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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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die Beziehung zum unreinstem Munde etwas beigetragen haben? Man be¬
züchtige uns nicht der Frivolität. Gervinus gibt in der That den einzelnen
Stimmungen des Augenblicks mehr nach, als dem Geschichtschreiber erlaubt ist.
Bis dahin hat er Talleyrand ganz mit Recht als einen geschickten Mantel¬
träger bezeichnet; jetzt erscheint er ihm plötzlich als "einer der Wenigen, die
aus den großen erlebten Wechselfällen der Geschichte eine Einsicht in die Zeit
und den neuen Geist, der sie bewegte, davongetragen hatten." Der Grund
dieser Meinungsänderung ist, daß Talleyrand für die Wiederherstellung Polens
eintritt; und das ist eine der politischen Lieblingsneigungen von Gervinus.
Schwerlich hätten die drei siegreichen Mächte, Rußland, Oestreich und Preußen
eingewilligt, Stücke ihrer Länder herauszugeben, und am wenigsten konnte es
Preußen unbedenklich erscheinen, einen alten Feind neben sich zu lassen, der,
sobald er nur zu einigem Leben erstarkt war, nothwendigerweise auf die
Weichselmündung Anspruch gemacht hätte. Die Einheit der Nationalität
kommt bei der Feststellung der Staatengebiete allerdings sehr in Betracht, aber
sie ist nicht die einzige, nicht einmal die höchste Rücksicht. Der Zusammenhang
des Bodens, der eine gemeinsame Regierung und gemeinsame Interessen mög¬
lich macht, ist, wo nicht wichtiger, doch wenigstens ebenso wichtig. Das hat
schon damals der alte Arndt, den man gewöhnlich einer übertriebenen Deutsch-
thümelei beschuldigt, sehr scharfsinnig auseinandergesetzt. -- Das Unrecht gegen
Polen erscheint Gervinus als die erste Quelle aller übrigen Verirrungen.
"Sobald es bei jener größten und widernatürlichsten Völkereinziehung sein Be¬
wenden hatte, so konnte man auch vor der buntesten Zusammenwürfelung von
andern Stämmen und Völkern nicht weiter zurückschrecken, so mußte Finnland
bei Rußland bleiben, ein Pflanzland germanischer Bildung, und Norwegen
bei Schweden. Dadurch ward Dänemark getrieben, nach jenem Verlust sich
Zum Gesammtstaat umzubilden u. f. w." -- Also Rußland sollte nicht nur
Polen, sondern auch Finnland aufgeben? An wen denn? An Schweden?
Wäre es dann noch das Pflanzland germanischer Gesinnung geblieben? Oder
an Deutschland? Das wäre für Deutschland selbst eine sehr bedenkliche Acqui-
sition gewesen!

Wir haben alles dieses nur hervorgehoben, um zu zeigen, daß Gervinus
viel zweckmäßiger gehandelt hätte, wenn er zuerst einfach die Verhandlungen
des Congresses erzählt und dann ein Gesammturtheil abgegeben hätte; statt
dessen eilt er mit seinem Urtheil überall vor und bewirkt dadurch, daß sein Be¬
richt unzusammenhängend, sein Urtheil unklar und widersprechend ist; das
empfindet der Leser und kann es daher nicht für gerechtfertigt erachten, wenn
auf vie Widersprüche des Freiherrn von Stein ein so großes Gewicht gelegt
wird. Stein war in der üblen Lage, dem Wechsel der Umstände folgen und
sich nach dem Augenblick entscheiden zu müssen; und da die Lage der Dinge


Wreuzboten. III. 186". L7

die Beziehung zum unreinstem Munde etwas beigetragen haben? Man be¬
züchtige uns nicht der Frivolität. Gervinus gibt in der That den einzelnen
Stimmungen des Augenblicks mehr nach, als dem Geschichtschreiber erlaubt ist.
Bis dahin hat er Talleyrand ganz mit Recht als einen geschickten Mantel¬
träger bezeichnet; jetzt erscheint er ihm plötzlich als „einer der Wenigen, die
aus den großen erlebten Wechselfällen der Geschichte eine Einsicht in die Zeit
und den neuen Geist, der sie bewegte, davongetragen hatten." Der Grund
dieser Meinungsänderung ist, daß Talleyrand für die Wiederherstellung Polens
eintritt; und das ist eine der politischen Lieblingsneigungen von Gervinus.
Schwerlich hätten die drei siegreichen Mächte, Rußland, Oestreich und Preußen
eingewilligt, Stücke ihrer Länder herauszugeben, und am wenigsten konnte es
Preußen unbedenklich erscheinen, einen alten Feind neben sich zu lassen, der,
sobald er nur zu einigem Leben erstarkt war, nothwendigerweise auf die
Weichselmündung Anspruch gemacht hätte. Die Einheit der Nationalität
kommt bei der Feststellung der Staatengebiete allerdings sehr in Betracht, aber
sie ist nicht die einzige, nicht einmal die höchste Rücksicht. Der Zusammenhang
des Bodens, der eine gemeinsame Regierung und gemeinsame Interessen mög¬
lich macht, ist, wo nicht wichtiger, doch wenigstens ebenso wichtig. Das hat
schon damals der alte Arndt, den man gewöhnlich einer übertriebenen Deutsch-
thümelei beschuldigt, sehr scharfsinnig auseinandergesetzt. — Das Unrecht gegen
Polen erscheint Gervinus als die erste Quelle aller übrigen Verirrungen.
„Sobald es bei jener größten und widernatürlichsten Völkereinziehung sein Be¬
wenden hatte, so konnte man auch vor der buntesten Zusammenwürfelung von
andern Stämmen und Völkern nicht weiter zurückschrecken, so mußte Finnland
bei Rußland bleiben, ein Pflanzland germanischer Bildung, und Norwegen
bei Schweden. Dadurch ward Dänemark getrieben, nach jenem Verlust sich
Zum Gesammtstaat umzubilden u. f. w." — Also Rußland sollte nicht nur
Polen, sondern auch Finnland aufgeben? An wen denn? An Schweden?
Wäre es dann noch das Pflanzland germanischer Gesinnung geblieben? Oder
an Deutschland? Das wäre für Deutschland selbst eine sehr bedenkliche Acqui-
sition gewesen!

Wir haben alles dieses nur hervorgehoben, um zu zeigen, daß Gervinus
viel zweckmäßiger gehandelt hätte, wenn er zuerst einfach die Verhandlungen
des Congresses erzählt und dann ein Gesammturtheil abgegeben hätte; statt
dessen eilt er mit seinem Urtheil überall vor und bewirkt dadurch, daß sein Be¬
richt unzusammenhängend, sein Urtheil unklar und widersprechend ist; das
empfindet der Leser und kann es daher nicht für gerechtfertigt erachten, wenn
auf vie Widersprüche des Freiherrn von Stein ein so großes Gewicht gelegt
wird. Stein war in der üblen Lage, dem Wechsel der Umstände folgen und
sich nach dem Augenblick entscheiden zu müssen; und da die Lage der Dinge


Wreuzboten. III. 186«. L7
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[0457] die Beziehung zum unreinstem Munde etwas beigetragen haben? Man be¬ züchtige uns nicht der Frivolität. Gervinus gibt in der That den einzelnen Stimmungen des Augenblicks mehr nach, als dem Geschichtschreiber erlaubt ist. Bis dahin hat er Talleyrand ganz mit Recht als einen geschickten Mantel¬ träger bezeichnet; jetzt erscheint er ihm plötzlich als „einer der Wenigen, die aus den großen erlebten Wechselfällen der Geschichte eine Einsicht in die Zeit und den neuen Geist, der sie bewegte, davongetragen hatten." Der Grund dieser Meinungsänderung ist, daß Talleyrand für die Wiederherstellung Polens eintritt; und das ist eine der politischen Lieblingsneigungen von Gervinus. Schwerlich hätten die drei siegreichen Mächte, Rußland, Oestreich und Preußen eingewilligt, Stücke ihrer Länder herauszugeben, und am wenigsten konnte es Preußen unbedenklich erscheinen, einen alten Feind neben sich zu lassen, der, sobald er nur zu einigem Leben erstarkt war, nothwendigerweise auf die Weichselmündung Anspruch gemacht hätte. Die Einheit der Nationalität kommt bei der Feststellung der Staatengebiete allerdings sehr in Betracht, aber sie ist nicht die einzige, nicht einmal die höchste Rücksicht. Der Zusammenhang des Bodens, der eine gemeinsame Regierung und gemeinsame Interessen mög¬ lich macht, ist, wo nicht wichtiger, doch wenigstens ebenso wichtig. Das hat schon damals der alte Arndt, den man gewöhnlich einer übertriebenen Deutsch- thümelei beschuldigt, sehr scharfsinnig auseinandergesetzt. — Das Unrecht gegen Polen erscheint Gervinus als die erste Quelle aller übrigen Verirrungen. „Sobald es bei jener größten und widernatürlichsten Völkereinziehung sein Be¬ wenden hatte, so konnte man auch vor der buntesten Zusammenwürfelung von andern Stämmen und Völkern nicht weiter zurückschrecken, so mußte Finnland bei Rußland bleiben, ein Pflanzland germanischer Bildung, und Norwegen bei Schweden. Dadurch ward Dänemark getrieben, nach jenem Verlust sich Zum Gesammtstaat umzubilden u. f. w." — Also Rußland sollte nicht nur Polen, sondern auch Finnland aufgeben? An wen denn? An Schweden? Wäre es dann noch das Pflanzland germanischer Gesinnung geblieben? Oder an Deutschland? Das wäre für Deutschland selbst eine sehr bedenkliche Acqui- sition gewesen! Wir haben alles dieses nur hervorgehoben, um zu zeigen, daß Gervinus viel zweckmäßiger gehandelt hätte, wenn er zuerst einfach die Verhandlungen des Congresses erzählt und dann ein Gesammturtheil abgegeben hätte; statt dessen eilt er mit seinem Urtheil überall vor und bewirkt dadurch, daß sein Be¬ richt unzusammenhängend, sein Urtheil unklar und widersprechend ist; das empfindet der Leser und kann es daher nicht für gerechtfertigt erachten, wenn auf vie Widersprüche des Freiherrn von Stein ein so großes Gewicht gelegt wird. Stein war in der üblen Lage, dem Wechsel der Umstände folgen und sich nach dem Augenblick entscheiden zu müssen; und da die Lage der Dinge Wreuzboten. III. 186«. L7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/457>, abgerufen am 22.07.2024.