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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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der Zeit und die Nothwendigkeit einer regen und eifrigen Theilnahme ein¬
schärfen möchte.




Musikalischer Jahresbericht aus Berlin.
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Wenn ich zu Anfang meines Berichtes über das berliner Musikleben des
verflossenen Jahres erwähne, daß im Laufe desselben in den Hauptzeitungen
etwa dreihundert Concert- und Opernaufführungen ausführlich besprochen wor¬
den sind, so können Sie daraus ersehen, daß der Stoff, über den ich berichten
will, kein geringer ist. Anders sah es vor hundert Jahren in Berlin aus.
Aus jener Zeit hört man von nichts als von italienischen Opern zur Zeit
des Carnevals, von Passionsaufführungen in verschiedenen Kirchen der Stadt
und von wöchentlichen sogenannten Concerten d. l). Musikunterhaltungen
eines Dilettantenvereins, die in einer bescheidenen Privatwohnung stattfanden
und nur einer geringen Zahl von Gästen den Zutritt gestatteten. Die Musik¬
geschichte Berlins ist im Vergleich mit den meisten andern großen Städten
Europas sehr jungen Datums; und heute sehen wir diese Stadt so ziemlich auf
der Höhe des musikalischen Lebens der Zeit.

Freilich fällt es auf, wie spärlich unsre Quartettsoirien besucht sind, wie
selten es vorkommt, daß vorzügliche Concertleistungen in ähnlicher Weise wie
die Opern eine Wiederholung erleben, wie ungenügend die männlichen Stim¬
men sowol im Solo- als Chorgesang in unsern Singvereinen vertreten sind.
Indeß für jemanden, der alles hören will oder muß, für die Recensenten, für
die Musiker, die mit Freibillets gefüttert werden, für diejenigen, die keine
ruhige Nacht haben, wenn sie nicht über alles mitsprechen können, bleibt eine
Ueberfülle von öffentlicher Musik und es freut uns, hinzufügen zu können,
daß der größere Theil davon wirklich hörenswerth war und daß namentlich
der letzte Winter außer dem guten Alten auch eine hervortretende Fülle neuer
Anregungen bot. Beginnen wir unsre Ueberschau mit denjenigen Aufführungen,
die das Fundament alles gesunden Musiklebens bilden, mit den von unsern
größern Gesangvereinen ausgehenden Oratorienaufführungen. Für uns
sind große Oratorienconcerte, namentlich diejenigen, die Händel und Haydn
geschaffen haben, in ethischer Hinsicht etwas Aehnliches, als bei den Alten die
Stücke, die in dorischer Tonart geschrieben waren; sie sind das wahre Bil¬
dungselement der Jugend, weil in ihnen die Anmuth und Lieblichkeit des Me¬
lodischen der Kraft nicht entbehrt, und wiederum, weil die Kraft nicht in rohen
Formen, wie etwa in Schlachtgesängen, Märschen und dergl., sondern
in kunstvoller, polyphoner Entwicklung auftritt. Das Erste und Wichtigste


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der Zeit und die Nothwendigkeit einer regen und eifrigen Theilnahme ein¬
schärfen möchte.




Musikalischer Jahresbericht aus Berlin.
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Wenn ich zu Anfang meines Berichtes über das berliner Musikleben des
verflossenen Jahres erwähne, daß im Laufe desselben in den Hauptzeitungen
etwa dreihundert Concert- und Opernaufführungen ausführlich besprochen wor¬
den sind, so können Sie daraus ersehen, daß der Stoff, über den ich berichten
will, kein geringer ist. Anders sah es vor hundert Jahren in Berlin aus.
Aus jener Zeit hört man von nichts als von italienischen Opern zur Zeit
des Carnevals, von Passionsaufführungen in verschiedenen Kirchen der Stadt
und von wöchentlichen sogenannten Concerten d. l). Musikunterhaltungen
eines Dilettantenvereins, die in einer bescheidenen Privatwohnung stattfanden
und nur einer geringen Zahl von Gästen den Zutritt gestatteten. Die Musik¬
geschichte Berlins ist im Vergleich mit den meisten andern großen Städten
Europas sehr jungen Datums; und heute sehen wir diese Stadt so ziemlich auf
der Höhe des musikalischen Lebens der Zeit.

Freilich fällt es auf, wie spärlich unsre Quartettsoirien besucht sind, wie
selten es vorkommt, daß vorzügliche Concertleistungen in ähnlicher Weise wie
die Opern eine Wiederholung erleben, wie ungenügend die männlichen Stim¬
men sowol im Solo- als Chorgesang in unsern Singvereinen vertreten sind.
Indeß für jemanden, der alles hören will oder muß, für die Recensenten, für
die Musiker, die mit Freibillets gefüttert werden, für diejenigen, die keine
ruhige Nacht haben, wenn sie nicht über alles mitsprechen können, bleibt eine
Ueberfülle von öffentlicher Musik und es freut uns, hinzufügen zu können,
daß der größere Theil davon wirklich hörenswerth war und daß namentlich
der letzte Winter außer dem guten Alten auch eine hervortretende Fülle neuer
Anregungen bot. Beginnen wir unsre Ueberschau mit denjenigen Aufführungen,
die das Fundament alles gesunden Musiklebens bilden, mit den von unsern
größern Gesangvereinen ausgehenden Oratorienaufführungen. Für uns
sind große Oratorienconcerte, namentlich diejenigen, die Händel und Haydn
geschaffen haben, in ethischer Hinsicht etwas Aehnliches, als bei den Alten die
Stücke, die in dorischer Tonart geschrieben waren; sie sind das wahre Bil¬
dungselement der Jugend, weil in ihnen die Anmuth und Lieblichkeit des Me¬
lodischen der Kraft nicht entbehrt, und wiederum, weil die Kraft nicht in rohen
Formen, wie etwa in Schlachtgesängen, Märschen und dergl., sondern
in kunstvoller, polyphoner Entwicklung auftritt. Das Erste und Wichtigste


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[0499] der Zeit und die Nothwendigkeit einer regen und eifrigen Theilnahme ein¬ schärfen möchte. Musikalischer Jahresbericht aus Berlin. <. Wenn ich zu Anfang meines Berichtes über das berliner Musikleben des verflossenen Jahres erwähne, daß im Laufe desselben in den Hauptzeitungen etwa dreihundert Concert- und Opernaufführungen ausführlich besprochen wor¬ den sind, so können Sie daraus ersehen, daß der Stoff, über den ich berichten will, kein geringer ist. Anders sah es vor hundert Jahren in Berlin aus. Aus jener Zeit hört man von nichts als von italienischen Opern zur Zeit des Carnevals, von Passionsaufführungen in verschiedenen Kirchen der Stadt und von wöchentlichen sogenannten Concerten d. l). Musikunterhaltungen eines Dilettantenvereins, die in einer bescheidenen Privatwohnung stattfanden und nur einer geringen Zahl von Gästen den Zutritt gestatteten. Die Musik¬ geschichte Berlins ist im Vergleich mit den meisten andern großen Städten Europas sehr jungen Datums; und heute sehen wir diese Stadt so ziemlich auf der Höhe des musikalischen Lebens der Zeit. Freilich fällt es auf, wie spärlich unsre Quartettsoirien besucht sind, wie selten es vorkommt, daß vorzügliche Concertleistungen in ähnlicher Weise wie die Opern eine Wiederholung erleben, wie ungenügend die männlichen Stim¬ men sowol im Solo- als Chorgesang in unsern Singvereinen vertreten sind. Indeß für jemanden, der alles hören will oder muß, für die Recensenten, für die Musiker, die mit Freibillets gefüttert werden, für diejenigen, die keine ruhige Nacht haben, wenn sie nicht über alles mitsprechen können, bleibt eine Ueberfülle von öffentlicher Musik und es freut uns, hinzufügen zu können, daß der größere Theil davon wirklich hörenswerth war und daß namentlich der letzte Winter außer dem guten Alten auch eine hervortretende Fülle neuer Anregungen bot. Beginnen wir unsre Ueberschau mit denjenigen Aufführungen, die das Fundament alles gesunden Musiklebens bilden, mit den von unsern größern Gesangvereinen ausgehenden Oratorienaufführungen. Für uns sind große Oratorienconcerte, namentlich diejenigen, die Händel und Haydn geschaffen haben, in ethischer Hinsicht etwas Aehnliches, als bei den Alten die Stücke, die in dorischer Tonart geschrieben waren; sie sind das wahre Bil¬ dungselement der Jugend, weil in ihnen die Anmuth und Lieblichkeit des Me¬ lodischen der Kraft nicht entbehrt, und wiederum, weil die Kraft nicht in rohen Formen, wie etwa in Schlachtgesängen, Märschen und dergl., sondern in kunstvoller, polyphoner Entwicklung auftritt. Das Erste und Wichtigste 62*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/499>, abgerufen am 22.07.2024.