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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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die gesammte Nation, wenn das Unternehmen nicht so ausfällt, wie seine
Freunde es wünschen müssen.

Gervinus bisherige Schriften hatten einen vorwiegend kritischen Zweck,
auch seine Literaturgeschichte. Die Feststellung des Urtheils war ihm überall
wichtiger, als die Vollständigkeit der Erzählung. Daß wir die Spuren dieser
Richtung auch in dem neuen Werke finden würden, haben wir erwartet, aber
sie finden sich in größerem Maße, als es wünschenswert) ist. Mit der
Politischen Geschichte verhält es sich anders, wie mit der literarischen. Die
erste Aufgabe des Geschichtschreibers bleibt immer, genau und deutlich zu er¬
zählen. Zwar müssen wir den ersten Band noch-als Einleitung betrachtn,,
wo also eine gedrängtere Erzählung und ein größeres Hervortreten der Reflexion
erlaubt ist, allein auch innerhalb dieser Schranken hätte sich eine größere Kunst
entfalten können. Die Geschichte ist undeutlich erzählt, für die Auswahl der
einzelnen Thatsachen findet man kein durchgreifendes Princip, über die Zeit¬
folge wird zuweilen ohne Grund weggegangen und Umstände, die zum Ver¬
ständniß nothwendig sind, werden ausgelassen. Wenn Gervinus einen kurzen
Abriß schreiben wollte, so durste er bei seinem Publicum eine vollständige Kennt¬
niß der Thatsachen voraussetze"; bei dem großen Umfang seines Werks mußte
er es aber so einrichten, als ob die Zeit noch niemals historisch behandelt wäre.
-- Gervinus kann sein persönliches Urtheil niemals zurückhalten. Kaum führt er
uns in die Mitte der Ereignisse, so legt er bereits seine Kritik darüber an den Tag.
Schon auf der zweiten Seite, wo er von Napoleon spricht, setzt er weit¬
läufig auseinander, was alles hätte geschehen können, wenn Napoleon dies
oder jenes gethan, dies oder jenes Lelassen hätte, das heißt, wenn Napoleon
nicht Napoleon gewesen wäre; und das geht durch das ganze Buch so fort.
Nun wird zwar jedem Leser daran gelegen sein, zu erfahren, was ein so geist¬
voller Mann wie Gervinus über die Handlungsweise Napoleons und der
übrigen für ein Urtheil fällt; aber eS würde ihm viel lieber sein, wenn dieses
Urtheil sich als Endergebniß der ganzen Betrachtung zum Schluß herausstellte.
Zunächst muß es ihm daraus ankommen, zu erfahren, was Napoleon und die
andern wirklich gethan haben, nicht was sie hätten thun können. -- Diese
voreilige Neigung zur Kritik beeinträchtigt auch die Wahrheit der Charakteristik.
Zwar sind wir weit davon entfernt, von dem Geschichtschreiber zu verlangen,
er solle jede Person, die er einführt, ausführlich schildern, aber bei den eigent¬
lichen Helden des Jahrhunderts kann man verlangen, daß er wenigstens nicht
dazu beiträgt, ihrem Bilde durch kunstwidrige Hervorhebung zufälliger Seiten
eine falsche Färbung zu geben. Am auffallendsten ist dies hier mit dem Frei¬
herrn von Stein geschehen. Steins Kulminationspunkt fällt grade in die Zeit,
wo Gervinus beginnt, und es wäre wol zweckmäßig gewesen, zur Freude und
Erbauung des deutschen Volks von diesem großen Manne ein angemessenes


die gesammte Nation, wenn das Unternehmen nicht so ausfällt, wie seine
Freunde es wünschen müssen.

Gervinus bisherige Schriften hatten einen vorwiegend kritischen Zweck,
auch seine Literaturgeschichte. Die Feststellung des Urtheils war ihm überall
wichtiger, als die Vollständigkeit der Erzählung. Daß wir die Spuren dieser
Richtung auch in dem neuen Werke finden würden, haben wir erwartet, aber
sie finden sich in größerem Maße, als es wünschenswert) ist. Mit der
Politischen Geschichte verhält es sich anders, wie mit der literarischen. Die
erste Aufgabe des Geschichtschreibers bleibt immer, genau und deutlich zu er¬
zählen. Zwar müssen wir den ersten Band noch-als Einleitung betrachtn,,
wo also eine gedrängtere Erzählung und ein größeres Hervortreten der Reflexion
erlaubt ist, allein auch innerhalb dieser Schranken hätte sich eine größere Kunst
entfalten können. Die Geschichte ist undeutlich erzählt, für die Auswahl der
einzelnen Thatsachen findet man kein durchgreifendes Princip, über die Zeit¬
folge wird zuweilen ohne Grund weggegangen und Umstände, die zum Ver¬
ständniß nothwendig sind, werden ausgelassen. Wenn Gervinus einen kurzen
Abriß schreiben wollte, so durste er bei seinem Publicum eine vollständige Kennt¬
niß der Thatsachen voraussetze»; bei dem großen Umfang seines Werks mußte
er es aber so einrichten, als ob die Zeit noch niemals historisch behandelt wäre.
— Gervinus kann sein persönliches Urtheil niemals zurückhalten. Kaum führt er
uns in die Mitte der Ereignisse, so legt er bereits seine Kritik darüber an den Tag.
Schon auf der zweiten Seite, wo er von Napoleon spricht, setzt er weit¬
läufig auseinander, was alles hätte geschehen können, wenn Napoleon dies
oder jenes gethan, dies oder jenes Lelassen hätte, das heißt, wenn Napoleon
nicht Napoleon gewesen wäre; und das geht durch das ganze Buch so fort.
Nun wird zwar jedem Leser daran gelegen sein, zu erfahren, was ein so geist¬
voller Mann wie Gervinus über die Handlungsweise Napoleons und der
übrigen für ein Urtheil fällt; aber eS würde ihm viel lieber sein, wenn dieses
Urtheil sich als Endergebniß der ganzen Betrachtung zum Schluß herausstellte.
Zunächst muß es ihm daraus ankommen, zu erfahren, was Napoleon und die
andern wirklich gethan haben, nicht was sie hätten thun können. — Diese
voreilige Neigung zur Kritik beeinträchtigt auch die Wahrheit der Charakteristik.
Zwar sind wir weit davon entfernt, von dem Geschichtschreiber zu verlangen,
er solle jede Person, die er einführt, ausführlich schildern, aber bei den eigent¬
lichen Helden des Jahrhunderts kann man verlangen, daß er wenigstens nicht
dazu beiträgt, ihrem Bilde durch kunstwidrige Hervorhebung zufälliger Seiten
eine falsche Färbung zu geben. Am auffallendsten ist dies hier mit dem Frei¬
herrn von Stein geschehen. Steins Kulminationspunkt fällt grade in die Zeit,
wo Gervinus beginnt, und es wäre wol zweckmäßig gewesen, zur Freude und
Erbauung des deutschen Volks von diesem großen Manne ein angemessenes


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/451>, abgerufen am 22.12.2024.