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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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baut und das kleine Ackerstück, welches er für sich bewirthschaftet, sind gesetz¬
lich nicht sein Eigenthum, obgleich er und seine Väter schon seit mehren Gene¬
rationen darauf gesessen haben mögen. Allerdings kommt der Grundherr unter
gewöhnlichen Umständen nicht in Versuchung, ihn zu vertreiben und solange
dies der Fall ist, geht alles zur Zufriedenheit beider Theile seinen Gang.
Aber es kann kommen, daß der Boden auf den Gütern des Herrn erschöpft ist
und daß daher der Ertrag von der Arbeit des Bauern sich mit jedem Jahre
merklich vermindert. Was soll in diesem Falle der Grundbesitzer thun? Er
besitzt nicht Capital genug, um dem ausgesogenen Boden seine Kräfte zurück¬
zugeben, und auf der andern Seite besitzt er noch ungezählte Acker.unum-
gebrvchenes Land, das blos der Arbeit wartet, um den reichlichsten Ertrag zu
liefern. Unter diesen Umständen kann man sich kaum wundern, daß der Grund¬
besitzer von seinem gesetzlichen Rechte Gebrauch macht und die Bauern nach der
neuen und mehr versprechenden Gegend versetzt. Natürlich wird bei einem
solchen Verfahren der Leibeigne selbst bei dem menschlichsten Herrn physisch
und moralisch manches zu leiden haben, und wo der Grundbesitzer rücksichtslos
verfährt oder die Versetzung der unbarmherzigen Hand eines Gutöverwalters
überläßt, entstehen Jammerscenen, die nur bei einem so geduldigen Schlag,
wie die Russen sind, nicht zum offnen Widerstand führen.

Der Werth eines Grundstücks hängt jedoch hauptsächlich von der Zahl
und dem Charakter der dazu gehörigen Leibeignen ab, dann von den Verkehrs¬
wegen und am allerwenigsten von der Güte des Bodens; denn die Bevölkerung
steht bis jetzt noch so außer allem Verhältniß mit der eine gewinnbringende
Bewirthschaftung zulassenden Bodenfläche, daß es gar nicht schwer fällt zum
Urboden seine Zuflucht zu nehmen, weyn der Ertrag des bereits bebauten sich
vermindert. Ein von Tengoborski angeführter Bericht des landwirthschaftlichen
Departements an das Domänenministerium gibt den Umfang der Region des
berühmten Tschernozisme oder schwarzen Bodens auf 87 Millionen Desfätinen
an. Diese Region umfaßt den größern Theil des Gouvernements Orenburg,
einen beträchtlichen Theil des Gouvernements Kasan, die Gouvernements
SimbirSk und Persa, einen Theil des Gouvernements Saratow, auf dem
rechten Wolgaufer, das Gouvernement Tambow, das Land der dorischen Ko-
sacken, einen, großen Theil des Gouvernements Jekaterinoslaw, die Gouverne¬
ments Pvltawa, Charkow und Woronesch; einen Theil der Gouvernements
Tula und Riäsär, einen großen Theil des Gouvernements Orel, einen Theil
der Gouvernements Tschernigow und Kiew, die nördlichen Theile des Gouverne¬
ments Cherson, Bessarabien, Podolien und einen Theil von Volhynien, im
Ganzen ungefähr 18"/<> der Gesammtoberfläche des europäischen Rußlands.
Nach den'gegenwärtigen Fortschritten der Landwirthschaft bewirthschaftet könnte
diese Bodenfläche die Bevölkerung von ganz Europa ernähren. Aber ein


Grclizbolen. Hi, 1836. 39

baut und das kleine Ackerstück, welches er für sich bewirthschaftet, sind gesetz¬
lich nicht sein Eigenthum, obgleich er und seine Väter schon seit mehren Gene¬
rationen darauf gesessen haben mögen. Allerdings kommt der Grundherr unter
gewöhnlichen Umständen nicht in Versuchung, ihn zu vertreiben und solange
dies der Fall ist, geht alles zur Zufriedenheit beider Theile seinen Gang.
Aber es kann kommen, daß der Boden auf den Gütern des Herrn erschöpft ist
und daß daher der Ertrag von der Arbeit des Bauern sich mit jedem Jahre
merklich vermindert. Was soll in diesem Falle der Grundbesitzer thun? Er
besitzt nicht Capital genug, um dem ausgesogenen Boden seine Kräfte zurück¬
zugeben, und auf der andern Seite besitzt er noch ungezählte Acker.unum-
gebrvchenes Land, das blos der Arbeit wartet, um den reichlichsten Ertrag zu
liefern. Unter diesen Umständen kann man sich kaum wundern, daß der Grund¬
besitzer von seinem gesetzlichen Rechte Gebrauch macht und die Bauern nach der
neuen und mehr versprechenden Gegend versetzt. Natürlich wird bei einem
solchen Verfahren der Leibeigne selbst bei dem menschlichsten Herrn physisch
und moralisch manches zu leiden haben, und wo der Grundbesitzer rücksichtslos
verfährt oder die Versetzung der unbarmherzigen Hand eines Gutöverwalters
überläßt, entstehen Jammerscenen, die nur bei einem so geduldigen Schlag,
wie die Russen sind, nicht zum offnen Widerstand führen.

Der Werth eines Grundstücks hängt jedoch hauptsächlich von der Zahl
und dem Charakter der dazu gehörigen Leibeignen ab, dann von den Verkehrs¬
wegen und am allerwenigsten von der Güte des Bodens; denn die Bevölkerung
steht bis jetzt noch so außer allem Verhältniß mit der eine gewinnbringende
Bewirthschaftung zulassenden Bodenfläche, daß es gar nicht schwer fällt zum
Urboden seine Zuflucht zu nehmen, weyn der Ertrag des bereits bebauten sich
vermindert. Ein von Tengoborski angeführter Bericht des landwirthschaftlichen
Departements an das Domänenministerium gibt den Umfang der Region des
berühmten Tschernozisme oder schwarzen Bodens auf 87 Millionen Desfätinen
an. Diese Region umfaßt den größern Theil des Gouvernements Orenburg,
einen beträchtlichen Theil des Gouvernements Kasan, die Gouvernements
SimbirSk und Persa, einen Theil des Gouvernements Saratow, auf dem
rechten Wolgaufer, das Gouvernement Tambow, das Land der dorischen Ko-
sacken, einen, großen Theil des Gouvernements Jekaterinoslaw, die Gouverne¬
ments Pvltawa, Charkow und Woronesch; einen Theil der Gouvernements
Tula und Riäsär, einen großen Theil des Gouvernements Orel, einen Theil
der Gouvernements Tschernigow und Kiew, die nördlichen Theile des Gouverne¬
ments Cherson, Bessarabien, Podolien und einen Theil von Volhynien, im
Ganzen ungefähr 18"/<> der Gesammtoberfläche des europäischen Rußlands.
Nach den'gegenwärtigen Fortschritten der Landwirthschaft bewirthschaftet könnte
diese Bodenfläche die Bevölkerung von ganz Europa ernähren. Aber ein


Grclizbolen. Hi, 1836. 39
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[0473] baut und das kleine Ackerstück, welches er für sich bewirthschaftet, sind gesetz¬ lich nicht sein Eigenthum, obgleich er und seine Väter schon seit mehren Gene¬ rationen darauf gesessen haben mögen. Allerdings kommt der Grundherr unter gewöhnlichen Umständen nicht in Versuchung, ihn zu vertreiben und solange dies der Fall ist, geht alles zur Zufriedenheit beider Theile seinen Gang. Aber es kann kommen, daß der Boden auf den Gütern des Herrn erschöpft ist und daß daher der Ertrag von der Arbeit des Bauern sich mit jedem Jahre merklich vermindert. Was soll in diesem Falle der Grundbesitzer thun? Er besitzt nicht Capital genug, um dem ausgesogenen Boden seine Kräfte zurück¬ zugeben, und auf der andern Seite besitzt er noch ungezählte Acker.unum- gebrvchenes Land, das blos der Arbeit wartet, um den reichlichsten Ertrag zu liefern. Unter diesen Umständen kann man sich kaum wundern, daß der Grund¬ besitzer von seinem gesetzlichen Rechte Gebrauch macht und die Bauern nach der neuen und mehr versprechenden Gegend versetzt. Natürlich wird bei einem solchen Verfahren der Leibeigne selbst bei dem menschlichsten Herrn physisch und moralisch manches zu leiden haben, und wo der Grundbesitzer rücksichtslos verfährt oder die Versetzung der unbarmherzigen Hand eines Gutöverwalters überläßt, entstehen Jammerscenen, die nur bei einem so geduldigen Schlag, wie die Russen sind, nicht zum offnen Widerstand führen. Der Werth eines Grundstücks hängt jedoch hauptsächlich von der Zahl und dem Charakter der dazu gehörigen Leibeignen ab, dann von den Verkehrs¬ wegen und am allerwenigsten von der Güte des Bodens; denn die Bevölkerung steht bis jetzt noch so außer allem Verhältniß mit der eine gewinnbringende Bewirthschaftung zulassenden Bodenfläche, daß es gar nicht schwer fällt zum Urboden seine Zuflucht zu nehmen, weyn der Ertrag des bereits bebauten sich vermindert. Ein von Tengoborski angeführter Bericht des landwirthschaftlichen Departements an das Domänenministerium gibt den Umfang der Region des berühmten Tschernozisme oder schwarzen Bodens auf 87 Millionen Desfätinen an. Diese Region umfaßt den größern Theil des Gouvernements Orenburg, einen beträchtlichen Theil des Gouvernements Kasan, die Gouvernements SimbirSk und Persa, einen Theil des Gouvernements Saratow, auf dem rechten Wolgaufer, das Gouvernement Tambow, das Land der dorischen Ko- sacken, einen, großen Theil des Gouvernements Jekaterinoslaw, die Gouverne¬ ments Pvltawa, Charkow und Woronesch; einen Theil der Gouvernements Tula und Riäsär, einen großen Theil des Gouvernements Orel, einen Theil der Gouvernements Tschernigow und Kiew, die nördlichen Theile des Gouverne¬ ments Cherson, Bessarabien, Podolien und einen Theil von Volhynien, im Ganzen ungefähr 18"/<> der Gesammtoberfläche des europäischen Rußlands. Nach den'gegenwärtigen Fortschritten der Landwirthschaft bewirthschaftet könnte diese Bodenfläche die Bevölkerung von ganz Europa ernähren. Aber ein Grclizbolen. Hi, 1836. 39

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/473>, abgerufen am 23.12.2024.