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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Sterns Bemühungen neuerdings in den Vordergrund getreten ist. Namentlich
mit Begleitung der Orgel macht das Werk einen majestätischen Eindruck, in
formeller Vollendung steht es indeß anderen, vorzugsweise dem Messias, nach.
In der Ausführung Händelscher Solopartien steht Krause oben an, dessen
markiges und doch weiches Organ und männlich-würdige Vortragsweise dafür
wie geschaffen sind. -- Bachs Matthäus-Passion hatte ein viel größeres Pu-
blicum versammelt, als jemals früher. Wir glauben deshalb aber durchaus
nicht, daß überhaupt die Empfänglichkeit für das Werk im Zunehmen begriffen
sei; die Empfindungsweise Bachs, die in der inneren Verarbeitung der man¬
nigfaltigsten Tonelcmente zu jeder Form des Ausdrucks ihre Befriedigung fand,
setzt Zuhörer voraus, die eine ungewöhnliche Geisteskraft besitzen. Für das
allgemeine Verständniß sind Bachs Werke viel zu sehr individualisirt, sie er¬
zeugen durch Hindernisse aller Art den Genuß; sie drängen in einen Augen¬
blick, wenn man ihnen folgen will, eine ungleich größere Zahl von Vor¬
stellungen zusammen, als unsere Phantasie in andern Tonwerken in sich aus¬
nimmt ; sie werden daher immer der musikalischen Aristokratie angehörig bleiben,
die sich zufrieden geben kann, wenn die Zahl ihrer Anhänger so wächst, daß
öffentliche Aufführungen sich möglich machen lassen. Daß übrigens in Berlin
seit längerer Zeit fast alljährlich die Matthäus-Passion ihr Publicum findet,
auch kleinere seiner Werke, Motetten, Sonaten, Fugen ab und zu öffentlich
aufgeführt werden, ist wenigstens ein Zeichen, daß ernste und eindringende
Musikbildung in Berlin ebenfalls zu Hause ist. Freilich genügt dies noch nicht;
eine große Anzahl vorzüglicher Bachscher Kompositionen liegt noch vergraben,
nur dem innern Ohr des Partiturleserö zugänglich; der Singakademie, dem
Sternsehen Verein und namentlich dem Domchor, unsern Clavier- und Violin¬
virtuosen bleibt hier noch eine reiche Nachlese; anzuerkennen sind auch die
Bemühungen des Wendelschen Vereins, der zwei von den neu herausgegebenen
Bachschen Cantaten aufführte. Was die Ausführung der Matthäus-Passion
betrifft, so hat die Singakademie namentlich in den letzten beiden Jahren in
den Chören noch viele Fortschritte gemacht; außer der Correctheit derselben
war namentlich der frische, lebendige Vortrag sehr erfreulich. Den Evangelisten
singt Martius noch immer ausgezeichnet durch Adel der Bildung und eine
stets klar verständige, nur an geeigneten Stellen sich zum Pathos erhebende
Darstellung, wie es der Charakter der evangelistischen Erzählung mit sich bringt-
Nicht ganz so zufrieden sind wir mit der Auffassung des Christus von Krause,
sein Vortrag ist uns hier zu bieder und natürlich, um nicht zu sagen spie߬
bürgerlich; könnte er dem Klang deö Organs eine etwas übersinnliche, trans¬
scendente Färbung geben, in den Vortrag einen Anflug von Mystik hinein¬
bringen, so würde er den Sinn Bachs verständlicher machen. Im Uebrigen
wechselt die Besetzung der Solopartien und befriedigt bald mehr bald weniger.


Sterns Bemühungen neuerdings in den Vordergrund getreten ist. Namentlich
mit Begleitung der Orgel macht das Werk einen majestätischen Eindruck, in
formeller Vollendung steht es indeß anderen, vorzugsweise dem Messias, nach.
In der Ausführung Händelscher Solopartien steht Krause oben an, dessen
markiges und doch weiches Organ und männlich-würdige Vortragsweise dafür
wie geschaffen sind. — Bachs Matthäus-Passion hatte ein viel größeres Pu-
blicum versammelt, als jemals früher. Wir glauben deshalb aber durchaus
nicht, daß überhaupt die Empfänglichkeit für das Werk im Zunehmen begriffen
sei; die Empfindungsweise Bachs, die in der inneren Verarbeitung der man¬
nigfaltigsten Tonelcmente zu jeder Form des Ausdrucks ihre Befriedigung fand,
setzt Zuhörer voraus, die eine ungewöhnliche Geisteskraft besitzen. Für das
allgemeine Verständniß sind Bachs Werke viel zu sehr individualisirt, sie er¬
zeugen durch Hindernisse aller Art den Genuß; sie drängen in einen Augen¬
blick, wenn man ihnen folgen will, eine ungleich größere Zahl von Vor¬
stellungen zusammen, als unsere Phantasie in andern Tonwerken in sich aus¬
nimmt ; sie werden daher immer der musikalischen Aristokratie angehörig bleiben,
die sich zufrieden geben kann, wenn die Zahl ihrer Anhänger so wächst, daß
öffentliche Aufführungen sich möglich machen lassen. Daß übrigens in Berlin
seit längerer Zeit fast alljährlich die Matthäus-Passion ihr Publicum findet,
auch kleinere seiner Werke, Motetten, Sonaten, Fugen ab und zu öffentlich
aufgeführt werden, ist wenigstens ein Zeichen, daß ernste und eindringende
Musikbildung in Berlin ebenfalls zu Hause ist. Freilich genügt dies noch nicht;
eine große Anzahl vorzüglicher Bachscher Kompositionen liegt noch vergraben,
nur dem innern Ohr des Partiturleserö zugänglich; der Singakademie, dem
Sternsehen Verein und namentlich dem Domchor, unsern Clavier- und Violin¬
virtuosen bleibt hier noch eine reiche Nachlese; anzuerkennen sind auch die
Bemühungen des Wendelschen Vereins, der zwei von den neu herausgegebenen
Bachschen Cantaten aufführte. Was die Ausführung der Matthäus-Passion
betrifft, so hat die Singakademie namentlich in den letzten beiden Jahren in
den Chören noch viele Fortschritte gemacht; außer der Correctheit derselben
war namentlich der frische, lebendige Vortrag sehr erfreulich. Den Evangelisten
singt Martius noch immer ausgezeichnet durch Adel der Bildung und eine
stets klar verständige, nur an geeigneten Stellen sich zum Pathos erhebende
Darstellung, wie es der Charakter der evangelistischen Erzählung mit sich bringt-
Nicht ganz so zufrieden sind wir mit der Auffassung des Christus von Krause,
sein Vortrag ist uns hier zu bieder und natürlich, um nicht zu sagen spie߬
bürgerlich; könnte er dem Klang deö Organs eine etwas übersinnliche, trans¬
scendente Färbung geben, in den Vortrag einen Anflug von Mystik hinein¬
bringen, so würde er den Sinn Bachs verständlicher machen. Im Uebrigen
wechselt die Besetzung der Solopartien und befriedigt bald mehr bald weniger.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/502>, abgerufen am 22.07.2024.