Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Ungewöhnliches an und sieben Rubel Silber jährlich ist die gewöhnliche
Loskaufungssumme vom Frohndienst. Daraus sind wir also berechtigt zu
schließen, daß von der ganzen Grundaristokratie Rußlands weniger als 1 "/<,
em Jahreseinkommen von mehr als 3000 Rubel Silber haben und daß
demnach der Nest selbst dieser besonders begünstigten Classe von den ihnen
vom Krieg auferlegten Opfern fast zu Boden gedrückt sein muß, wie es der
weniger bemittelte Bürgerstand in England sein würde, wenn hier dieselben
Verhältnisse bestünden. Die armen Leibeignen selbst aber müssen einer Noth
und einer Entbehrung verfallen, die fast zu schrecklich zu denken ist. Und diese
Leiden müssen in einer gleichen oder fast gleichen Ausdehnung von den kleinen
freien Bauern getragen werden, die nicht weniger zahlreich sind, als die Leib¬
eignen und denen wir jetzt noch einige Worte widmen wollen, da sonst unsere
Einsicht in die materielle Lage der grundbesitzenden Classen Rußlands sehr
unvollständig sein würde.

Nach einem Bericht des russischen Domänenministeriums von 1819 um¬
faßten damals die Kronländereicn die ungeheure Bodenfläche von nicht weniger
als 79,169,100 Dessätinen. Davon bestanden 34,000,000 Dessätinen aus mehr
oder weniger productiven Boden -- Acker-, Wiese- und Weideland -- und
waren unter eine männliche Bevölkerung von 9,333,516 Köpfen vertheilt. Die
Regierung hat immer die Politik verfolgt, die Ablösung der Troika mit Geld
oder Bodenproducten zu begünstigen; dies ist bereits mit fast 8,000,000 Kron¬
bauern geschehen, obgleich im Jahre 1819 in den Gouvernements Minsk,
Kowno, Liefland, Esthland, Kurland, Grodno, Wilna, Mohilew, Kiew, Witebsk,
Volhynien und Podolien immer noch 927,268 übrig waren, die Frohndienst
leisteten. Diese letzteren vermindern sich jedoch fortwährend und die Zahl der
freien Bauern nimmt entsprechend zu, ein Proceß, der durch eine andere, für
Rußland charakteristische Einrichtung beschleunigt wird, nämlich durch die Er¬
richtung von Hypothekenbanken seitens der Regierung, die Geld zu 5 ^ aus-
leihen. Der ursprüngliche Zweck dieser Anstalten ist, dem geldbedürftigen
Grundbesitzer die zur Bodenverbesserung nöthigen Capitalien vorzuschießen;
aber die Neigung der russischen Großen zu einem verschwenderischen Leben
verleitet sie sehr oft, in Se. Petersburg das Geld zu vergeuden, das sie auf
ihre Güter in Taurien oder Saratow geborgt haben. Die Folge davon ist,
daß die Hypothek verfällt, die Krone Besitz von den Gütern des Verschwenders
ergreift, die Leibeignen frei gibt und sie als freie Bauern auf Kronländereien
ansiedelt. Die Capitalien der Bank rühren von Depositen von Privatpersonen
her, die unter Garantie des Staates und gegen 1 "/<> Zinsen schon bei sehr
kleinen Summen ihre Ersparnisse in die Leihkasse niederlegen. So beutet der
Zar die Sparsamkeit der einen Classe seiner Unterthanen und den Leichtsinn
der andern für sich aus, vereinigt allmälig allen Grundbesitz des Landes in


Ungewöhnliches an und sieben Rubel Silber jährlich ist die gewöhnliche
Loskaufungssumme vom Frohndienst. Daraus sind wir also berechtigt zu
schließen, daß von der ganzen Grundaristokratie Rußlands weniger als 1 "/<,
em Jahreseinkommen von mehr als 3000 Rubel Silber haben und daß
demnach der Nest selbst dieser besonders begünstigten Classe von den ihnen
vom Krieg auferlegten Opfern fast zu Boden gedrückt sein muß, wie es der
weniger bemittelte Bürgerstand in England sein würde, wenn hier dieselben
Verhältnisse bestünden. Die armen Leibeignen selbst aber müssen einer Noth
und einer Entbehrung verfallen, die fast zu schrecklich zu denken ist. Und diese
Leiden müssen in einer gleichen oder fast gleichen Ausdehnung von den kleinen
freien Bauern getragen werden, die nicht weniger zahlreich sind, als die Leib¬
eignen und denen wir jetzt noch einige Worte widmen wollen, da sonst unsere
Einsicht in die materielle Lage der grundbesitzenden Classen Rußlands sehr
unvollständig sein würde.

Nach einem Bericht des russischen Domänenministeriums von 1819 um¬
faßten damals die Kronländereicn die ungeheure Bodenfläche von nicht weniger
als 79,169,100 Dessätinen. Davon bestanden 34,000,000 Dessätinen aus mehr
oder weniger productiven Boden — Acker-, Wiese- und Weideland — und
waren unter eine männliche Bevölkerung von 9,333,516 Köpfen vertheilt. Die
Regierung hat immer die Politik verfolgt, die Ablösung der Troika mit Geld
oder Bodenproducten zu begünstigen; dies ist bereits mit fast 8,000,000 Kron¬
bauern geschehen, obgleich im Jahre 1819 in den Gouvernements Minsk,
Kowno, Liefland, Esthland, Kurland, Grodno, Wilna, Mohilew, Kiew, Witebsk,
Volhynien und Podolien immer noch 927,268 übrig waren, die Frohndienst
leisteten. Diese letzteren vermindern sich jedoch fortwährend und die Zahl der
freien Bauern nimmt entsprechend zu, ein Proceß, der durch eine andere, für
Rußland charakteristische Einrichtung beschleunigt wird, nämlich durch die Er¬
richtung von Hypothekenbanken seitens der Regierung, die Geld zu 5 ^ aus-
leihen. Der ursprüngliche Zweck dieser Anstalten ist, dem geldbedürftigen
Grundbesitzer die zur Bodenverbesserung nöthigen Capitalien vorzuschießen;
aber die Neigung der russischen Großen zu einem verschwenderischen Leben
verleitet sie sehr oft, in Se. Petersburg das Geld zu vergeuden, das sie auf
ihre Güter in Taurien oder Saratow geborgt haben. Die Folge davon ist,
daß die Hypothek verfällt, die Krone Besitz von den Gütern des Verschwenders
ergreift, die Leibeignen frei gibt und sie als freie Bauern auf Kronländereien
ansiedelt. Die Capitalien der Bank rühren von Depositen von Privatpersonen
her, die unter Garantie des Staates und gegen 1 "/<> Zinsen schon bei sehr
kleinen Summen ihre Ersparnisse in die Leihkasse niederlegen. So beutet der
Zar die Sparsamkeit der einen Classe seiner Unterthanen und den Leichtsinn
der andern für sich aus, vereinigt allmälig allen Grundbesitz des Landes in


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0477" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100397"/>
          <p xml:id="ID_1364" prev="#ID_1363"> Ungewöhnliches an und sieben Rubel Silber jährlich ist die gewöhnliche<lb/>
Loskaufungssumme vom Frohndienst. Daraus sind wir also berechtigt zu<lb/>
schließen, daß von der ganzen Grundaristokratie Rußlands weniger als 1 "/&lt;,<lb/>
em Jahreseinkommen von mehr als 3000 Rubel Silber haben und daß<lb/>
demnach der Nest selbst dieser besonders begünstigten Classe von den ihnen<lb/>
vom Krieg auferlegten Opfern fast zu Boden gedrückt sein muß, wie es der<lb/>
weniger bemittelte Bürgerstand in England sein würde, wenn hier dieselben<lb/>
Verhältnisse bestünden. Die armen Leibeignen selbst aber müssen einer Noth<lb/>
und einer Entbehrung verfallen, die fast zu schrecklich zu denken ist. Und diese<lb/>
Leiden müssen in einer gleichen oder fast gleichen Ausdehnung von den kleinen<lb/>
freien Bauern getragen werden, die nicht weniger zahlreich sind, als die Leib¬<lb/>
eignen und denen wir jetzt noch einige Worte widmen wollen, da sonst unsere<lb/>
Einsicht in die materielle Lage der grundbesitzenden Classen Rußlands sehr<lb/>
unvollständig sein würde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1365" next="#ID_1366"> Nach einem Bericht des russischen Domänenministeriums von 1819 um¬<lb/>
faßten damals die Kronländereicn die ungeheure Bodenfläche von nicht weniger<lb/>
als 79,169,100 Dessätinen. Davon bestanden 34,000,000 Dessätinen aus mehr<lb/>
oder weniger productiven Boden &#x2014; Acker-, Wiese- und Weideland &#x2014; und<lb/>
waren unter eine männliche Bevölkerung von 9,333,516 Köpfen vertheilt. Die<lb/>
Regierung hat immer die Politik verfolgt, die Ablösung der Troika mit Geld<lb/>
oder Bodenproducten zu begünstigen; dies ist bereits mit fast 8,000,000 Kron¬<lb/>
bauern geschehen, obgleich im Jahre 1819 in den Gouvernements Minsk,<lb/>
Kowno, Liefland, Esthland, Kurland, Grodno, Wilna, Mohilew, Kiew, Witebsk,<lb/>
Volhynien und Podolien immer noch 927,268 übrig waren, die Frohndienst<lb/>
leisteten. Diese letzteren vermindern sich jedoch fortwährend und die Zahl der<lb/>
freien Bauern nimmt entsprechend zu, ein Proceß, der durch eine andere, für<lb/>
Rußland charakteristische Einrichtung beschleunigt wird, nämlich durch die Er¬<lb/>
richtung von Hypothekenbanken seitens der Regierung, die Geld zu 5 ^ aus-<lb/>
leihen. Der ursprüngliche Zweck dieser Anstalten ist, dem geldbedürftigen<lb/>
Grundbesitzer die zur Bodenverbesserung nöthigen Capitalien vorzuschießen;<lb/>
aber die Neigung der russischen Großen zu einem verschwenderischen Leben<lb/>
verleitet sie sehr oft, in Se. Petersburg das Geld zu vergeuden, das sie auf<lb/>
ihre Güter in Taurien oder Saratow geborgt haben. Die Folge davon ist,<lb/>
daß die Hypothek verfällt, die Krone Besitz von den Gütern des Verschwenders<lb/>
ergreift, die Leibeignen frei gibt und sie als freie Bauern auf Kronländereien<lb/>
ansiedelt. Die Capitalien der Bank rühren von Depositen von Privatpersonen<lb/>
her, die unter Garantie des Staates und gegen 1 "/&lt;&gt; Zinsen schon bei sehr<lb/>
kleinen Summen ihre Ersparnisse in die Leihkasse niederlegen. So beutet der<lb/>
Zar die Sparsamkeit der einen Classe seiner Unterthanen und den Leichtsinn<lb/>
der andern für sich aus, vereinigt allmälig allen Grundbesitz des Landes in</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0477] Ungewöhnliches an und sieben Rubel Silber jährlich ist die gewöhnliche Loskaufungssumme vom Frohndienst. Daraus sind wir also berechtigt zu schließen, daß von der ganzen Grundaristokratie Rußlands weniger als 1 "/<, em Jahreseinkommen von mehr als 3000 Rubel Silber haben und daß demnach der Nest selbst dieser besonders begünstigten Classe von den ihnen vom Krieg auferlegten Opfern fast zu Boden gedrückt sein muß, wie es der weniger bemittelte Bürgerstand in England sein würde, wenn hier dieselben Verhältnisse bestünden. Die armen Leibeignen selbst aber müssen einer Noth und einer Entbehrung verfallen, die fast zu schrecklich zu denken ist. Und diese Leiden müssen in einer gleichen oder fast gleichen Ausdehnung von den kleinen freien Bauern getragen werden, die nicht weniger zahlreich sind, als die Leib¬ eignen und denen wir jetzt noch einige Worte widmen wollen, da sonst unsere Einsicht in die materielle Lage der grundbesitzenden Classen Rußlands sehr unvollständig sein würde. Nach einem Bericht des russischen Domänenministeriums von 1819 um¬ faßten damals die Kronländereicn die ungeheure Bodenfläche von nicht weniger als 79,169,100 Dessätinen. Davon bestanden 34,000,000 Dessätinen aus mehr oder weniger productiven Boden — Acker-, Wiese- und Weideland — und waren unter eine männliche Bevölkerung von 9,333,516 Köpfen vertheilt. Die Regierung hat immer die Politik verfolgt, die Ablösung der Troika mit Geld oder Bodenproducten zu begünstigen; dies ist bereits mit fast 8,000,000 Kron¬ bauern geschehen, obgleich im Jahre 1819 in den Gouvernements Minsk, Kowno, Liefland, Esthland, Kurland, Grodno, Wilna, Mohilew, Kiew, Witebsk, Volhynien und Podolien immer noch 927,268 übrig waren, die Frohndienst leisteten. Diese letzteren vermindern sich jedoch fortwährend und die Zahl der freien Bauern nimmt entsprechend zu, ein Proceß, der durch eine andere, für Rußland charakteristische Einrichtung beschleunigt wird, nämlich durch die Er¬ richtung von Hypothekenbanken seitens der Regierung, die Geld zu 5 ^ aus- leihen. Der ursprüngliche Zweck dieser Anstalten ist, dem geldbedürftigen Grundbesitzer die zur Bodenverbesserung nöthigen Capitalien vorzuschießen; aber die Neigung der russischen Großen zu einem verschwenderischen Leben verleitet sie sehr oft, in Se. Petersburg das Geld zu vergeuden, das sie auf ihre Güter in Taurien oder Saratow geborgt haben. Die Folge davon ist, daß die Hypothek verfällt, die Krone Besitz von den Gütern des Verschwenders ergreift, die Leibeignen frei gibt und sie als freie Bauern auf Kronländereien ansiedelt. Die Capitalien der Bank rühren von Depositen von Privatpersonen her, die unter Garantie des Staates und gegen 1 "/<> Zinsen schon bei sehr kleinen Summen ihre Ersparnisse in die Leihkasse niederlegen. So beutet der Zar die Sparsamkeit der einen Classe seiner Unterthanen und den Leichtsinn der andern für sich aus, vereinigt allmälig allen Grundbesitz des Landes in

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/477
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/477>, abgerufen am 22.12.2024.