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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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sein Erbrecht sein einziger Anspruch sei und daß er keinen andern habe, so
muß man ihm darin vollkommen Recht geben, wenn man sich in seine Lage
versetzt, und aus demselben Rechtsgefühl erklären, daß er die vom Senat ihm
angebotene Verfassung verwarf und eine Charte octroyirte. Man mag von
der Volkssouveränetät denken, was man will, jedenfalls war der napoleonische
Senat, zum großen Theil aus ergrauten Speichelleckern der Gewalt zusammen¬
gesetzt, nicht berechtigt, im Namen des Volks dem legitimen König eine Ver¬
fassung vorzulegen. Der Vergleich mit Wilhelm III. ist ganz unpassend.
Wilhelm lit. nahm den Thron nicht kraft des Erbrechts, sondern durch Waffen¬
gewalt ein. Ueber die Art und Weise, wie dies geschah, vereinbarte er sich
mit dem Parlament, so gut oder schlecht es gehen konnte. Die Anmuthung,
kraft der quäht-legitimen Erbfolge King Comfort zu werden, wies er mit Ent¬
schiedenheit zurück; er blieb König auch nach dem Tode seiner Gemahlin, ohne
alle Spur eines Rechts.

Wenn also Gervinus S. 66 behauptet: "Nahm Ludwig die Verfassung
als einen bindenden Bertrag an, so verscheuchte er jeden Verdacht absolutistischer
Hintergedanken; ließ er sich wie jener die Volksernennung gefallen und setzte
seinen Rechtsanspruch auf den Thron nicht in die Erblichkeit, sondern in diese
Berufung, so lag darin das große Geständniß, daß er die Zeit, die des Volkes
Stolz war, in Ehren halten werde" --: so verlangt er damit nichts weniger,
als daß ein Mensch sein inneres Lebenöprincip d. h. den Kern seines Daseins
ausgeben soll. Die Legitimität war für Ludwig XVlII. nicht blos ein Mittel
zum Zweck, sondern eine Idee, die innerhalb der Erscheinungswelt in ernstem
Kampf ihre Berechtigung zu erweisen hatte. Die Ereignisse haben sie wider¬
legt, aber daß sie vor dieser Probe sich selbst aufgeben sollte, ist zu viel verlangt.
Es ist mit diesem "hätte" und "wäre" grade wie mit den Cvnditionalsätzen
bei der Schilderung Napoleons; man muß die großen Erscheinungen der Ge¬
schichte nehmen, wie sie sind, und nicht wie sie nach einem beliebigen Schema¬
tismus hätten sein können. Was übrigens Gervinus über die Erbärm¬
lichkeit der Restauration sagt, hat unsre unbedingte Billigung; und er hat
seine Ueberzeugung so glänzend gerechtfertigt, wie es von ihm zu erwarten
war. -- Die Form hätte unendlich gewonnen, wenn Gervinus die ausführliche
Erzählung ganz aufgegeben und sich mit einer Skizze begnügt hätte. Statt
dessen bringt er eine Masse Details an, welche in die Oekonomie einer Skizze
nicht passen, aber nicht genug, um ein vollständiges Bild zu geben. Auf
diese Weise wird die Aufmerksamkeit fortwährend von den Hauptsachen abge¬
lenkt. -- Das Capitel hat aber noch einen andern, sehr wichtigen Zweck.
Der glückliche Erfolg eines kühnen Handstreichs hat neuerdings bei einem
großen Theil des Publicums den Bonapartismus d. h. den Grundsatz, daß
erlaubt ist, was gefällt, wenn man es nur durchsetzt, wieder zu Ehren ge-^


sein Erbrecht sein einziger Anspruch sei und daß er keinen andern habe, so
muß man ihm darin vollkommen Recht geben, wenn man sich in seine Lage
versetzt, und aus demselben Rechtsgefühl erklären, daß er die vom Senat ihm
angebotene Verfassung verwarf und eine Charte octroyirte. Man mag von
der Volkssouveränetät denken, was man will, jedenfalls war der napoleonische
Senat, zum großen Theil aus ergrauten Speichelleckern der Gewalt zusammen¬
gesetzt, nicht berechtigt, im Namen des Volks dem legitimen König eine Ver¬
fassung vorzulegen. Der Vergleich mit Wilhelm III. ist ganz unpassend.
Wilhelm lit. nahm den Thron nicht kraft des Erbrechts, sondern durch Waffen¬
gewalt ein. Ueber die Art und Weise, wie dies geschah, vereinbarte er sich
mit dem Parlament, so gut oder schlecht es gehen konnte. Die Anmuthung,
kraft der quäht-legitimen Erbfolge King Comfort zu werden, wies er mit Ent¬
schiedenheit zurück; er blieb König auch nach dem Tode seiner Gemahlin, ohne
alle Spur eines Rechts.

Wenn also Gervinus S. 66 behauptet: „Nahm Ludwig die Verfassung
als einen bindenden Bertrag an, so verscheuchte er jeden Verdacht absolutistischer
Hintergedanken; ließ er sich wie jener die Volksernennung gefallen und setzte
seinen Rechtsanspruch auf den Thron nicht in die Erblichkeit, sondern in diese
Berufung, so lag darin das große Geständniß, daß er die Zeit, die des Volkes
Stolz war, in Ehren halten werde" —: so verlangt er damit nichts weniger,
als daß ein Mensch sein inneres Lebenöprincip d. h. den Kern seines Daseins
ausgeben soll. Die Legitimität war für Ludwig XVlII. nicht blos ein Mittel
zum Zweck, sondern eine Idee, die innerhalb der Erscheinungswelt in ernstem
Kampf ihre Berechtigung zu erweisen hatte. Die Ereignisse haben sie wider¬
legt, aber daß sie vor dieser Probe sich selbst aufgeben sollte, ist zu viel verlangt.
Es ist mit diesem „hätte" und „wäre" grade wie mit den Cvnditionalsätzen
bei der Schilderung Napoleons; man muß die großen Erscheinungen der Ge¬
schichte nehmen, wie sie sind, und nicht wie sie nach einem beliebigen Schema¬
tismus hätten sein können. Was übrigens Gervinus über die Erbärm¬
lichkeit der Restauration sagt, hat unsre unbedingte Billigung; und er hat
seine Ueberzeugung so glänzend gerechtfertigt, wie es von ihm zu erwarten
war. — Die Form hätte unendlich gewonnen, wenn Gervinus die ausführliche
Erzählung ganz aufgegeben und sich mit einer Skizze begnügt hätte. Statt
dessen bringt er eine Masse Details an, welche in die Oekonomie einer Skizze
nicht passen, aber nicht genug, um ein vollständiges Bild zu geben. Auf
diese Weise wird die Aufmerksamkeit fortwährend von den Hauptsachen abge¬
lenkt. — Das Capitel hat aber noch einen andern, sehr wichtigen Zweck.
Der glückliche Erfolg eines kühnen Handstreichs hat neuerdings bei einem
großen Theil des Publicums den Bonapartismus d. h. den Grundsatz, daß
erlaubt ist, was gefällt, wenn man es nur durchsetzt, wieder zu Ehren ge-^


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[0454] sein Erbrecht sein einziger Anspruch sei und daß er keinen andern habe, so muß man ihm darin vollkommen Recht geben, wenn man sich in seine Lage versetzt, und aus demselben Rechtsgefühl erklären, daß er die vom Senat ihm angebotene Verfassung verwarf und eine Charte octroyirte. Man mag von der Volkssouveränetät denken, was man will, jedenfalls war der napoleonische Senat, zum großen Theil aus ergrauten Speichelleckern der Gewalt zusammen¬ gesetzt, nicht berechtigt, im Namen des Volks dem legitimen König eine Ver¬ fassung vorzulegen. Der Vergleich mit Wilhelm III. ist ganz unpassend. Wilhelm lit. nahm den Thron nicht kraft des Erbrechts, sondern durch Waffen¬ gewalt ein. Ueber die Art und Weise, wie dies geschah, vereinbarte er sich mit dem Parlament, so gut oder schlecht es gehen konnte. Die Anmuthung, kraft der quäht-legitimen Erbfolge King Comfort zu werden, wies er mit Ent¬ schiedenheit zurück; er blieb König auch nach dem Tode seiner Gemahlin, ohne alle Spur eines Rechts. Wenn also Gervinus S. 66 behauptet: „Nahm Ludwig die Verfassung als einen bindenden Bertrag an, so verscheuchte er jeden Verdacht absolutistischer Hintergedanken; ließ er sich wie jener die Volksernennung gefallen und setzte seinen Rechtsanspruch auf den Thron nicht in die Erblichkeit, sondern in diese Berufung, so lag darin das große Geständniß, daß er die Zeit, die des Volkes Stolz war, in Ehren halten werde" —: so verlangt er damit nichts weniger, als daß ein Mensch sein inneres Lebenöprincip d. h. den Kern seines Daseins ausgeben soll. Die Legitimität war für Ludwig XVlII. nicht blos ein Mittel zum Zweck, sondern eine Idee, die innerhalb der Erscheinungswelt in ernstem Kampf ihre Berechtigung zu erweisen hatte. Die Ereignisse haben sie wider¬ legt, aber daß sie vor dieser Probe sich selbst aufgeben sollte, ist zu viel verlangt. Es ist mit diesem „hätte" und „wäre" grade wie mit den Cvnditionalsätzen bei der Schilderung Napoleons; man muß die großen Erscheinungen der Ge¬ schichte nehmen, wie sie sind, und nicht wie sie nach einem beliebigen Schema¬ tismus hätten sein können. Was übrigens Gervinus über die Erbärm¬ lichkeit der Restauration sagt, hat unsre unbedingte Billigung; und er hat seine Ueberzeugung so glänzend gerechtfertigt, wie es von ihm zu erwarten war. — Die Form hätte unendlich gewonnen, wenn Gervinus die ausführliche Erzählung ganz aufgegeben und sich mit einer Skizze begnügt hätte. Statt dessen bringt er eine Masse Details an, welche in die Oekonomie einer Skizze nicht passen, aber nicht genug, um ein vollständiges Bild zu geben. Auf diese Weise wird die Aufmerksamkeit fortwährend von den Hauptsachen abge¬ lenkt. — Das Capitel hat aber noch einen andern, sehr wichtigen Zweck. Der glückliche Erfolg eines kühnen Handstreichs hat neuerdings bei einem großen Theil des Publicums den Bonapartismus d. h. den Grundsatz, daß erlaubt ist, was gefällt, wenn man es nur durchsetzt, wieder zu Ehren ge-^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/454>, abgerufen am 23.12.2024.