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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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in ästhetischen Dingen kein großes Gewicht legen, aber wenn er einen Menschen
darstellt, so wird man von ihm verlangen, daß er ihn der Wahrheit gemäß
darstellt, gleichviel ob es ein Literat oder ein Staatsmann ist. Wenn er
W. Scott S. 831 einen fast fanatischen Tory nennt, so würde diese Bezeichnung
etwa nur dann gerechtfertigt sein können, wenn man alle Tories Fanatiker
nennen will, aber die Darstellung S. 404 widerspricht in jedem Wort den
Zeugnissen aller Mitleidenden. Gervinus schildert ihn als einen eiteln Menschen,
der zuerst mit Ariost, dann mit Cervantes wetteifern wollte, während die lie¬
benswürdige Bescheidenheit W. Scotts von allen seinen Landsleuten anerkannt
wird, auch von seinen Gegnern. Man darf doch nicht jedem Romanschreiber
nachsagen, er wolle mit Cervantes, jedem epischen Dichter, er wolle mit Ariost
wetteifern, und zwischen dem Fräulein vom See und dem rasenden Roland
wird auch das schärfste Mikroskop keine Spur der Verwandtschaft entdecken.
Er schildert ihn ferner als einen gemeinen Speculanten und gibt ihm gegen
alle beglaubigten Zeugnisse den Bankrott seines Buchhändlers schuld. Er ver¬
gleicht seine Form mit der deutschen Romantik, obgleich zwischen beiden der
schärfste Gegensatz besteht, ein Gegensatz, den die deutschen Romantiker sehr
richtig herausgefühlt haben. Er stellt die mechanische Fabrttschreiberei im Dienst
des gewinnsüchtigen Handels als seine Hauptwirkung dar; er macht ihm seine
Fruchtbarkeit zum Vorwurf, die er freilich mit Sophokles, Shakespeare, Cal-
deron, Goethe, Schiller u. s. w. theilt. "Er arbeitete," sagt er, "ohne Fest¬
stellung oder ohne Festhaltung eines Plans, der ihm überhaupt nur diente
als ein Faden, um daran hübsche Dinge anzureihen." W. Scott hat einmal
im Spaß selbst so etwas gesagt, wer aber die bessern seiner Romane aufmerk¬
sam betrachtet, wird finden, daß sie eine viel strengere und künstlerische Kom¬
position enthalten, als die Romane aller übrigen Völker. Scott hatte bemerkt
(S. 406), daß Macpherson und Burns die allgemeine Aufmerksamkeit auf alles
Schottische gezogen hatten, und er "wollte diese Flamme lebendig halten." "Er
hatte an sich wie an andern beobachtet, wie vielen Reiz die landschaftlichen
Besonderheiten für die gewöhnlichen Leser haben u. s. w." Auf diese Weise
könnte man das Tagewerk deS größten Dichters analysiren. -- Zum Schluß
berichtet Gervinus von Byron, er habe gegen diese Art Poesie eine große
Verachtung empfunden; er meint damit die bekannte Satire gegen die schotti¬
schen Kritiker, welche Byrons Jugendgedichten so übel mitgespielt hatten, allein
er vergißt, daß Byron in späterer Zeit von der tiefsten Verehrung vor W.
Scott durchdrungen war, daß er seine Werke, obgleich er sie durch häufiges
Lesen fast auswendig konnte, stets mit sich führte und ihn zu den größten
Dichtern aller Zeiten rechnete. -- Auffallend ist auch Gervinus Urtheil über
den historischen Nomark Er nennt ihn das schädlichste von allen halbpoetischen
Zwitterwerken, die den Kunstsinn nicht nähren und den Geschichtsstnn zerstören.


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in ästhetischen Dingen kein großes Gewicht legen, aber wenn er einen Menschen
darstellt, so wird man von ihm verlangen, daß er ihn der Wahrheit gemäß
darstellt, gleichviel ob es ein Literat oder ein Staatsmann ist. Wenn er
W. Scott S. 831 einen fast fanatischen Tory nennt, so würde diese Bezeichnung
etwa nur dann gerechtfertigt sein können, wenn man alle Tories Fanatiker
nennen will, aber die Darstellung S. 404 widerspricht in jedem Wort den
Zeugnissen aller Mitleidenden. Gervinus schildert ihn als einen eiteln Menschen,
der zuerst mit Ariost, dann mit Cervantes wetteifern wollte, während die lie¬
benswürdige Bescheidenheit W. Scotts von allen seinen Landsleuten anerkannt
wird, auch von seinen Gegnern. Man darf doch nicht jedem Romanschreiber
nachsagen, er wolle mit Cervantes, jedem epischen Dichter, er wolle mit Ariost
wetteifern, und zwischen dem Fräulein vom See und dem rasenden Roland
wird auch das schärfste Mikroskop keine Spur der Verwandtschaft entdecken.
Er schildert ihn ferner als einen gemeinen Speculanten und gibt ihm gegen
alle beglaubigten Zeugnisse den Bankrott seines Buchhändlers schuld. Er ver¬
gleicht seine Form mit der deutschen Romantik, obgleich zwischen beiden der
schärfste Gegensatz besteht, ein Gegensatz, den die deutschen Romantiker sehr
richtig herausgefühlt haben. Er stellt die mechanische Fabrttschreiberei im Dienst
des gewinnsüchtigen Handels als seine Hauptwirkung dar; er macht ihm seine
Fruchtbarkeit zum Vorwurf, die er freilich mit Sophokles, Shakespeare, Cal-
deron, Goethe, Schiller u. s. w. theilt. „Er arbeitete," sagt er, „ohne Fest¬
stellung oder ohne Festhaltung eines Plans, der ihm überhaupt nur diente
als ein Faden, um daran hübsche Dinge anzureihen." W. Scott hat einmal
im Spaß selbst so etwas gesagt, wer aber die bessern seiner Romane aufmerk¬
sam betrachtet, wird finden, daß sie eine viel strengere und künstlerische Kom¬
position enthalten, als die Romane aller übrigen Völker. Scott hatte bemerkt
(S. 406), daß Macpherson und Burns die allgemeine Aufmerksamkeit auf alles
Schottische gezogen hatten, und er „wollte diese Flamme lebendig halten." „Er
hatte an sich wie an andern beobachtet, wie vielen Reiz die landschaftlichen
Besonderheiten für die gewöhnlichen Leser haben u. s. w." Auf diese Weise
könnte man das Tagewerk deS größten Dichters analysiren. — Zum Schluß
berichtet Gervinus von Byron, er habe gegen diese Art Poesie eine große
Verachtung empfunden; er meint damit die bekannte Satire gegen die schotti¬
schen Kritiker, welche Byrons Jugendgedichten so übel mitgespielt hatten, allein
er vergißt, daß Byron in späterer Zeit von der tiefsten Verehrung vor W.
Scott durchdrungen war, daß er seine Werke, obgleich er sie durch häufiges
Lesen fast auswendig konnte, stets mit sich führte und ihn zu den größten
Dichtern aller Zeiten rechnete. — Auffallend ist auch Gervinus Urtheil über
den historischen Nomark Er nennt ihn das schädlichste von allen halbpoetischen
Zwitterwerken, die den Kunstsinn nicht nähren und den Geschichtsstnn zerstören.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/459>, abgerufen am 22.07.2024.