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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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von sich. Er brüllte eine halbe Stunde vor dem Duar und raubte um Mitter¬
nacht ein Schaf, wenige Schritte von Gepards Zelt. Am nächsten Morgen
kam Gerards arabischer Kundschafter Amar Ben Sipha freudestrahlend mit
der Nachricht, daß er das Lager des Löwen entdeckt habe. Es war im Walde,
mitten im dichten Gebüsch und deshalb ein directer Angriff nicht ausführbar,
weshalb sich Gerard entschloß, eine lebendige Lockspeise anzuwenden. Lassen
wir ihn nun selbst erzählen. "Am 26. Abends um 7 Uhr brach ich mit
meinem Spahi Hamida und zwei Kundschaftern auf, welche meine Waffen
trugen und eine Ziege führten. Das Lager des Löwen befand sich am süd¬
lichen AbHange, wenigstens hundert Schritte von der Schlucht, in welcher ein
Bach floß. Am entgegengesetzten Hange in dieser Schlucht sah ich eine etwa
fünfzehn Ellen breite Lichtung, um welche große Bäume standen und die
wenigstens 160 Schritte von dem Löwenlager entfernt war.

Wahrend einer meiner Leute die Ziege an eine Wurzel in die Mitte der
Lichtung band und die andern mir meine Waffen reichten, zeigte sich uns der
Löwe am Fuße des sogenannten Löwenfelsen und sah uns zu.- Ich begab mich
rasch an den Waldsaum, dem Löwen gegenüber, fünf bis sechs Schritte von
der Ziege, die laut meckerte, als die Leute sich entfernten und alle ihre Kraft
aufbot, sich loszureißen und zu mir zu kommen.

Der Löwe war verschwunden. Er kam ohne Zweifel im Schatten der
hohen Bäume her, so daß ich ihn nicht sehen konnte. Ich hatte mit dem Dolche
^uige Zweige abgeschnitten, die mir bei dem Schießen hinderlich sein konnten
und wollte mich eben setzen, als die Ziege auf einmal ganz still wurde, an allen
Gliedern zitterte und bald nach mir, bald nach der Schlucht hinsah, als wollte
ste sagen: "Der Löwe ist da, ich ahne es; er wird kommen, ich höre ihn; er
kommt, ich sehe ihn." Ich sah ihn auch. Er kam langsam die Schlucht her¬
auf und blieb am Rande der Lichtung, zwölf Schritte von mir stehen. Seine
breite Stirn war ein schöner Zielpunkt. Zweimal senkte ich die Büchse, zwei¬
mal zielte ich zwischen die beiden Augen, zweimal berührte mein Finger bereits
leise den Drücker, aber ich drückte noch nicht ab. Seit zwei Jahren hatte ich
keinen so großen, keinen so schönen, keinen so majestätischen Löwen gesehen
und ich konnte nicht schießen, ohne ihn vorher genau betrachtet zu haben. Was
>se ein todter Löwe? Was ist eine schöne Frau im Sarge? Schönheit ohne
Leben, also -- Häßlichkeit. Das edle Thier hatte sich niedergelegt, als wisse
es, daß ich Bewunderung empfand, schlug die beiden ungeheuern Tatzen über¬
einander und legte leicht den Kopf darauf, wie auf ein Kissen. Ohne im
mindesten die Ziege zu beachten, welche durch die Furcht gelähmt war, be¬
trachtete der Löwe mit besonderem Interesse mich, indem er bald mit den
Augen blinzelte, was ihm ein höchst gutmüthiges Aussehen gab, bald die
Augen ganz aufschlug, so daß ich unwillkürlich mein Gewehr fester faßte. Er


von sich. Er brüllte eine halbe Stunde vor dem Duar und raubte um Mitter¬
nacht ein Schaf, wenige Schritte von Gepards Zelt. Am nächsten Morgen
kam Gerards arabischer Kundschafter Amar Ben Sipha freudestrahlend mit
der Nachricht, daß er das Lager des Löwen entdeckt habe. Es war im Walde,
mitten im dichten Gebüsch und deshalb ein directer Angriff nicht ausführbar,
weshalb sich Gerard entschloß, eine lebendige Lockspeise anzuwenden. Lassen
wir ihn nun selbst erzählen. „Am 26. Abends um 7 Uhr brach ich mit
meinem Spahi Hamida und zwei Kundschaftern auf, welche meine Waffen
trugen und eine Ziege führten. Das Lager des Löwen befand sich am süd¬
lichen AbHange, wenigstens hundert Schritte von der Schlucht, in welcher ein
Bach floß. Am entgegengesetzten Hange in dieser Schlucht sah ich eine etwa
fünfzehn Ellen breite Lichtung, um welche große Bäume standen und die
wenigstens 160 Schritte von dem Löwenlager entfernt war.

Wahrend einer meiner Leute die Ziege an eine Wurzel in die Mitte der
Lichtung band und die andern mir meine Waffen reichten, zeigte sich uns der
Löwe am Fuße des sogenannten Löwenfelsen und sah uns zu.- Ich begab mich
rasch an den Waldsaum, dem Löwen gegenüber, fünf bis sechs Schritte von
der Ziege, die laut meckerte, als die Leute sich entfernten und alle ihre Kraft
aufbot, sich loszureißen und zu mir zu kommen.

Der Löwe war verschwunden. Er kam ohne Zweifel im Schatten der
hohen Bäume her, so daß ich ihn nicht sehen konnte. Ich hatte mit dem Dolche
^uige Zweige abgeschnitten, die mir bei dem Schießen hinderlich sein konnten
und wollte mich eben setzen, als die Ziege auf einmal ganz still wurde, an allen
Gliedern zitterte und bald nach mir, bald nach der Schlucht hinsah, als wollte
ste sagen: „Der Löwe ist da, ich ahne es; er wird kommen, ich höre ihn; er
kommt, ich sehe ihn." Ich sah ihn auch. Er kam langsam die Schlucht her¬
auf und blieb am Rande der Lichtung, zwölf Schritte von mir stehen. Seine
breite Stirn war ein schöner Zielpunkt. Zweimal senkte ich die Büchse, zwei¬
mal zielte ich zwischen die beiden Augen, zweimal berührte mein Finger bereits
leise den Drücker, aber ich drückte noch nicht ab. Seit zwei Jahren hatte ich
keinen so großen, keinen so schönen, keinen so majestätischen Löwen gesehen
und ich konnte nicht schießen, ohne ihn vorher genau betrachtet zu haben. Was
>se ein todter Löwe? Was ist eine schöne Frau im Sarge? Schönheit ohne
Leben, also — Häßlichkeit. Das edle Thier hatte sich niedergelegt, als wisse
es, daß ich Bewunderung empfand, schlug die beiden ungeheuern Tatzen über¬
einander und legte leicht den Kopf darauf, wie auf ein Kissen. Ohne im
mindesten die Ziege zu beachten, welche durch die Furcht gelähmt war, be¬
trachtete der Löwe mit besonderem Interesse mich, indem er bald mit den
Augen blinzelte, was ihm ein höchst gutmüthiges Aussehen gab, bald die
Augen ganz aufschlug, so daß ich unwillkürlich mein Gewehr fester faßte. Er


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[0429] von sich. Er brüllte eine halbe Stunde vor dem Duar und raubte um Mitter¬ nacht ein Schaf, wenige Schritte von Gepards Zelt. Am nächsten Morgen kam Gerards arabischer Kundschafter Amar Ben Sipha freudestrahlend mit der Nachricht, daß er das Lager des Löwen entdeckt habe. Es war im Walde, mitten im dichten Gebüsch und deshalb ein directer Angriff nicht ausführbar, weshalb sich Gerard entschloß, eine lebendige Lockspeise anzuwenden. Lassen wir ihn nun selbst erzählen. „Am 26. Abends um 7 Uhr brach ich mit meinem Spahi Hamida und zwei Kundschaftern auf, welche meine Waffen trugen und eine Ziege führten. Das Lager des Löwen befand sich am süd¬ lichen AbHange, wenigstens hundert Schritte von der Schlucht, in welcher ein Bach floß. Am entgegengesetzten Hange in dieser Schlucht sah ich eine etwa fünfzehn Ellen breite Lichtung, um welche große Bäume standen und die wenigstens 160 Schritte von dem Löwenlager entfernt war. Wahrend einer meiner Leute die Ziege an eine Wurzel in die Mitte der Lichtung band und die andern mir meine Waffen reichten, zeigte sich uns der Löwe am Fuße des sogenannten Löwenfelsen und sah uns zu.- Ich begab mich rasch an den Waldsaum, dem Löwen gegenüber, fünf bis sechs Schritte von der Ziege, die laut meckerte, als die Leute sich entfernten und alle ihre Kraft aufbot, sich loszureißen und zu mir zu kommen. Der Löwe war verschwunden. Er kam ohne Zweifel im Schatten der hohen Bäume her, so daß ich ihn nicht sehen konnte. Ich hatte mit dem Dolche ^uige Zweige abgeschnitten, die mir bei dem Schießen hinderlich sein konnten und wollte mich eben setzen, als die Ziege auf einmal ganz still wurde, an allen Gliedern zitterte und bald nach mir, bald nach der Schlucht hinsah, als wollte ste sagen: „Der Löwe ist da, ich ahne es; er wird kommen, ich höre ihn; er kommt, ich sehe ihn." Ich sah ihn auch. Er kam langsam die Schlucht her¬ auf und blieb am Rande der Lichtung, zwölf Schritte von mir stehen. Seine breite Stirn war ein schöner Zielpunkt. Zweimal senkte ich die Büchse, zwei¬ mal zielte ich zwischen die beiden Augen, zweimal berührte mein Finger bereits leise den Drücker, aber ich drückte noch nicht ab. Seit zwei Jahren hatte ich keinen so großen, keinen so schönen, keinen so majestätischen Löwen gesehen und ich konnte nicht schießen, ohne ihn vorher genau betrachtet zu haben. Was >se ein todter Löwe? Was ist eine schöne Frau im Sarge? Schönheit ohne Leben, also — Häßlichkeit. Das edle Thier hatte sich niedergelegt, als wisse es, daß ich Bewunderung empfand, schlug die beiden ungeheuern Tatzen über¬ einander und legte leicht den Kopf darauf, wie auf ein Kissen. Ohne im mindesten die Ziege zu beachten, welche durch die Furcht gelähmt war, be¬ trachtete der Löwe mit besonderem Interesse mich, indem er bald mit den Augen blinzelte, was ihm ein höchst gutmüthiges Aussehen gab, bald die Augen ganz aufschlug, so daß ich unwillkürlich mein Gewehr fester faßte. Er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/429>, abgerufen am 22.07.2024.