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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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kirchlichen Interesse wieder frei zu machen. Zu einer wirklichen Neubildung
kam es auch auf diesem Gebiete nicht. Die bessern Köpfe suchten die neuesten
grammatischen und kritischen Forschungen der Nachbarvölker für Deutschland
fruchtbar zu machen, das sie in seinem theologischen Eifer außer Acht gelassen
hatte. Frischlin erscheint als Epigone der großen Humanisten des 15. uno
des beginnenden-I K. Jahrhunderts, deren Streben weniger auf historisch-kritische
Erforschung, als auf praktische Aneignung der alten Sprachen, -auf verständige
Auslegung und künstliche Nachbildung der classischen Sprachdenkmale gerichtet
war. In seinem rcnommistischen Selbstgefühl dagegen, seiner unbändigen
Rauflust, seinem glücksrittcrlichen Wandern und Dienstwcchseln spukt schon
etwas von der Art jener kühnen Abenteurer vor, die in der Entfesselung aller
Kräfte während einer dreißigjährigen Kriegszeit sich Namen, Geltung und un¬
gebundene Eristenz zu erringen strebten. Gleichzeitig begann allmälig die
deutsche Dichtung aufzublühn, und Frischlin versuchte sich nicht ohne Anlage
auch auf diesem Gebiet; aber er war zu sehr Philolog, um nicht das glänzende
Geschäft einer classischen Nachbildung der großen lateinischen Dichter dem müh¬
samen einer Arbeit auf ungcebneten Wegen vorzuziehen.

Nicodemus Frischlin wurde 13i7 in Tübingen geboren und schon 1568
wurde ihm die leelio povlioes auf der Universität Tübingen übertragen. Er
suchte die Formen der lateinischen Poesie, namentlich des Nirgil, den er für
den größten Dichter hielt, beizubehalten, dagegen christliche Ideen in dieselben
einzuführen, wobei es ihm denn doch wol zuweilen unbewußt begegnete, daß
der Humanismus über das Christenthum den Sieg davontrug. Sein Haupt¬
geschäft bestand theils in Paraphrasen d. h. in Uebertragungen aus der schwer
verständlichen poetischen Sprache in das allgemein geläufige prosaische Latein,
theils in Disputationen, in denen er die Schüler zu eigner Thätigkeit anzu¬
regen suchte. Seine Arbeitskraft und seine Wirksamkeit war groß; aber die
freie Art, in der er sich über seine College" äußerte, erregte bald die allgemeine
Unzufriedenheit derselben; namentlich stellte sich der Professor Crusius, ein
ttockner, boshafter Pedant, an die Spitze seiner Gegner und ging bald in
seinem Haß so weit, daß er darüber ein förmliches Tagebuch führte. Frisch¬
lins Gehalt war klein; er hatte sich früh verheirathet und mußte bald eine
zahlreiche Familie versorgen, allein die Mißgunst des Senats schnitt ihm jede
Beförderung ab. Man warf ihm vor, er sei dem Trunk ergeben, und freilich
bekannte Frischlin, "daß er lieber Wein, dann Bier und Wasser trinke, über¬
komme auch bessere spiritus vitales und postioos von dem Wein, dann von
Bier oder Wasser, aber was thue das, wenn er und andere Poeten bisweilen
einen starken Trunk, ohne Versäumnis) ihres Amts, act rot^Llionizm inAenii
thue? Geistlichen Würdenträgern, Juristen, Aerzten, stehen strenge Sitten an:
von einem freien und freimüthigen Dichter dürfe man nicht Gleiches fordern." --


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kirchlichen Interesse wieder frei zu machen. Zu einer wirklichen Neubildung
kam es auch auf diesem Gebiete nicht. Die bessern Köpfe suchten die neuesten
grammatischen und kritischen Forschungen der Nachbarvölker für Deutschland
fruchtbar zu machen, das sie in seinem theologischen Eifer außer Acht gelassen
hatte. Frischlin erscheint als Epigone der großen Humanisten des 15. uno
des beginnenden-I K. Jahrhunderts, deren Streben weniger auf historisch-kritische
Erforschung, als auf praktische Aneignung der alten Sprachen, -auf verständige
Auslegung und künstliche Nachbildung der classischen Sprachdenkmale gerichtet
war. In seinem rcnommistischen Selbstgefühl dagegen, seiner unbändigen
Rauflust, seinem glücksrittcrlichen Wandern und Dienstwcchseln spukt schon
etwas von der Art jener kühnen Abenteurer vor, die in der Entfesselung aller
Kräfte während einer dreißigjährigen Kriegszeit sich Namen, Geltung und un¬
gebundene Eristenz zu erringen strebten. Gleichzeitig begann allmälig die
deutsche Dichtung aufzublühn, und Frischlin versuchte sich nicht ohne Anlage
auch auf diesem Gebiet; aber er war zu sehr Philolog, um nicht das glänzende
Geschäft einer classischen Nachbildung der großen lateinischen Dichter dem müh¬
samen einer Arbeit auf ungcebneten Wegen vorzuziehen.

Nicodemus Frischlin wurde 13i7 in Tübingen geboren und schon 1568
wurde ihm die leelio povlioes auf der Universität Tübingen übertragen. Er
suchte die Formen der lateinischen Poesie, namentlich des Nirgil, den er für
den größten Dichter hielt, beizubehalten, dagegen christliche Ideen in dieselben
einzuführen, wobei es ihm denn doch wol zuweilen unbewußt begegnete, daß
der Humanismus über das Christenthum den Sieg davontrug. Sein Haupt¬
geschäft bestand theils in Paraphrasen d. h. in Uebertragungen aus der schwer
verständlichen poetischen Sprache in das allgemein geläufige prosaische Latein,
theils in Disputationen, in denen er die Schüler zu eigner Thätigkeit anzu¬
regen suchte. Seine Arbeitskraft und seine Wirksamkeit war groß; aber die
freie Art, in der er sich über seine College» äußerte, erregte bald die allgemeine
Unzufriedenheit derselben; namentlich stellte sich der Professor Crusius, ein
ttockner, boshafter Pedant, an die Spitze seiner Gegner und ging bald in
seinem Haß so weit, daß er darüber ein förmliches Tagebuch führte. Frisch¬
lins Gehalt war klein; er hatte sich früh verheirathet und mußte bald eine
zahlreiche Familie versorgen, allein die Mißgunst des Senats schnitt ihm jede
Beförderung ab. Man warf ihm vor, er sei dem Trunk ergeben, und freilich
bekannte Frischlin, „daß er lieber Wein, dann Bier und Wasser trinke, über¬
komme auch bessere spiritus vitales und postioos von dem Wein, dann von
Bier oder Wasser, aber was thue das, wenn er und andere Poeten bisweilen
einen starken Trunk, ohne Versäumnis) ihres Amts, act rot^Llionizm inAenii
thue? Geistlichen Würdenträgern, Juristen, Aerzten, stehen strenge Sitten an:
von einem freien und freimüthigen Dichter dürfe man nicht Gleiches fordern." —


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[0131] kirchlichen Interesse wieder frei zu machen. Zu einer wirklichen Neubildung kam es auch auf diesem Gebiete nicht. Die bessern Köpfe suchten die neuesten grammatischen und kritischen Forschungen der Nachbarvölker für Deutschland fruchtbar zu machen, das sie in seinem theologischen Eifer außer Acht gelassen hatte. Frischlin erscheint als Epigone der großen Humanisten des 15. uno des beginnenden-I K. Jahrhunderts, deren Streben weniger auf historisch-kritische Erforschung, als auf praktische Aneignung der alten Sprachen, -auf verständige Auslegung und künstliche Nachbildung der classischen Sprachdenkmale gerichtet war. In seinem rcnommistischen Selbstgefühl dagegen, seiner unbändigen Rauflust, seinem glücksrittcrlichen Wandern und Dienstwcchseln spukt schon etwas von der Art jener kühnen Abenteurer vor, die in der Entfesselung aller Kräfte während einer dreißigjährigen Kriegszeit sich Namen, Geltung und un¬ gebundene Eristenz zu erringen strebten. Gleichzeitig begann allmälig die deutsche Dichtung aufzublühn, und Frischlin versuchte sich nicht ohne Anlage auch auf diesem Gebiet; aber er war zu sehr Philolog, um nicht das glänzende Geschäft einer classischen Nachbildung der großen lateinischen Dichter dem müh¬ samen einer Arbeit auf ungcebneten Wegen vorzuziehen. Nicodemus Frischlin wurde 13i7 in Tübingen geboren und schon 1568 wurde ihm die leelio povlioes auf der Universität Tübingen übertragen. Er suchte die Formen der lateinischen Poesie, namentlich des Nirgil, den er für den größten Dichter hielt, beizubehalten, dagegen christliche Ideen in dieselben einzuführen, wobei es ihm denn doch wol zuweilen unbewußt begegnete, daß der Humanismus über das Christenthum den Sieg davontrug. Sein Haupt¬ geschäft bestand theils in Paraphrasen d. h. in Uebertragungen aus der schwer verständlichen poetischen Sprache in das allgemein geläufige prosaische Latein, theils in Disputationen, in denen er die Schüler zu eigner Thätigkeit anzu¬ regen suchte. Seine Arbeitskraft und seine Wirksamkeit war groß; aber die freie Art, in der er sich über seine College» äußerte, erregte bald die allgemeine Unzufriedenheit derselben; namentlich stellte sich der Professor Crusius, ein ttockner, boshafter Pedant, an die Spitze seiner Gegner und ging bald in seinem Haß so weit, daß er darüber ein förmliches Tagebuch führte. Frisch¬ lins Gehalt war klein; er hatte sich früh verheirathet und mußte bald eine zahlreiche Familie versorgen, allein die Mißgunst des Senats schnitt ihm jede Beförderung ab. Man warf ihm vor, er sei dem Trunk ergeben, und freilich bekannte Frischlin, „daß er lieber Wein, dann Bier und Wasser trinke, über¬ komme auch bessere spiritus vitales und postioos von dem Wein, dann von Bier oder Wasser, aber was thue das, wenn er und andere Poeten bisweilen einen starken Trunk, ohne Versäumnis) ihres Amts, act rot^Llionizm inAenii thue? Geistlichen Würdenträgern, Juristen, Aerzten, stehen strenge Sitten an: von einem freien und freimüthigen Dichter dürfe man nicht Gleiches fordern." — 16*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/131>, abgerufen am 23.07.2024.