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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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lyrischen Partien an moderner Kraft und Wärme des Gefühls fehlt; am
meisten Interesse hat noch Kam für uns, in dessen Brust die Leidenschaften
sich zu höheren Wogen aufthürmen. Im Ganzen überwiegt eine didaktisch
moralische Stimmung, mit der keine Art von Kunst sonderliches ausrichten
kann. So waren dem Componisten überall die Flügel beschnitten; nur hier
und da, namentlich im zweiten Theil des lang ausgedehnten Werkes, ragen
mächtigere Gipfel hervor, die ihren Eindruck auf die Zuhörer nicht verfehlten. --
In ähnlicher Weise verhielt es sich mit der Dido von Bernhard Klein, einer
Oper freilich, die vor vielen Jahren auf der Bühne ohne Erfolg gegeben,
dies Mal in einem Concert zur Aufführung kam. Auch hier herrschte edle
Haltung, ernster und würdiger Ausdruck. Aber der damals noch jugendliche
Componist schloß sich zu eng an das Vorbild Glucks an. Die Dido war eine
ihm gewiß sehr lehrreiche Studie, doch können wir keinen Grund entdecken,
der ihre jüngste Wiederaufführung rechtfertigte. Schließlich sei noch einer
Aufführung der Walpurgisnacht von Mendelssohn im Opernhause erwähnt,
zu der sich die Singakademie, der Sternsche und Jähnssche Verein und die
k. Kapelle vereinigt hatten. Das Werk selbst ist in Berlin noch nicht so
bekannt und beliebt, als es sein sollte; es enthält fast alle Richtungen, in
denen Mendelssohn sich auszeichnete, zu schöner Harmonie in sich vereinigt: das
gemüthvoll Lyrische, das feierlich Erhabne, das Romantische und Feenhafte;
darum ist es aber durchaus nicht eine Wiederholung oder Abschwächung des
bereits sonst Bekannten, es ist frisch in der Erfindung, anmuthig und reizvoll
in der Ausführung. Es waren wol nahe an 600 Sänger, die dies Mal dabei
mitwirkten, eine für den Charakter der Composition eigentlich viel zu große
Auzahl; dazu kam eine ungünstige Aufstellung, ungleichmäßige Einübung, und
so war denn der Eindruck kein vollständig befriedigender. Man hörte namentlich
von den Männerstimmen wenig; Unsicherheit und Verwirrung blieb ebenfalls
nicht aus, und man erhielt von neuem den Beweis, daß Verstärkung der
Massen nicht immer eine Verstärkung der Wirkung ist.

Ich knüpfe an den Bericht über die Thätigkeit der größeren Singvereine
eine kurze Mittheilung über verschiedene Männer- und Frau c n gesang-
ve reine an. Der Männergesang hat in Berlin niemals sich zu großer Be¬
deutung erhoben. Zwar ist die erste Liedertafel, die Zeltersche, hier entstanden;
andere sind nachgefolgt, und noch vor wenigen Jahren ist eine neue gegründet
worden, die, bis vor kurzem unter der Leitung Truhns, jetzt unter Dorn, wol
die meisten Mitglieder zählt; im Vergleich zu der Größe Berlins hat sich aber
nie ein besonderes Interesse dafür gezeigt. Wir sind damit vollständig einver¬
standen; denn die übermäßige Cultur dieses in bescheidenen Grenzen ganz
achtbaren Zweiges der Musik bringt den Stimmen und dem musikalischen Ge¬
schmack nur Verderben; ^die weichlichen und die wüsten Elemente überwiegen


lyrischen Partien an moderner Kraft und Wärme des Gefühls fehlt; am
meisten Interesse hat noch Kam für uns, in dessen Brust die Leidenschaften
sich zu höheren Wogen aufthürmen. Im Ganzen überwiegt eine didaktisch
moralische Stimmung, mit der keine Art von Kunst sonderliches ausrichten
kann. So waren dem Componisten überall die Flügel beschnitten; nur hier
und da, namentlich im zweiten Theil des lang ausgedehnten Werkes, ragen
mächtigere Gipfel hervor, die ihren Eindruck auf die Zuhörer nicht verfehlten. —
In ähnlicher Weise verhielt es sich mit der Dido von Bernhard Klein, einer
Oper freilich, die vor vielen Jahren auf der Bühne ohne Erfolg gegeben,
dies Mal in einem Concert zur Aufführung kam. Auch hier herrschte edle
Haltung, ernster und würdiger Ausdruck. Aber der damals noch jugendliche
Componist schloß sich zu eng an das Vorbild Glucks an. Die Dido war eine
ihm gewiß sehr lehrreiche Studie, doch können wir keinen Grund entdecken,
der ihre jüngste Wiederaufführung rechtfertigte. Schließlich sei noch einer
Aufführung der Walpurgisnacht von Mendelssohn im Opernhause erwähnt,
zu der sich die Singakademie, der Sternsche und Jähnssche Verein und die
k. Kapelle vereinigt hatten. Das Werk selbst ist in Berlin noch nicht so
bekannt und beliebt, als es sein sollte; es enthält fast alle Richtungen, in
denen Mendelssohn sich auszeichnete, zu schöner Harmonie in sich vereinigt: das
gemüthvoll Lyrische, das feierlich Erhabne, das Romantische und Feenhafte;
darum ist es aber durchaus nicht eine Wiederholung oder Abschwächung des
bereits sonst Bekannten, es ist frisch in der Erfindung, anmuthig und reizvoll
in der Ausführung. Es waren wol nahe an 600 Sänger, die dies Mal dabei
mitwirkten, eine für den Charakter der Composition eigentlich viel zu große
Auzahl; dazu kam eine ungünstige Aufstellung, ungleichmäßige Einübung, und
so war denn der Eindruck kein vollständig befriedigender. Man hörte namentlich
von den Männerstimmen wenig; Unsicherheit und Verwirrung blieb ebenfalls
nicht aus, und man erhielt von neuem den Beweis, daß Verstärkung der
Massen nicht immer eine Verstärkung der Wirkung ist.

Ich knüpfe an den Bericht über die Thätigkeit der größeren Singvereine
eine kurze Mittheilung über verschiedene Männer- und Frau c n gesang-
ve reine an. Der Männergesang hat in Berlin niemals sich zu großer Be¬
deutung erhoben. Zwar ist die erste Liedertafel, die Zeltersche, hier entstanden;
andere sind nachgefolgt, und noch vor wenigen Jahren ist eine neue gegründet
worden, die, bis vor kurzem unter der Leitung Truhns, jetzt unter Dorn, wol
die meisten Mitglieder zählt; im Vergleich zu der Größe Berlins hat sich aber
nie ein besonderes Interesse dafür gezeigt. Wir sind damit vollständig einver¬
standen; denn die übermäßige Cultur dieses in bescheidenen Grenzen ganz
achtbaren Zweiges der Musik bringt den Stimmen und dem musikalischen Ge¬
schmack nur Verderben; ^die weichlichen und die wüsten Elemente überwiegen


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[0506] lyrischen Partien an moderner Kraft und Wärme des Gefühls fehlt; am meisten Interesse hat noch Kam für uns, in dessen Brust die Leidenschaften sich zu höheren Wogen aufthürmen. Im Ganzen überwiegt eine didaktisch moralische Stimmung, mit der keine Art von Kunst sonderliches ausrichten kann. So waren dem Componisten überall die Flügel beschnitten; nur hier und da, namentlich im zweiten Theil des lang ausgedehnten Werkes, ragen mächtigere Gipfel hervor, die ihren Eindruck auf die Zuhörer nicht verfehlten. — In ähnlicher Weise verhielt es sich mit der Dido von Bernhard Klein, einer Oper freilich, die vor vielen Jahren auf der Bühne ohne Erfolg gegeben, dies Mal in einem Concert zur Aufführung kam. Auch hier herrschte edle Haltung, ernster und würdiger Ausdruck. Aber der damals noch jugendliche Componist schloß sich zu eng an das Vorbild Glucks an. Die Dido war eine ihm gewiß sehr lehrreiche Studie, doch können wir keinen Grund entdecken, der ihre jüngste Wiederaufführung rechtfertigte. Schließlich sei noch einer Aufführung der Walpurgisnacht von Mendelssohn im Opernhause erwähnt, zu der sich die Singakademie, der Sternsche und Jähnssche Verein und die k. Kapelle vereinigt hatten. Das Werk selbst ist in Berlin noch nicht so bekannt und beliebt, als es sein sollte; es enthält fast alle Richtungen, in denen Mendelssohn sich auszeichnete, zu schöner Harmonie in sich vereinigt: das gemüthvoll Lyrische, das feierlich Erhabne, das Romantische und Feenhafte; darum ist es aber durchaus nicht eine Wiederholung oder Abschwächung des bereits sonst Bekannten, es ist frisch in der Erfindung, anmuthig und reizvoll in der Ausführung. Es waren wol nahe an 600 Sänger, die dies Mal dabei mitwirkten, eine für den Charakter der Composition eigentlich viel zu große Auzahl; dazu kam eine ungünstige Aufstellung, ungleichmäßige Einübung, und so war denn der Eindruck kein vollständig befriedigender. Man hörte namentlich von den Männerstimmen wenig; Unsicherheit und Verwirrung blieb ebenfalls nicht aus, und man erhielt von neuem den Beweis, daß Verstärkung der Massen nicht immer eine Verstärkung der Wirkung ist. Ich knüpfe an den Bericht über die Thätigkeit der größeren Singvereine eine kurze Mittheilung über verschiedene Männer- und Frau c n gesang- ve reine an. Der Männergesang hat in Berlin niemals sich zu großer Be¬ deutung erhoben. Zwar ist die erste Liedertafel, die Zeltersche, hier entstanden; andere sind nachgefolgt, und noch vor wenigen Jahren ist eine neue gegründet worden, die, bis vor kurzem unter der Leitung Truhns, jetzt unter Dorn, wol die meisten Mitglieder zählt; im Vergleich zu der Größe Berlins hat sich aber nie ein besonderes Interesse dafür gezeigt. Wir sind damit vollständig einver¬ standen; denn die übermäßige Cultur dieses in bescheidenen Grenzen ganz achtbaren Zweiges der Musik bringt den Stimmen und dem musikalischen Ge¬ schmack nur Verderben; ^die weichlichen und die wüsten Elemente überwiegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/506>, abgerufen am 22.12.2024.