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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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über den ganzen Continent. Die Untersuchung ist ohne Resultat zu Ende ge¬
suhlt, die radicale Opposition hat eine Pause gemacht, und alle Blicke wenden
sich nach Paris, wo in den glänzendsten Festen, die seit dem wiener Congreß
das Jahrhundert gesehen, die beiden verbündeten Völker ihre Noth und Sorge
ZU vergessen scheinen.

Der Besuch der Königin von England in der Hauptstadt eines Landes,
das seit vielen Jahrhunderten der bedeutendste Rival der britischen Macht war,
ist unzweifelhaft ein wichtiges Ereigniß, aber nicht wegen seiner unmittelbaren
Folgen, sondern als Symptom. Es wirken soviele Umstände mit, um das
Ungewöhnliche desselben ans Licht zu stellen: die Ungewöhnlichkeit der That¬
sache an sich, die bedenkliche Stellung einer legitimen Fürstin einem Herrscher
gegenüber, der sich selbst noch vor kurzer Zeit einen Parvenu nannte und mit
einer gewissen herausfordernden Sprache seine Heirath mit einer Unebenbür¬
tigen verkündete, vor allem aber die intimen Beziehungen der Königin Victoria
M der orleanschen Dynastie, die sich über den neuen Kaiser der Franzosen
nicht blos in staatsrechtlicher, sondern auch in civilrechtlicher Beziehung zu
beklagen hat. Daß alle diese Bedenken überwunden sind, Bedenken, die noch
iur Zeit des Staatsstreichs so mächtig waren, daß sie den Sturz Palmerstons
herbeiführten, zeigt uns deutlich, wiesehr die Bedeutung persönlicher Bezie-,
hunger innerhalb der großen Politik geschwunden ist. Zwar haben die Per¬
sönlichkeiten zu dem Ereigniß viel beigetragen, denn die Königin Victoria ist
ein ganz seltenes Beispiel von dem völligen Aufgehen eines Regenten in die
Sympathien seines Volks, und Napoleon III. hat es verstanden, den Schritt
wesentlich zu erleichtern; aber die Hauptsache bleibt doch die Beziehung der
Völker zueinander. Die Verbrüderung der Engländer und Franzosen, die in
der Krim aus eine so heroische Weise durchgeführt wird, mußte auch in den
unbeschäftigten, genießenden Classen Anklang finden, und namentlich sür die
Franzosen nimmt jedes wichtige Ereigniß die Form eines- Schauspiels an.
Ein Schauspiel ist es, was wir in Paris vor uns sehen, aber ein Schauspiel
voller Bedeutung, denn die verbündeten Mächte zeigen dadurch der Welt, daß es
ihr ernster Wille ist, ihr Bündniß, d. h. den Krieg gegen Rußland, fortzusetzen.

Für uns kann diese Thatsache nur erwünscht sein. Durch das Bündniß
dieser beiden Staaten wird der natürliche Egoismus ihrer Politik auf eine
ideelle Bahn gelenkt und vor gefährlichen Wendungen behütet- Solange die
beiden Staaten in ihren auswärtigen Beziehungen gesondert zu Werke gehen,
müssen vie Nachbarn das Schlimmste von ihnen fürchten; in ihrer Verbindung
aber beschränken sie sich gegenseitig, und Handstreiche aus Belgien, die Rhein-
Provinz und dergleichen sind ganz außer Frage.

Der feste Entschluß, den Krieg fortzuführen, wird durch die innere Noth¬
wendigkeit der Dinge zu Folgerungen führen, die für Europa nur heilsam sein


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über den ganzen Continent. Die Untersuchung ist ohne Resultat zu Ende ge¬
suhlt, die radicale Opposition hat eine Pause gemacht, und alle Blicke wenden
sich nach Paris, wo in den glänzendsten Festen, die seit dem wiener Congreß
das Jahrhundert gesehen, die beiden verbündeten Völker ihre Noth und Sorge
ZU vergessen scheinen.

Der Besuch der Königin von England in der Hauptstadt eines Landes,
das seit vielen Jahrhunderten der bedeutendste Rival der britischen Macht war,
ist unzweifelhaft ein wichtiges Ereigniß, aber nicht wegen seiner unmittelbaren
Folgen, sondern als Symptom. Es wirken soviele Umstände mit, um das
Ungewöhnliche desselben ans Licht zu stellen: die Ungewöhnlichkeit der That¬
sache an sich, die bedenkliche Stellung einer legitimen Fürstin einem Herrscher
gegenüber, der sich selbst noch vor kurzer Zeit einen Parvenu nannte und mit
einer gewissen herausfordernden Sprache seine Heirath mit einer Unebenbür¬
tigen verkündete, vor allem aber die intimen Beziehungen der Königin Victoria
M der orleanschen Dynastie, die sich über den neuen Kaiser der Franzosen
nicht blos in staatsrechtlicher, sondern auch in civilrechtlicher Beziehung zu
beklagen hat. Daß alle diese Bedenken überwunden sind, Bedenken, die noch
iur Zeit des Staatsstreichs so mächtig waren, daß sie den Sturz Palmerstons
herbeiführten, zeigt uns deutlich, wiesehr die Bedeutung persönlicher Bezie-,
hunger innerhalb der großen Politik geschwunden ist. Zwar haben die Per¬
sönlichkeiten zu dem Ereigniß viel beigetragen, denn die Königin Victoria ist
ein ganz seltenes Beispiel von dem völligen Aufgehen eines Regenten in die
Sympathien seines Volks, und Napoleon III. hat es verstanden, den Schritt
wesentlich zu erleichtern; aber die Hauptsache bleibt doch die Beziehung der
Völker zueinander. Die Verbrüderung der Engländer und Franzosen, die in
der Krim aus eine so heroische Weise durchgeführt wird, mußte auch in den
unbeschäftigten, genießenden Classen Anklang finden, und namentlich sür die
Franzosen nimmt jedes wichtige Ereigniß die Form eines- Schauspiels an.
Ein Schauspiel ist es, was wir in Paris vor uns sehen, aber ein Schauspiel
voller Bedeutung, denn die verbündeten Mächte zeigen dadurch der Welt, daß es
ihr ernster Wille ist, ihr Bündniß, d. h. den Krieg gegen Rußland, fortzusetzen.

Für uns kann diese Thatsache nur erwünscht sein. Durch das Bündniß
dieser beiden Staaten wird der natürliche Egoismus ihrer Politik auf eine
ideelle Bahn gelenkt und vor gefährlichen Wendungen behütet- Solange die
beiden Staaten in ihren auswärtigen Beziehungen gesondert zu Werke gehen,
müssen vie Nachbarn das Schlimmste von ihnen fürchten; in ihrer Verbindung
aber beschränken sie sich gegenseitig, und Handstreiche aus Belgien, die Rhein-
Provinz und dergleichen sind ganz außer Frage.

Der feste Entschluß, den Krieg fortzuführen, wird durch die innere Noth¬
wendigkeit der Dinge zu Folgerungen führen, die für Europa nur heilsam sein


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[0433] über den ganzen Continent. Die Untersuchung ist ohne Resultat zu Ende ge¬ suhlt, die radicale Opposition hat eine Pause gemacht, und alle Blicke wenden sich nach Paris, wo in den glänzendsten Festen, die seit dem wiener Congreß das Jahrhundert gesehen, die beiden verbündeten Völker ihre Noth und Sorge ZU vergessen scheinen. Der Besuch der Königin von England in der Hauptstadt eines Landes, das seit vielen Jahrhunderten der bedeutendste Rival der britischen Macht war, ist unzweifelhaft ein wichtiges Ereigniß, aber nicht wegen seiner unmittelbaren Folgen, sondern als Symptom. Es wirken soviele Umstände mit, um das Ungewöhnliche desselben ans Licht zu stellen: die Ungewöhnlichkeit der That¬ sache an sich, die bedenkliche Stellung einer legitimen Fürstin einem Herrscher gegenüber, der sich selbst noch vor kurzer Zeit einen Parvenu nannte und mit einer gewissen herausfordernden Sprache seine Heirath mit einer Unebenbür¬ tigen verkündete, vor allem aber die intimen Beziehungen der Königin Victoria M der orleanschen Dynastie, die sich über den neuen Kaiser der Franzosen nicht blos in staatsrechtlicher, sondern auch in civilrechtlicher Beziehung zu beklagen hat. Daß alle diese Bedenken überwunden sind, Bedenken, die noch iur Zeit des Staatsstreichs so mächtig waren, daß sie den Sturz Palmerstons herbeiführten, zeigt uns deutlich, wiesehr die Bedeutung persönlicher Bezie-, hunger innerhalb der großen Politik geschwunden ist. Zwar haben die Per¬ sönlichkeiten zu dem Ereigniß viel beigetragen, denn die Königin Victoria ist ein ganz seltenes Beispiel von dem völligen Aufgehen eines Regenten in die Sympathien seines Volks, und Napoleon III. hat es verstanden, den Schritt wesentlich zu erleichtern; aber die Hauptsache bleibt doch die Beziehung der Völker zueinander. Die Verbrüderung der Engländer und Franzosen, die in der Krim aus eine so heroische Weise durchgeführt wird, mußte auch in den unbeschäftigten, genießenden Classen Anklang finden, und namentlich sür die Franzosen nimmt jedes wichtige Ereigniß die Form eines- Schauspiels an. Ein Schauspiel ist es, was wir in Paris vor uns sehen, aber ein Schauspiel voller Bedeutung, denn die verbündeten Mächte zeigen dadurch der Welt, daß es ihr ernster Wille ist, ihr Bündniß, d. h. den Krieg gegen Rußland, fortzusetzen. Für uns kann diese Thatsache nur erwünscht sein. Durch das Bündniß dieser beiden Staaten wird der natürliche Egoismus ihrer Politik auf eine ideelle Bahn gelenkt und vor gefährlichen Wendungen behütet- Solange die beiden Staaten in ihren auswärtigen Beziehungen gesondert zu Werke gehen, müssen vie Nachbarn das Schlimmste von ihnen fürchten; in ihrer Verbindung aber beschränken sie sich gegenseitig, und Handstreiche aus Belgien, die Rhein- Provinz und dergleichen sind ganz außer Frage. Der feste Entschluß, den Krieg fortzuführen, wird durch die innere Noth¬ wendigkeit der Dinge zu Folgerungen führen, die für Europa nur heilsam sein Grenjlwtm. III. 18öl>. 5i

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/433>, abgerufen am 22.07.2024.