eine
neue Epoche. Bis dahin hatte er durch die Bearbeitung lateinischer Schrift¬
steller und Dichter für die Textkritik den richtigen Weg gewiesen, gezeigt, wie
man die Ueberlieferung der Urgestalt annähern müsse. Dies war um so noth¬
wendiger und segensreicher in einer Zeit, wo die italienischen Philologen eine
Behandlung der literarischen Ueberreste des Alterthums eingeführt hatten, die
im'besten Falle mehr künstlerisch, als wissenschaftlich war. Wie man sich in
Italien im sechzehnten Jahrhundert bei Auffindung alter Kunstwerke beeilte,
das Verstümmelte schnell auf gutes Glück zu ergänzen, um doch ein genie߬
bares Ganze zu haben, ohne daß man daöei auf die Intention des alten
Künstlers viel Rücksicht nahm — mit ähnlicher Willkür verfuhr man auch bei
der Herstellung der schriftlichen Monumente. Man übertünchte die Schäden
auf Gerathewohl, füllte die Lücken nach Belieben aus und blieb nicht einmal
immer dabei stehn, sondern gar mancher Gelehrte fügte den alten Dichtern
seine eignen Einfälle bei. Dann sank der anfänglich begeisterte Eifer ganz zur
Tändelei herab, die Studien geriethen in die Gefahr, dem Genuß dienstbar
gemacht zu werden und dabei suchten die Italiener für sich ein Monopol auf
Classicität zu behaupten. Scaliger gab der Wahrheit in der Kritik ihr Recht
wieder, das die Schönheit ihr hatte nehmen wollen und stellte den wissen¬
schaftlichen Ernst der classischen Studie« her.

Nach dieser divrthotisch-kritischen Wirksamkeit wandte sich Scaliger zu einer ^
historisch-kritischen und trat mit einem chronologischen epochemachenden Sy-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/138>, abgerufen am 23.07.2024.