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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Charaktere des sechzehnten Jahrhunderts.
i.
Nicodemus Frischlin.

Leben und Schriften des Dichters und Philologen Nicodemus Frischlin. Ein
Beitrag zur deutschen Culturgeschichte in der zweiten Hälfte des sechzehn¬
ten Jahrhunderts. Von David Strauß. Frankfurt a. M., literarische
Anstalt. --

"Wenn der Inhalt und Verlauf eines Menschenlebens bedingt ist durch
Beschaffenheit und Maß der dem Einzelnen inwohnenden Kraft und durch
ihr Verhältniß zu den umgebenden Kräften, in deren Wechselspiele sie sich
entwickelt, Zielpunkte empfängt, Förderung und Hemmung erfährt, endlich ent¬
weder siegreich sich ansieht, oder kämpfend zerbricht, oder auch gegenstandlos
verkümmert: so hängt der allgemeine Charakter, die Stimmung und gleichsam
die Beleuchtung eines Lebensbildes am meisten davon ab, ob es einer auf-
oder absteigenden Geschichtsperiode, einer Zeit des Werdens oder des Verfalles
angehört. So durchdringt alle bedeutenden deutschen Lebensläufe von der
Mitte des Is. bis in den Anfang des l 6, Jahrhunderts hinein, das Ahnungs¬
volle, Hoffnungsreiche, die Werdelust einer sich erneuernden Zeit; die Persön¬
lichkeiten zeigen sich ergriffen und getragen von den Ideen des Humanismus,
der Reformaiion, zum Theil auch der politischen Reform; und wenn es an
Eigenheit und Eigeuwilligkeit und dadurch an Trübung der Idee keineswegs
fehlt, so verharren doch die Individuen in ihrem Dienste, bleiben objective
Naturen, deren Betrachtung selbst bei tragischen Ausgang, wie Huttens, doch
immer erhebend, ja erfreulich wirkt. Nun pflegen aber gegen das Ende einer
solchen Periode die Ideen matt zu werden, während der Nachwuchs von In¬
dividuen mit frischer Kraft und aus der Schule einer großen Zeit mit un¬
gewöhnlicher Ausstattung an Kenntnissen und Fertigkeiten herankommt: jetzt ent¬
zieht sich der begabte Einzelne dem Dienst der Idee, gebraucht sie wol gar als
Werkzeug zu persönlichen Zwecken, indem er seine Kraft, Klugheit, Gelehrsam¬
keit zur Geltung und Herrschaft zu bringen, oder auch in der Ausbildung
seiner Besonderheit, Verfolgung seiner Einfälle und Grillen, eine subjeciive
Befriedigung sucht."


Grenzvvten. I. t8!is. 1K
Charaktere des sechzehnten Jahrhunderts.
i.
Nicodemus Frischlin.

Leben und Schriften des Dichters und Philologen Nicodemus Frischlin. Ein
Beitrag zur deutschen Culturgeschichte in der zweiten Hälfte des sechzehn¬
ten Jahrhunderts. Von David Strauß. Frankfurt a. M., literarische
Anstalt. —

„Wenn der Inhalt und Verlauf eines Menschenlebens bedingt ist durch
Beschaffenheit und Maß der dem Einzelnen inwohnenden Kraft und durch
ihr Verhältniß zu den umgebenden Kräften, in deren Wechselspiele sie sich
entwickelt, Zielpunkte empfängt, Förderung und Hemmung erfährt, endlich ent¬
weder siegreich sich ansieht, oder kämpfend zerbricht, oder auch gegenstandlos
verkümmert: so hängt der allgemeine Charakter, die Stimmung und gleichsam
die Beleuchtung eines Lebensbildes am meisten davon ab, ob es einer auf-
oder absteigenden Geschichtsperiode, einer Zeit des Werdens oder des Verfalles
angehört. So durchdringt alle bedeutenden deutschen Lebensläufe von der
Mitte des Is. bis in den Anfang des l 6, Jahrhunderts hinein, das Ahnungs¬
volle, Hoffnungsreiche, die Werdelust einer sich erneuernden Zeit; die Persön¬
lichkeiten zeigen sich ergriffen und getragen von den Ideen des Humanismus,
der Reformaiion, zum Theil auch der politischen Reform; und wenn es an
Eigenheit und Eigeuwilligkeit und dadurch an Trübung der Idee keineswegs
fehlt, so verharren doch die Individuen in ihrem Dienste, bleiben objective
Naturen, deren Betrachtung selbst bei tragischen Ausgang, wie Huttens, doch
immer erhebend, ja erfreulich wirkt. Nun pflegen aber gegen das Ende einer
solchen Periode die Ideen matt zu werden, während der Nachwuchs von In¬
dividuen mit frischer Kraft und aus der Schule einer großen Zeit mit un¬
gewöhnlicher Ausstattung an Kenntnissen und Fertigkeiten herankommt: jetzt ent¬
zieht sich der begabte Einzelne dem Dienst der Idee, gebraucht sie wol gar als
Werkzeug zu persönlichen Zwecken, indem er seine Kraft, Klugheit, Gelehrsam¬
keit zur Geltung und Herrschaft zu bringen, oder auch in der Ausbildung
seiner Besonderheit, Verfolgung seiner Einfälle und Grillen, eine subjeciive
Befriedigung sucht."


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[0129] Charaktere des sechzehnten Jahrhunderts. i. Nicodemus Frischlin. Leben und Schriften des Dichters und Philologen Nicodemus Frischlin. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte in der zweiten Hälfte des sechzehn¬ ten Jahrhunderts. Von David Strauß. Frankfurt a. M., literarische Anstalt. — „Wenn der Inhalt und Verlauf eines Menschenlebens bedingt ist durch Beschaffenheit und Maß der dem Einzelnen inwohnenden Kraft und durch ihr Verhältniß zu den umgebenden Kräften, in deren Wechselspiele sie sich entwickelt, Zielpunkte empfängt, Förderung und Hemmung erfährt, endlich ent¬ weder siegreich sich ansieht, oder kämpfend zerbricht, oder auch gegenstandlos verkümmert: so hängt der allgemeine Charakter, die Stimmung und gleichsam die Beleuchtung eines Lebensbildes am meisten davon ab, ob es einer auf- oder absteigenden Geschichtsperiode, einer Zeit des Werdens oder des Verfalles angehört. So durchdringt alle bedeutenden deutschen Lebensläufe von der Mitte des Is. bis in den Anfang des l 6, Jahrhunderts hinein, das Ahnungs¬ volle, Hoffnungsreiche, die Werdelust einer sich erneuernden Zeit; die Persön¬ lichkeiten zeigen sich ergriffen und getragen von den Ideen des Humanismus, der Reformaiion, zum Theil auch der politischen Reform; und wenn es an Eigenheit und Eigeuwilligkeit und dadurch an Trübung der Idee keineswegs fehlt, so verharren doch die Individuen in ihrem Dienste, bleiben objective Naturen, deren Betrachtung selbst bei tragischen Ausgang, wie Huttens, doch immer erhebend, ja erfreulich wirkt. Nun pflegen aber gegen das Ende einer solchen Periode die Ideen matt zu werden, während der Nachwuchs von In¬ dividuen mit frischer Kraft und aus der Schule einer großen Zeit mit un¬ gewöhnlicher Ausstattung an Kenntnissen und Fertigkeiten herankommt: jetzt ent¬ zieht sich der begabte Einzelne dem Dienst der Idee, gebraucht sie wol gar als Werkzeug zu persönlichen Zwecken, indem er seine Kraft, Klugheit, Gelehrsam¬ keit zur Geltung und Herrschaft zu bringen, oder auch in der Ausbildung seiner Besonderheit, Verfolgung seiner Einfälle und Grillen, eine subjeciive Befriedigung sucht." Grenzvvten. I. t8!is. 1K

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/129>, abgerufen am 23.07.2024.