Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

bracht; es ist eine Freude, wenn man mit hohem und reinem sittlichen Ernst
diesem Cynismus der Gesinnung entgegentritt.

Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit dem wiener Kongreß. Im Anfang
erwarten wir eine fortlaufende chronologisch geordnete Erzählung, allein wir
entdecken bald, daß auch hier vorzugsweise nur eine Kritik beabsichtigt ist. Die
Verkehrtheit in der ganzen Anlage der territorialen und Verfassungsbestim-
mungen, die aus diesem Congreß hervorgingen, wird mit großer Beredsamkeit
und unwiderleglich dargethan; es wäre aber zu wünschen gewesen, daß auch
hier Gervinus mehr die innere Nothwendigkeit der Dinge, als die zufälligen
Schwächen und Irrthümer der Menschen ins Auge gefaßt hätte. Wollte er
das letztere, so mußte er ausführlich erzählen, denn es ist ein mißliches Unter¬
nehmen, das Geschick oder Ungeschick eines Diplomaten aus einem summari¬
schen Bericht zu entnehmen. Gervinus gehört, wie wir, zu derjenigen Partei,
die alle Hoffnung einer Wiedergeburt Deutschlands auf die innere Kräftigung
Preußens setzt. Je entschiedener wir nun die Ueberzeugung hegen, daß in
den großen Stacnskrästen Pveußenö alles Material vorhanden sei, um die
Grundlage eines deutschen Staats zu bilden, und daß es nur am guten
Willen und an der Entschlossenheit fehlt, diese Mittel zu benutzen, desto leichter
sind wir geneigt, die preußischen Staatsmänner, auf deren Willen und Ent¬
schlossenheit es im kritischen Augenblick ankam, hart zu beurtheilen, und wir
müssen gegen unser eignes Gefühl sehr auf der Hut sein, um nicht mit unsern
Wünschen alle Gesetze der Möglichkeit zu überfliegen. Gervinus hat dieses
Maß nicht beobachtet. So vieles man auch an dem Benehmen der preußi¬
schen Gesandten tadeln kann, der Hauptgrund, daß Preußen eine so eigen¬
thümlich verwickelte Lage erhielt, lag nicht an ihrer Ungeschicklichkeit, sondern
an dem bösen Willen aller übrigen Mächte. Es ist das Schicksal eines neuen
Staats, der noch keinen festen Boden unter den Füßen hat, den Neid aller
übrigen zu erregen, die sein Wachsthum fürchten und zugleich seine Unfertig-
keit gering schätzen. Auf dem wiener Congreß wechselten die Intriguen zwar
sehr häufig, aber im Grunde waren alle europäischen Mächte von vornherein
darüber einig, Preußen nicht zu mächtig werden zu lassen. Die Vergrößerung
Preußens im wiener Congreß war ungefähr diejenige, welche es erwarten
konnte. Der einzige Punkt, den man bedauern könnte, ist der, daß Preußen
nicht anstatt eines Theils der Rheinprovinz Ostfriesland behauptet hat. --
Aber Gervinus ist in diesem Capitel sehr sanguinisch. Wenn er die preußischen
Abgeordneten von Anfang bis zu Ende tadelt, so bleibt er selbst doch keines¬
wegs auf dem nämlichen Standpunkt. Seine Rathschläge wechseln fortwährend
auf die seltsamste Art, und wir fürchten, er selbst hätte auf dem wiener Congreß
nur Aerger und Verdruß davongetragen. So sagt er S. -184: "Preußen wäre
naturgemäß Deutschland zugefallen, wenn eS verstanden Hütte, an seiner Stelle


bracht; es ist eine Freude, wenn man mit hohem und reinem sittlichen Ernst
diesem Cynismus der Gesinnung entgegentritt.

Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit dem wiener Kongreß. Im Anfang
erwarten wir eine fortlaufende chronologisch geordnete Erzählung, allein wir
entdecken bald, daß auch hier vorzugsweise nur eine Kritik beabsichtigt ist. Die
Verkehrtheit in der ganzen Anlage der territorialen und Verfassungsbestim-
mungen, die aus diesem Congreß hervorgingen, wird mit großer Beredsamkeit
und unwiderleglich dargethan; es wäre aber zu wünschen gewesen, daß auch
hier Gervinus mehr die innere Nothwendigkeit der Dinge, als die zufälligen
Schwächen und Irrthümer der Menschen ins Auge gefaßt hätte. Wollte er
das letztere, so mußte er ausführlich erzählen, denn es ist ein mißliches Unter¬
nehmen, das Geschick oder Ungeschick eines Diplomaten aus einem summari¬
schen Bericht zu entnehmen. Gervinus gehört, wie wir, zu derjenigen Partei,
die alle Hoffnung einer Wiedergeburt Deutschlands auf die innere Kräftigung
Preußens setzt. Je entschiedener wir nun die Ueberzeugung hegen, daß in
den großen Stacnskrästen Pveußenö alles Material vorhanden sei, um die
Grundlage eines deutschen Staats zu bilden, und daß es nur am guten
Willen und an der Entschlossenheit fehlt, diese Mittel zu benutzen, desto leichter
sind wir geneigt, die preußischen Staatsmänner, auf deren Willen und Ent¬
schlossenheit es im kritischen Augenblick ankam, hart zu beurtheilen, und wir
müssen gegen unser eignes Gefühl sehr auf der Hut sein, um nicht mit unsern
Wünschen alle Gesetze der Möglichkeit zu überfliegen. Gervinus hat dieses
Maß nicht beobachtet. So vieles man auch an dem Benehmen der preußi¬
schen Gesandten tadeln kann, der Hauptgrund, daß Preußen eine so eigen¬
thümlich verwickelte Lage erhielt, lag nicht an ihrer Ungeschicklichkeit, sondern
an dem bösen Willen aller übrigen Mächte. Es ist das Schicksal eines neuen
Staats, der noch keinen festen Boden unter den Füßen hat, den Neid aller
übrigen zu erregen, die sein Wachsthum fürchten und zugleich seine Unfertig-
keit gering schätzen. Auf dem wiener Congreß wechselten die Intriguen zwar
sehr häufig, aber im Grunde waren alle europäischen Mächte von vornherein
darüber einig, Preußen nicht zu mächtig werden zu lassen. Die Vergrößerung
Preußens im wiener Congreß war ungefähr diejenige, welche es erwarten
konnte. Der einzige Punkt, den man bedauern könnte, ist der, daß Preußen
nicht anstatt eines Theils der Rheinprovinz Ostfriesland behauptet hat. —
Aber Gervinus ist in diesem Capitel sehr sanguinisch. Wenn er die preußischen
Abgeordneten von Anfang bis zu Ende tadelt, so bleibt er selbst doch keines¬
wegs auf dem nämlichen Standpunkt. Seine Rathschläge wechseln fortwährend
auf die seltsamste Art, und wir fürchten, er selbst hätte auf dem wiener Congreß
nur Aerger und Verdruß davongetragen. So sagt er S. -184: „Preußen wäre
naturgemäß Deutschland zugefallen, wenn eS verstanden Hütte, an seiner Stelle


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0455" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100375"/>
          <p xml:id="ID_1309" prev="#ID_1308"> bracht; es ist eine Freude, wenn man mit hohem und reinem sittlichen Ernst<lb/>
diesem Cynismus der Gesinnung entgegentritt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1310" next="#ID_1311"> Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit dem wiener Kongreß. Im Anfang<lb/>
erwarten wir eine fortlaufende chronologisch geordnete Erzählung, allein wir<lb/>
entdecken bald, daß auch hier vorzugsweise nur eine Kritik beabsichtigt ist. Die<lb/>
Verkehrtheit in der ganzen Anlage der territorialen und Verfassungsbestim-<lb/>
mungen, die aus diesem Congreß hervorgingen, wird mit großer Beredsamkeit<lb/>
und unwiderleglich dargethan; es wäre aber zu wünschen gewesen, daß auch<lb/>
hier Gervinus mehr die innere Nothwendigkeit der Dinge, als die zufälligen<lb/>
Schwächen und Irrthümer der Menschen ins Auge gefaßt hätte.  Wollte er<lb/>
das letztere, so mußte er ausführlich erzählen, denn es ist ein mißliches Unter¬<lb/>
nehmen, das Geschick oder Ungeschick eines Diplomaten aus einem summari¬<lb/>
schen Bericht zu entnehmen.  Gervinus gehört, wie wir, zu derjenigen Partei,<lb/>
die alle Hoffnung einer Wiedergeburt Deutschlands auf die innere Kräftigung<lb/>
Preußens setzt.  Je entschiedener wir nun die Ueberzeugung hegen, daß in<lb/>
den großen Stacnskrästen Pveußenö alles Material vorhanden sei, um die<lb/>
Grundlage eines deutschen Staats zu bilden, und daß es nur am guten<lb/>
Willen und an der Entschlossenheit fehlt, diese Mittel zu benutzen, desto leichter<lb/>
sind wir geneigt, die preußischen Staatsmänner, auf deren Willen und Ent¬<lb/>
schlossenheit es im kritischen Augenblick ankam, hart zu beurtheilen, und wir<lb/>
müssen gegen unser eignes Gefühl sehr auf der Hut sein, um nicht mit unsern<lb/>
Wünschen alle Gesetze der Möglichkeit zu überfliegen.  Gervinus hat dieses<lb/>
Maß nicht beobachtet.  So vieles man auch an dem Benehmen der preußi¬<lb/>
schen Gesandten tadeln kann, der Hauptgrund, daß Preußen eine so eigen¬<lb/>
thümlich verwickelte Lage erhielt, lag nicht an ihrer Ungeschicklichkeit, sondern<lb/>
an dem bösen Willen aller übrigen Mächte.  Es ist das Schicksal eines neuen<lb/>
Staats, der noch keinen festen Boden unter den Füßen hat, den Neid aller<lb/>
übrigen zu erregen, die sein Wachsthum fürchten und zugleich seine Unfertig-<lb/>
keit gering schätzen.  Auf dem wiener Congreß wechselten die Intriguen zwar<lb/>
sehr häufig, aber im Grunde waren alle europäischen Mächte von vornherein<lb/>
darüber einig, Preußen nicht zu mächtig werden zu lassen.  Die Vergrößerung<lb/>
Preußens im wiener Congreß war ungefähr diejenige, welche es erwarten<lb/>
konnte.  Der einzige Punkt, den man bedauern könnte, ist der, daß Preußen<lb/>
nicht anstatt eines Theils der Rheinprovinz Ostfriesland behauptet hat. &#x2014;<lb/>
Aber Gervinus ist in diesem Capitel sehr sanguinisch. Wenn er die preußischen<lb/>
Abgeordneten von Anfang bis zu Ende tadelt, so bleibt er selbst doch keines¬<lb/>
wegs auf dem nämlichen Standpunkt. Seine Rathschläge wechseln fortwährend<lb/>
auf die seltsamste Art, und wir fürchten, er selbst hätte auf dem wiener Congreß<lb/>
nur Aerger und Verdruß davongetragen.  So sagt er S. -184: &#x201E;Preußen wäre<lb/>
naturgemäß Deutschland zugefallen, wenn eS verstanden Hütte, an seiner Stelle</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0455] bracht; es ist eine Freude, wenn man mit hohem und reinem sittlichen Ernst diesem Cynismus der Gesinnung entgegentritt. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit dem wiener Kongreß. Im Anfang erwarten wir eine fortlaufende chronologisch geordnete Erzählung, allein wir entdecken bald, daß auch hier vorzugsweise nur eine Kritik beabsichtigt ist. Die Verkehrtheit in der ganzen Anlage der territorialen und Verfassungsbestim- mungen, die aus diesem Congreß hervorgingen, wird mit großer Beredsamkeit und unwiderleglich dargethan; es wäre aber zu wünschen gewesen, daß auch hier Gervinus mehr die innere Nothwendigkeit der Dinge, als die zufälligen Schwächen und Irrthümer der Menschen ins Auge gefaßt hätte. Wollte er das letztere, so mußte er ausführlich erzählen, denn es ist ein mißliches Unter¬ nehmen, das Geschick oder Ungeschick eines Diplomaten aus einem summari¬ schen Bericht zu entnehmen. Gervinus gehört, wie wir, zu derjenigen Partei, die alle Hoffnung einer Wiedergeburt Deutschlands auf die innere Kräftigung Preußens setzt. Je entschiedener wir nun die Ueberzeugung hegen, daß in den großen Stacnskrästen Pveußenö alles Material vorhanden sei, um die Grundlage eines deutschen Staats zu bilden, und daß es nur am guten Willen und an der Entschlossenheit fehlt, diese Mittel zu benutzen, desto leichter sind wir geneigt, die preußischen Staatsmänner, auf deren Willen und Ent¬ schlossenheit es im kritischen Augenblick ankam, hart zu beurtheilen, und wir müssen gegen unser eignes Gefühl sehr auf der Hut sein, um nicht mit unsern Wünschen alle Gesetze der Möglichkeit zu überfliegen. Gervinus hat dieses Maß nicht beobachtet. So vieles man auch an dem Benehmen der preußi¬ schen Gesandten tadeln kann, der Hauptgrund, daß Preußen eine so eigen¬ thümlich verwickelte Lage erhielt, lag nicht an ihrer Ungeschicklichkeit, sondern an dem bösen Willen aller übrigen Mächte. Es ist das Schicksal eines neuen Staats, der noch keinen festen Boden unter den Füßen hat, den Neid aller übrigen zu erregen, die sein Wachsthum fürchten und zugleich seine Unfertig- keit gering schätzen. Auf dem wiener Congreß wechselten die Intriguen zwar sehr häufig, aber im Grunde waren alle europäischen Mächte von vornherein darüber einig, Preußen nicht zu mächtig werden zu lassen. Die Vergrößerung Preußens im wiener Congreß war ungefähr diejenige, welche es erwarten konnte. Der einzige Punkt, den man bedauern könnte, ist der, daß Preußen nicht anstatt eines Theils der Rheinprovinz Ostfriesland behauptet hat. — Aber Gervinus ist in diesem Capitel sehr sanguinisch. Wenn er die preußischen Abgeordneten von Anfang bis zu Ende tadelt, so bleibt er selbst doch keines¬ wegs auf dem nämlichen Standpunkt. Seine Rathschläge wechseln fortwährend auf die seltsamste Art, und wir fürchten, er selbst hätte auf dem wiener Congreß nur Aerger und Verdruß davongetragen. So sagt er S. -184: „Preußen wäre naturgemäß Deutschland zugefallen, wenn eS verstanden Hütte, an seiner Stelle

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/455
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/455>, abgerufen am 22.07.2024.