Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

gesetzt werden muß, legt sich ein Ernst über Stirn und Augen des Lord und sein
Haupt neigt sich mit schärferem firirenden Blick nach vornen. Hume, das alte .
Parlamentmitglied, nennt diese Miene Palmerstonö den "römischen Censor".
Macaulav ist selbst im Augenblicke, wo er begeistert oder entrüstet, von dem
Interesse für einen Gegenstand über die Linie, wo Kopf und Herz gleichmäßig
herrschen, gehoben wirb, verführerisch für Aug und Ohr. Palmerston aber
wirft alles nieder, was im Zuhörer vertrauend sich ihm genähert hal; er er¬
schüttert dann alle, und nur starke oder geübte Männer pariren den Stoß und
brechen in Cheers aus, Neulinge oder halbe Charaktere stimmen betäubt in den
Chorus mit ein. Die Nachwirkung bei den Zuhörern ist bei Macaulay eine
ungemein wohlthuende, anziehende. Man möchte dein Mann sich nähern, ihn
genauer kennen lernen, sein Freund werden. Von Palmerston wird man un¬
willkürlich festgebannt, beherrscht, unterjocht. Macaulay ist der Geist, Palmer¬
ston die That der Humanität."

Es ist einige Wochen her, daß wir das Vorstehende geschrieben. Folgten
wir dem Strome des Tagesgesprächs, so müßten wir heute so ziemlich das
grade Gegentheil zu Papier bringen; wir müßten in den Ruf einstimmen:
daß man sich getäuscht, baß Palmerston sich überlebt habe, von ber Zeit und
ihren großen Ansprüchen überholt, ja baß er so ziemlich bereits unter "das
alte Eisen" geworfen sei, stehe auch sein Name noch an ber Spitze deS eng¬
lischen Cabinets. Seltsames Geoahren in einer Zeit, die es kaum für möglich
hielt, aus dem langen Friedcnstraume durch einen Trompeteilruf des wirklichen
Kriegs aufgeschreckt werden zu können und nachdem dies geschehen, ebensowenig
begreifen kann, baß nun auf einmal die Obysseuse nicht sofort zu Unsitten
geworden. Schon drei Monate ist Palmerston Premierminister uno noch ist
England nicht umresormirt, seine Armeeverwaltung scheinbar noch die alte,
sein Heer noch nicht verdreifacht! Wir haben guten Grund zu der Annahme,
daß ein großer Theil derer, die eine ähnliche Verwunderung mit besonderer
Beflissenheit auskramen, grabe zu denen gehören, die zu Hause die zärtlichsten
Freunde jebe'r -- Nichtreform sind. Die idem- unb willenlose Schwäche
fordert die Stärke bei andern oder stellt sich wenigstens so, um aus deren
vermeintlichen Mangel die Gründe ihres offnen Tadels und ihrer heimlichen
Befriedigung schöpfen zu können. Große weltgeschichtliche Krisen haben selten
schon bei ihrem Beginne ihre Träger unb rechten Helden bei der Hand; es
mag in ihrem Verlaufe manche Größe fallen, mancher Name beseitigt werben;
aber sind letztere deshalb wirklich nur klein gewesen? Hat man Palmerston
für einen Wunderthäter gehalten? Wir wissen wol, baß man eS einmal für
räthlich gehalten, aus ihm einen revolutionären Feuerbrand zu machen, eine
Art Popanz, ber dann die andre Partei freilich in richtiger Parteilogik,, aber


gesetzt werden muß, legt sich ein Ernst über Stirn und Augen des Lord und sein
Haupt neigt sich mit schärferem firirenden Blick nach vornen. Hume, das alte .
Parlamentmitglied, nennt diese Miene Palmerstonö den „römischen Censor".
Macaulav ist selbst im Augenblicke, wo er begeistert oder entrüstet, von dem
Interesse für einen Gegenstand über die Linie, wo Kopf und Herz gleichmäßig
herrschen, gehoben wirb, verführerisch für Aug und Ohr. Palmerston aber
wirft alles nieder, was im Zuhörer vertrauend sich ihm genähert hal; er er¬
schüttert dann alle, und nur starke oder geübte Männer pariren den Stoß und
brechen in Cheers aus, Neulinge oder halbe Charaktere stimmen betäubt in den
Chorus mit ein. Die Nachwirkung bei den Zuhörern ist bei Macaulay eine
ungemein wohlthuende, anziehende. Man möchte dein Mann sich nähern, ihn
genauer kennen lernen, sein Freund werden. Von Palmerston wird man un¬
willkürlich festgebannt, beherrscht, unterjocht. Macaulay ist der Geist, Palmer¬
ston die That der Humanität."

Es ist einige Wochen her, daß wir das Vorstehende geschrieben. Folgten
wir dem Strome des Tagesgesprächs, so müßten wir heute so ziemlich das
grade Gegentheil zu Papier bringen; wir müßten in den Ruf einstimmen:
daß man sich getäuscht, baß Palmerston sich überlebt habe, von ber Zeit und
ihren großen Ansprüchen überholt, ja baß er so ziemlich bereits unter „das
alte Eisen" geworfen sei, stehe auch sein Name noch an ber Spitze deS eng¬
lischen Cabinets. Seltsames Geoahren in einer Zeit, die es kaum für möglich
hielt, aus dem langen Friedcnstraume durch einen Trompeteilruf des wirklichen
Kriegs aufgeschreckt werden zu können und nachdem dies geschehen, ebensowenig
begreifen kann, baß nun auf einmal die Obysseuse nicht sofort zu Unsitten
geworden. Schon drei Monate ist Palmerston Premierminister uno noch ist
England nicht umresormirt, seine Armeeverwaltung scheinbar noch die alte,
sein Heer noch nicht verdreifacht! Wir haben guten Grund zu der Annahme,
daß ein großer Theil derer, die eine ähnliche Verwunderung mit besonderer
Beflissenheit auskramen, grabe zu denen gehören, die zu Hause die zärtlichsten
Freunde jebe'r — Nichtreform sind. Die idem- unb willenlose Schwäche
fordert die Stärke bei andern oder stellt sich wenigstens so, um aus deren
vermeintlichen Mangel die Gründe ihres offnen Tadels und ihrer heimlichen
Befriedigung schöpfen zu können. Große weltgeschichtliche Krisen haben selten
schon bei ihrem Beginne ihre Träger unb rechten Helden bei der Hand; es
mag in ihrem Verlaufe manche Größe fallen, mancher Name beseitigt werben;
aber sind letztere deshalb wirklich nur klein gewesen? Hat man Palmerston
für einen Wunderthäter gehalten? Wir wissen wol, baß man eS einmal für
räthlich gehalten, aus ihm einen revolutionären Feuerbrand zu machen, eine
Art Popanz, ber dann die andre Partei freilich in richtiger Parteilogik,, aber


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0042" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99962"/>
          <p xml:id="ID_96" prev="#ID_95"> gesetzt werden muß, legt sich ein Ernst über Stirn und Augen des Lord und sein<lb/>
Haupt neigt sich mit schärferem firirenden Blick nach vornen. Hume, das alte .<lb/>
Parlamentmitglied, nennt diese Miene Palmerstonö den &#x201E;römischen Censor".<lb/>
Macaulav ist selbst im Augenblicke, wo er begeistert oder entrüstet, von dem<lb/>
Interesse für einen Gegenstand über die Linie, wo Kopf und Herz gleichmäßig<lb/>
herrschen, gehoben wirb, verführerisch für Aug und Ohr. Palmerston aber<lb/>
wirft alles nieder, was im Zuhörer vertrauend sich ihm genähert hal; er er¬<lb/>
schüttert dann alle, und nur starke oder geübte Männer pariren den Stoß und<lb/>
brechen in Cheers aus, Neulinge oder halbe Charaktere stimmen betäubt in den<lb/>
Chorus mit ein. Die Nachwirkung bei den Zuhörern ist bei Macaulay eine<lb/>
ungemein wohlthuende, anziehende. Man möchte dein Mann sich nähern, ihn<lb/>
genauer kennen lernen, sein Freund werden. Von Palmerston wird man un¬<lb/>
willkürlich festgebannt, beherrscht, unterjocht. Macaulay ist der Geist, Palmer¬<lb/>
ston die That der Humanität."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_97" next="#ID_98"> Es ist einige Wochen her, daß wir das Vorstehende geschrieben. Folgten<lb/>
wir dem Strome des Tagesgesprächs, so müßten wir heute so ziemlich das<lb/>
grade Gegentheil zu Papier bringen; wir müßten in den Ruf einstimmen:<lb/>
daß man sich getäuscht, baß Palmerston sich überlebt habe, von ber Zeit und<lb/>
ihren großen Ansprüchen überholt, ja baß er so ziemlich bereits unter &#x201E;das<lb/>
alte Eisen" geworfen sei, stehe auch sein Name noch an ber Spitze deS eng¬<lb/>
lischen Cabinets. Seltsames Geoahren in einer Zeit, die es kaum für möglich<lb/>
hielt, aus dem langen Friedcnstraume durch einen Trompeteilruf des wirklichen<lb/>
Kriegs aufgeschreckt werden zu können und nachdem dies geschehen, ebensowenig<lb/>
begreifen kann, baß nun auf einmal die Obysseuse nicht sofort zu Unsitten<lb/>
geworden. Schon drei Monate ist Palmerston Premierminister uno noch ist<lb/>
England nicht umresormirt, seine Armeeverwaltung scheinbar noch die alte,<lb/>
sein Heer noch nicht verdreifacht! Wir haben guten Grund zu der Annahme,<lb/>
daß ein großer Theil derer, die eine ähnliche Verwunderung mit besonderer<lb/>
Beflissenheit auskramen, grabe zu denen gehören, die zu Hause die zärtlichsten<lb/>
Freunde jebe'r &#x2014; Nichtreform sind. Die idem- unb willenlose Schwäche<lb/>
fordert die Stärke bei andern oder stellt sich wenigstens so, um aus deren<lb/>
vermeintlichen Mangel die Gründe ihres offnen Tadels und ihrer heimlichen<lb/>
Befriedigung schöpfen zu können. Große weltgeschichtliche Krisen haben selten<lb/>
schon bei ihrem Beginne ihre Träger unb rechten Helden bei der Hand; es<lb/>
mag in ihrem Verlaufe manche Größe fallen, mancher Name beseitigt werben;<lb/>
aber sind letztere deshalb wirklich nur klein gewesen? Hat man Palmerston<lb/>
für einen Wunderthäter gehalten? Wir wissen wol, baß man eS einmal für<lb/>
räthlich gehalten, aus ihm einen revolutionären Feuerbrand zu machen, eine<lb/>
Art Popanz, ber dann die andre Partei freilich in richtiger Parteilogik,, aber</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0042] gesetzt werden muß, legt sich ein Ernst über Stirn und Augen des Lord und sein Haupt neigt sich mit schärferem firirenden Blick nach vornen. Hume, das alte . Parlamentmitglied, nennt diese Miene Palmerstonö den „römischen Censor". Macaulav ist selbst im Augenblicke, wo er begeistert oder entrüstet, von dem Interesse für einen Gegenstand über die Linie, wo Kopf und Herz gleichmäßig herrschen, gehoben wirb, verführerisch für Aug und Ohr. Palmerston aber wirft alles nieder, was im Zuhörer vertrauend sich ihm genähert hal; er er¬ schüttert dann alle, und nur starke oder geübte Männer pariren den Stoß und brechen in Cheers aus, Neulinge oder halbe Charaktere stimmen betäubt in den Chorus mit ein. Die Nachwirkung bei den Zuhörern ist bei Macaulay eine ungemein wohlthuende, anziehende. Man möchte dein Mann sich nähern, ihn genauer kennen lernen, sein Freund werden. Von Palmerston wird man un¬ willkürlich festgebannt, beherrscht, unterjocht. Macaulay ist der Geist, Palmer¬ ston die That der Humanität." Es ist einige Wochen her, daß wir das Vorstehende geschrieben. Folgten wir dem Strome des Tagesgesprächs, so müßten wir heute so ziemlich das grade Gegentheil zu Papier bringen; wir müßten in den Ruf einstimmen: daß man sich getäuscht, baß Palmerston sich überlebt habe, von ber Zeit und ihren großen Ansprüchen überholt, ja baß er so ziemlich bereits unter „das alte Eisen" geworfen sei, stehe auch sein Name noch an ber Spitze deS eng¬ lischen Cabinets. Seltsames Geoahren in einer Zeit, die es kaum für möglich hielt, aus dem langen Friedcnstraume durch einen Trompeteilruf des wirklichen Kriegs aufgeschreckt werden zu können und nachdem dies geschehen, ebensowenig begreifen kann, baß nun auf einmal die Obysseuse nicht sofort zu Unsitten geworden. Schon drei Monate ist Palmerston Premierminister uno noch ist England nicht umresormirt, seine Armeeverwaltung scheinbar noch die alte, sein Heer noch nicht verdreifacht! Wir haben guten Grund zu der Annahme, daß ein großer Theil derer, die eine ähnliche Verwunderung mit besonderer Beflissenheit auskramen, grabe zu denen gehören, die zu Hause die zärtlichsten Freunde jebe'r — Nichtreform sind. Die idem- unb willenlose Schwäche fordert die Stärke bei andern oder stellt sich wenigstens so, um aus deren vermeintlichen Mangel die Gründe ihres offnen Tadels und ihrer heimlichen Befriedigung schöpfen zu können. Große weltgeschichtliche Krisen haben selten schon bei ihrem Beginne ihre Träger unb rechten Helden bei der Hand; es mag in ihrem Verlaufe manche Größe fallen, mancher Name beseitigt werben; aber sind letztere deshalb wirklich nur klein gewesen? Hat man Palmerston für einen Wunderthäter gehalten? Wir wissen wol, baß man eS einmal für räthlich gehalten, aus ihm einen revolutionären Feuerbrand zu machen, eine Art Popanz, ber dann die andre Partei freilich in richtiger Parteilogik,, aber

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/42
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/42>, abgerufen am 22.07.2024.