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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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unaufhörlich rege und wach erhielten. Nie wurde er mit seinen Geschwistern vor
den Greis gebracht, ohne mit dem Zuruf: "Nicht lügen!" empfangen zu werden.
Nach des Vaters Tode ging der neunzehnjährige Jüngling nach Paris, um
dort unter Turnabus Leitung das Griechische > zu studiren, allein er zog eS
bald vor, das Studium auf eigne Hand zu treiben und nach zwei Jahren
concentrirter Anstrengung hatte er eine tiefe und umfassende Kenntniß dieser
so höchst schwierigen Sprache gewonnen, was freilich nur einem Sprachgenie,
wie Scaliger es war, gelingen konnte. Er warf sich dann mit derselben
Energie auf die orientalischen Sprachen und erlangte auch hier unverächtliche
Kenntnisse; noch als Sechzigjähriger versuchte er in Leyden, unter Anleitung
eines getauften Juden des Talmudischen Herr zu werden und in Rom unter¬
hielt er sich mit den Bewohnern deS Ghetto in ihrer eignen Sprache und that
sich auf die Complimente, die er von ihnen erntete, etwas zu gut. Auch für
seine religiöse Entwicklung ward der Aufenthalt zu Paris entscheidend, er trat
1562 zu den Reformirten über und umfaßte fortan "die Religion und die
Musen" mit gleicher Liebe. Zwei seiner Aussprüche bezeichnen charakteristisch
seinen ernsten religiösen Sinn: Mmcris aposlut, n'er risn lVil <M Vculls Ms
apres, und: supöi'slitisux Mmais n<z fut cleicle.

Im Jahre und dem folgenden bereiste Scaliger Italien, in Gesell¬
schaft des Herrn de la Nochepozay, der als französischer Gesandter nach Rom
ging und mit dessen Familie er in ununterbrochenem dreißigjährigen Verkehr
stand. Französische Große hatten damals noch die Sitte, bedeutende Gelehrte zu
freier Haus- und Neisegenossenschaft an sich zu ziehen und Scaliger hat seinem
Gönner oft auf der Reise zu Pferde den Polybius interpretir't. Ter Sinn sür
die monumentalen Neste des Alterthums scheint ihm abgegangen zu sein, Rom
ließ ihn, so viel wir wissen, ohne Eindruck; dagegen brachte er eine Sammlung
alter Inschriften aus Italien mit, die das Fundament zu einer neuen Seite
der Allerthumsstudien werden sollten. Interessant ist ein Gedicht aus dieser
Zeit, in dem er seinem jugendlichen Haß gegen Venedig vollen Ausdruck gab.
Es ist ihm die Vorratskammer deS Verbrechens, die Schaye der List und ter
Unthat birgt, die Werkstätte von Blut und Gift, wo die Giftmischer und
Meuchelmörder reich belohnt werden und der Bravo nach dem Verbrechen stolz
einhergeht. Ueberhaupt gewann er die Italiener nicht lieb. "Man muß dem
Italiener nicht trauen, sagt er, denn er ist ohne Religion; er ist nnr zu
seiner Bequemlichkeit Ehrist; sie sind alle Atheisten." Auf der Rückreise be¬
suchte er Großbritannien, doch scheinen ihn die Schotten mehr angesprochen
zu haben, als die Engländer, er sagte, sie seien gute Philosophen, (obwol er
selbst zu eigentlicher philosophischer Speculation durchaus keine Neigung hatte);
und die Steinkohlenlager Schottlands erregten sein Interesse, aber auch die
volksthümlichen Balladen. Die Engländer dagegen mißfielen ihm wegen ihres


Gre"ze>oder. I. -I8se>. 17

unaufhörlich rege und wach erhielten. Nie wurde er mit seinen Geschwistern vor
den Greis gebracht, ohne mit dem Zuruf: „Nicht lügen!" empfangen zu werden.
Nach des Vaters Tode ging der neunzehnjährige Jüngling nach Paris, um
dort unter Turnabus Leitung das Griechische > zu studiren, allein er zog eS
bald vor, das Studium auf eigne Hand zu treiben und nach zwei Jahren
concentrirter Anstrengung hatte er eine tiefe und umfassende Kenntniß dieser
so höchst schwierigen Sprache gewonnen, was freilich nur einem Sprachgenie,
wie Scaliger es war, gelingen konnte. Er warf sich dann mit derselben
Energie auf die orientalischen Sprachen und erlangte auch hier unverächtliche
Kenntnisse; noch als Sechzigjähriger versuchte er in Leyden, unter Anleitung
eines getauften Juden des Talmudischen Herr zu werden und in Rom unter¬
hielt er sich mit den Bewohnern deS Ghetto in ihrer eignen Sprache und that
sich auf die Complimente, die er von ihnen erntete, etwas zu gut. Auch für
seine religiöse Entwicklung ward der Aufenthalt zu Paris entscheidend, er trat
1562 zu den Reformirten über und umfaßte fortan „die Religion und die
Musen" mit gleicher Liebe. Zwei seiner Aussprüche bezeichnen charakteristisch
seinen ernsten religiösen Sinn: Mmcris aposlut, n'er risn lVil <M Vculls Ms
apres, und: supöi'slitisux Mmais n<z fut cleicle.

Im Jahre und dem folgenden bereiste Scaliger Italien, in Gesell¬
schaft des Herrn de la Nochepozay, der als französischer Gesandter nach Rom
ging und mit dessen Familie er in ununterbrochenem dreißigjährigen Verkehr
stand. Französische Große hatten damals noch die Sitte, bedeutende Gelehrte zu
freier Haus- und Neisegenossenschaft an sich zu ziehen und Scaliger hat seinem
Gönner oft auf der Reise zu Pferde den Polybius interpretir't. Ter Sinn sür
die monumentalen Neste des Alterthums scheint ihm abgegangen zu sein, Rom
ließ ihn, so viel wir wissen, ohne Eindruck; dagegen brachte er eine Sammlung
alter Inschriften aus Italien mit, die das Fundament zu einer neuen Seite
der Allerthumsstudien werden sollten. Interessant ist ein Gedicht aus dieser
Zeit, in dem er seinem jugendlichen Haß gegen Venedig vollen Ausdruck gab.
Es ist ihm die Vorratskammer deS Verbrechens, die Schaye der List und ter
Unthat birgt, die Werkstätte von Blut und Gift, wo die Giftmischer und
Meuchelmörder reich belohnt werden und der Bravo nach dem Verbrechen stolz
einhergeht. Ueberhaupt gewann er die Italiener nicht lieb. „Man muß dem
Italiener nicht trauen, sagt er, denn er ist ohne Religion; er ist nnr zu
seiner Bequemlichkeit Ehrist; sie sind alle Atheisten." Auf der Rückreise be¬
suchte er Großbritannien, doch scheinen ihn die Schotten mehr angesprochen
zu haben, als die Engländer, er sagte, sie seien gute Philosophen, (obwol er
selbst zu eigentlicher philosophischer Speculation durchaus keine Neigung hatte);
und die Steinkohlenlager Schottlands erregten sein Interesse, aber auch die
volksthümlichen Balladen. Die Engländer dagegen mißfielen ihm wegen ihres


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[0137] unaufhörlich rege und wach erhielten. Nie wurde er mit seinen Geschwistern vor den Greis gebracht, ohne mit dem Zuruf: „Nicht lügen!" empfangen zu werden. Nach des Vaters Tode ging der neunzehnjährige Jüngling nach Paris, um dort unter Turnabus Leitung das Griechische > zu studiren, allein er zog eS bald vor, das Studium auf eigne Hand zu treiben und nach zwei Jahren concentrirter Anstrengung hatte er eine tiefe und umfassende Kenntniß dieser so höchst schwierigen Sprache gewonnen, was freilich nur einem Sprachgenie, wie Scaliger es war, gelingen konnte. Er warf sich dann mit derselben Energie auf die orientalischen Sprachen und erlangte auch hier unverächtliche Kenntnisse; noch als Sechzigjähriger versuchte er in Leyden, unter Anleitung eines getauften Juden des Talmudischen Herr zu werden und in Rom unter¬ hielt er sich mit den Bewohnern deS Ghetto in ihrer eignen Sprache und that sich auf die Complimente, die er von ihnen erntete, etwas zu gut. Auch für seine religiöse Entwicklung ward der Aufenthalt zu Paris entscheidend, er trat 1562 zu den Reformirten über und umfaßte fortan „die Religion und die Musen" mit gleicher Liebe. Zwei seiner Aussprüche bezeichnen charakteristisch seinen ernsten religiösen Sinn: Mmcris aposlut, n'er risn lVil <M Vculls Ms apres, und: supöi'slitisux Mmais n<z fut cleicle. Im Jahre und dem folgenden bereiste Scaliger Italien, in Gesell¬ schaft des Herrn de la Nochepozay, der als französischer Gesandter nach Rom ging und mit dessen Familie er in ununterbrochenem dreißigjährigen Verkehr stand. Französische Große hatten damals noch die Sitte, bedeutende Gelehrte zu freier Haus- und Neisegenossenschaft an sich zu ziehen und Scaliger hat seinem Gönner oft auf der Reise zu Pferde den Polybius interpretir't. Ter Sinn sür die monumentalen Neste des Alterthums scheint ihm abgegangen zu sein, Rom ließ ihn, so viel wir wissen, ohne Eindruck; dagegen brachte er eine Sammlung alter Inschriften aus Italien mit, die das Fundament zu einer neuen Seite der Allerthumsstudien werden sollten. Interessant ist ein Gedicht aus dieser Zeit, in dem er seinem jugendlichen Haß gegen Venedig vollen Ausdruck gab. Es ist ihm die Vorratskammer deS Verbrechens, die Schaye der List und ter Unthat birgt, die Werkstätte von Blut und Gift, wo die Giftmischer und Meuchelmörder reich belohnt werden und der Bravo nach dem Verbrechen stolz einhergeht. Ueberhaupt gewann er die Italiener nicht lieb. „Man muß dem Italiener nicht trauen, sagt er, denn er ist ohne Religion; er ist nnr zu seiner Bequemlichkeit Ehrist; sie sind alle Atheisten." Auf der Rückreise be¬ suchte er Großbritannien, doch scheinen ihn die Schotten mehr angesprochen zu haben, als die Engländer, er sagte, sie seien gute Philosophen, (obwol er selbst zu eigentlicher philosophischer Speculation durchaus keine Neigung hatte); und die Steinkohlenlager Schottlands erregten sein Interesse, aber auch die volksthümlichen Balladen. Die Engländer dagegen mißfielen ihm wegen ihres Gre»ze>oder. I. -I8se>. 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/137>, abgerufen am 23.07.2024.