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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Wenn in seiner Seele die idealen Typen fertig waren, so suchte er nach Mo¬
dellen in der Wirklichkeit und häufte massenhafte Beobachtungen zusammen,
aber es gelang ihm nur selten, sie zu einer organischen Bildung zu krystalli-
siren. Nun wird zwar jeder Dichter seine Gestalten durch das innere Medium
seines Lebens anschauen, er wird in ihnen nur die Saiten ertönen lassen, die
in seinem Innern wiederklingen, es kommt eben darauf an, daß die Harmonie
seines Innern reich genug ist. Aber bei Jean Paul war der Umfang des
Seelenlebens, so excentrisch es zuweilen aussah, gering, und daher die Lebens-
formen, die er zur Gestaltung brachte, Dürftig und einförmig.

In Victor und Siebenkäs hat er die Totalität seiner Natur geschildert,
mit all den innern Widersprüchen, deren Auflösung er dem guten Willen des
Lesers überließ. Dann veranlaßte ihn das Gefühl dieser Widersprüche, seinen
eignen Charakter in seine Grundbestandteile aufzulösen und jedem einzelnen eine
gesonderte Gestalt zu geben. Zunächst wurde er zwei äußerste Pole in seiner Natur
gewahr, die ätherische, ins Blau hinausstrebende Schwärmerei einer der Welt
nicht angehörigen reinen Seele und den Cynismus einer starken Natur, welche
die Welt verachtet, weil sie in ihr nichts Ideales,, nichts Erhabenes findet
und mit ihr ein humoristisches Spiel treibt. Die erste Reihe versinnlichen uus
Emanuel, der Pietist und der nachmalige Spener; der Typus der zweiten
Reihe ist Schoppe, der humoristische Philosoph, der die Welt für ein Narren¬
haus ansieht, weil er keinen Glauben hat, der mit dem Leben spielt, weil er
keinen Inhalt darin findet, der die ideale Stimmung seines Gemüths, weil
ihr in der Außenwelt nichts entspricht, in schneidende Dissonanz verkehrt und
der seinen Namen oder im Grunde seine ganze Persönlichkeit so häufig ver¬
tauscht, daß er zuletzt an seiner Identität zweifelt, daß ihm sein Ich gespenstisch
gegenübertritt und daß er im Wahnsinn endet. Man hat aus Schoppe eine neue
Theorie des Humors hergeleitet, wie aus Lucinde eine neue Form der Ironie, aber
beides möchte gleichmäßig krankhaft sein. Der echte Humor geht aus einer
freudigen Natur hervor, der die Gegenstände in übermüthigem Spiel entgegen¬
springen, während dieser sauersüße Humor, der nie im Stande ist, die gegen¬
ständliche Welt durch eine poetische Stimmung zu verklären, unsre Seele in die
Bande des rohsten Zufalls verstrickt. In den meisten der komischen Figuren
Jean Pauls erkennt man bald einen aus dem Abstrakten ins Concrete, aus
dem Grenzenlosen ins Bestimmte übersetzten Schoppe. Sie haben zwar sehr
starke moralische Empfindungen, aber der Regulator dieser Empfindungen, das
Gewissen, scheint ihnen vollständig verloren gegangen zu sein. Was Schoppe
eigentlich ist, enthüllt uns Katzenberger. Der erhabene, die Welt vernichtende
Humor des erster,, ist nichts, als die Freude an der Mißgeburt und der
angeborne Cynismus der Seele, den der zweite mit so großem Behagen
entwickelt.


Wenn in seiner Seele die idealen Typen fertig waren, so suchte er nach Mo¬
dellen in der Wirklichkeit und häufte massenhafte Beobachtungen zusammen,
aber es gelang ihm nur selten, sie zu einer organischen Bildung zu krystalli-
siren. Nun wird zwar jeder Dichter seine Gestalten durch das innere Medium
seines Lebens anschauen, er wird in ihnen nur die Saiten ertönen lassen, die
in seinem Innern wiederklingen, es kommt eben darauf an, daß die Harmonie
seines Innern reich genug ist. Aber bei Jean Paul war der Umfang des
Seelenlebens, so excentrisch es zuweilen aussah, gering, und daher die Lebens-
formen, die er zur Gestaltung brachte, Dürftig und einförmig.

In Victor und Siebenkäs hat er die Totalität seiner Natur geschildert,
mit all den innern Widersprüchen, deren Auflösung er dem guten Willen des
Lesers überließ. Dann veranlaßte ihn das Gefühl dieser Widersprüche, seinen
eignen Charakter in seine Grundbestandteile aufzulösen und jedem einzelnen eine
gesonderte Gestalt zu geben. Zunächst wurde er zwei äußerste Pole in seiner Natur
gewahr, die ätherische, ins Blau hinausstrebende Schwärmerei einer der Welt
nicht angehörigen reinen Seele und den Cynismus einer starken Natur, welche
die Welt verachtet, weil sie in ihr nichts Ideales,, nichts Erhabenes findet
und mit ihr ein humoristisches Spiel treibt. Die erste Reihe versinnlichen uus
Emanuel, der Pietist und der nachmalige Spener; der Typus der zweiten
Reihe ist Schoppe, der humoristische Philosoph, der die Welt für ein Narren¬
haus ansieht, weil er keinen Glauben hat, der mit dem Leben spielt, weil er
keinen Inhalt darin findet, der die ideale Stimmung seines Gemüths, weil
ihr in der Außenwelt nichts entspricht, in schneidende Dissonanz verkehrt und
der seinen Namen oder im Grunde seine ganze Persönlichkeit so häufig ver¬
tauscht, daß er zuletzt an seiner Identität zweifelt, daß ihm sein Ich gespenstisch
gegenübertritt und daß er im Wahnsinn endet. Man hat aus Schoppe eine neue
Theorie des Humors hergeleitet, wie aus Lucinde eine neue Form der Ironie, aber
beides möchte gleichmäßig krankhaft sein. Der echte Humor geht aus einer
freudigen Natur hervor, der die Gegenstände in übermüthigem Spiel entgegen¬
springen, während dieser sauersüße Humor, der nie im Stande ist, die gegen¬
ständliche Welt durch eine poetische Stimmung zu verklären, unsre Seele in die
Bande des rohsten Zufalls verstrickt. In den meisten der komischen Figuren
Jean Pauls erkennt man bald einen aus dem Abstrakten ins Concrete, aus
dem Grenzenlosen ins Bestimmte übersetzten Schoppe. Sie haben zwar sehr
starke moralische Empfindungen, aber der Regulator dieser Empfindungen, das
Gewissen, scheint ihnen vollständig verloren gegangen zu sein. Was Schoppe
eigentlich ist, enthüllt uns Katzenberger. Der erhabene, die Welt vernichtende
Humor des erster,, ist nichts, als die Freude an der Mißgeburt und der
angeborne Cynismus der Seele, den der zweite mit so großem Behagen
entwickelt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/95>, abgerufen am 24.07.2024.