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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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wird, namentlich wenn sich derselbe durch die Höhe des wissenschaftlichen Stand¬
punkts nicht rechtfertigt. Zum Schluß spricht sich der Verfasser über die leidi¬
gen Menschen aus, welche die Mittelstraße gehen wollen. "Sie finden, die
Vernunft müsse ihre Rechte haben, jedoch nicht minder der Glaube. Sie
wollen einen Frieden vermitteln, wie voriges Jahr die vier Machte zwischen
Russen und Türken. Der Usurpator soll einiges von seinen Ansprüchen fahren
lassen, aber der angegriffene Theil sich auch zu Opfern verstehen. Der Glaube
soll die allzu revoltirenden Ingredienzien ausscheiden, dafür soll dann die Ver¬
nunft um des lieben Friedens willen sich zusammennehmen und den Nest der
Mirtur ohne den Mund zu verziehen getrost hinunterschlucken. Wir dagegen
wählen einen Weg, bei welchem beide Theile zu ihrem vollen Rechte kommen.
Wir glauben nämlich just das, was wir wissen. Wovon wir das grade
Gegentheil wissen, das verwerfen wir, und thun damit den betreffenden
Theilen der Kirchenlehre nichts als ihr Recht an. Wo wir endlich keine zu-
reichenven Gründe haben, um uns für oder wider zu entscheiden, da lassen
wir die Sache bis aus weitere Aufschlüsse dahingestellt sein." Der burschi¬
kose Ton dieser und ähnlicher Stellen ziemt sich umsoweniger, da die Deduction
höchst oberflächlich ist. Der Glaube darf allerdings ein abgesondertes Gebiet
neben dem Wissen beanspruchen, weil er einen ganz verschiedenen Gegenstand
hat. Es ist ein unsterbliches Verdienst vom alten Kant, darauf aufmerksam
gemacht zu haben, daß der Glaube sich nicht auf physische Dinge beziehen darf,
sondern nur aus sittliche. Zu verlangen, daß man an die Geschichte von Josua
und der Sonne glaubt, wenn man das Gegentheil weiß, ist eine Thorheit,
denn unsre Sinne und was damit zusammenhängt, sind nicht dem Gewissen
unterworfen. Die höchsten sittlichen Ideen dagegen zeigen sich nur in der
Form des Glaubens wirksam, und wenn dieser auch allerdings eine unmittel¬
bare Beziehung zur Intelligenz haben muß, und wenn es auch die höchste
Aufgabe der Philosophie bleibt, diese Beziehung aufzudecken, so darf doch der
Glaube an das Sittengesetz nicht deshalb von dem subjectiven Belieben halb¬
gebildeter Menschen abhängig gemacht werden, weil sie sich Philosophen nennen.
Es ist im Interesse der Wahrheit und Freiheit, daß dem jetzt einbrechenden
Materialismus, welcher mit der Leugnung des Uebersinnlichen in der Er¬
scheinungswelt auch die Leugnung der übersinnlichen Ideen in der moralischen
Welt verbindet, ein sehr ernsthafter Widerstand geleistet werde. Es treten jetzt
grade innerhalb der Naturwissenschaft talentvolle Männer auf, die angeblich
aus der Naturwissenschaft zu erweisen suchen, daß die Lehren der Religion und
indirect die der Sittlichkeit nur auf Einbildungen beruhen. Da es nun im
Interesse der Theologie liegt, die freie Untersuchung von allen den Gebieten
abzuwenden, zu denen sie in mittelbarer oder unmittelbarer Berührung steht,
so wird es ihr leicht werden, den widerstrebenden Staat ganz auf ihre Seite


wird, namentlich wenn sich derselbe durch die Höhe des wissenschaftlichen Stand¬
punkts nicht rechtfertigt. Zum Schluß spricht sich der Verfasser über die leidi¬
gen Menschen aus, welche die Mittelstraße gehen wollen. „Sie finden, die
Vernunft müsse ihre Rechte haben, jedoch nicht minder der Glaube. Sie
wollen einen Frieden vermitteln, wie voriges Jahr die vier Machte zwischen
Russen und Türken. Der Usurpator soll einiges von seinen Ansprüchen fahren
lassen, aber der angegriffene Theil sich auch zu Opfern verstehen. Der Glaube
soll die allzu revoltirenden Ingredienzien ausscheiden, dafür soll dann die Ver¬
nunft um des lieben Friedens willen sich zusammennehmen und den Nest der
Mirtur ohne den Mund zu verziehen getrost hinunterschlucken. Wir dagegen
wählen einen Weg, bei welchem beide Theile zu ihrem vollen Rechte kommen.
Wir glauben nämlich just das, was wir wissen. Wovon wir das grade
Gegentheil wissen, das verwerfen wir, und thun damit den betreffenden
Theilen der Kirchenlehre nichts als ihr Recht an. Wo wir endlich keine zu-
reichenven Gründe haben, um uns für oder wider zu entscheiden, da lassen
wir die Sache bis aus weitere Aufschlüsse dahingestellt sein." Der burschi¬
kose Ton dieser und ähnlicher Stellen ziemt sich umsoweniger, da die Deduction
höchst oberflächlich ist. Der Glaube darf allerdings ein abgesondertes Gebiet
neben dem Wissen beanspruchen, weil er einen ganz verschiedenen Gegenstand
hat. Es ist ein unsterbliches Verdienst vom alten Kant, darauf aufmerksam
gemacht zu haben, daß der Glaube sich nicht auf physische Dinge beziehen darf,
sondern nur aus sittliche. Zu verlangen, daß man an die Geschichte von Josua
und der Sonne glaubt, wenn man das Gegentheil weiß, ist eine Thorheit,
denn unsre Sinne und was damit zusammenhängt, sind nicht dem Gewissen
unterworfen. Die höchsten sittlichen Ideen dagegen zeigen sich nur in der
Form des Glaubens wirksam, und wenn dieser auch allerdings eine unmittel¬
bare Beziehung zur Intelligenz haben muß, und wenn es auch die höchste
Aufgabe der Philosophie bleibt, diese Beziehung aufzudecken, so darf doch der
Glaube an das Sittengesetz nicht deshalb von dem subjectiven Belieben halb¬
gebildeter Menschen abhängig gemacht werden, weil sie sich Philosophen nennen.
Es ist im Interesse der Wahrheit und Freiheit, daß dem jetzt einbrechenden
Materialismus, welcher mit der Leugnung des Uebersinnlichen in der Er¬
scheinungswelt auch die Leugnung der übersinnlichen Ideen in der moralischen
Welt verbindet, ein sehr ernsthafter Widerstand geleistet werde. Es treten jetzt
grade innerhalb der Naturwissenschaft talentvolle Männer auf, die angeblich
aus der Naturwissenschaft zu erweisen suchen, daß die Lehren der Religion und
indirect die der Sittlichkeit nur auf Einbildungen beruhen. Da es nun im
Interesse der Theologie liegt, die freie Untersuchung von allen den Gebieten
abzuwenden, zu denen sie in mittelbarer oder unmittelbarer Berührung steht,
so wird es ihr leicht werden, den widerstrebenden Staat ganz auf ihre Seite


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[0372] wird, namentlich wenn sich derselbe durch die Höhe des wissenschaftlichen Stand¬ punkts nicht rechtfertigt. Zum Schluß spricht sich der Verfasser über die leidi¬ gen Menschen aus, welche die Mittelstraße gehen wollen. „Sie finden, die Vernunft müsse ihre Rechte haben, jedoch nicht minder der Glaube. Sie wollen einen Frieden vermitteln, wie voriges Jahr die vier Machte zwischen Russen und Türken. Der Usurpator soll einiges von seinen Ansprüchen fahren lassen, aber der angegriffene Theil sich auch zu Opfern verstehen. Der Glaube soll die allzu revoltirenden Ingredienzien ausscheiden, dafür soll dann die Ver¬ nunft um des lieben Friedens willen sich zusammennehmen und den Nest der Mirtur ohne den Mund zu verziehen getrost hinunterschlucken. Wir dagegen wählen einen Weg, bei welchem beide Theile zu ihrem vollen Rechte kommen. Wir glauben nämlich just das, was wir wissen. Wovon wir das grade Gegentheil wissen, das verwerfen wir, und thun damit den betreffenden Theilen der Kirchenlehre nichts als ihr Recht an. Wo wir endlich keine zu- reichenven Gründe haben, um uns für oder wider zu entscheiden, da lassen wir die Sache bis aus weitere Aufschlüsse dahingestellt sein." Der burschi¬ kose Ton dieser und ähnlicher Stellen ziemt sich umsoweniger, da die Deduction höchst oberflächlich ist. Der Glaube darf allerdings ein abgesondertes Gebiet neben dem Wissen beanspruchen, weil er einen ganz verschiedenen Gegenstand hat. Es ist ein unsterbliches Verdienst vom alten Kant, darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß der Glaube sich nicht auf physische Dinge beziehen darf, sondern nur aus sittliche. Zu verlangen, daß man an die Geschichte von Josua und der Sonne glaubt, wenn man das Gegentheil weiß, ist eine Thorheit, denn unsre Sinne und was damit zusammenhängt, sind nicht dem Gewissen unterworfen. Die höchsten sittlichen Ideen dagegen zeigen sich nur in der Form des Glaubens wirksam, und wenn dieser auch allerdings eine unmittel¬ bare Beziehung zur Intelligenz haben muß, und wenn es auch die höchste Aufgabe der Philosophie bleibt, diese Beziehung aufzudecken, so darf doch der Glaube an das Sittengesetz nicht deshalb von dem subjectiven Belieben halb¬ gebildeter Menschen abhängig gemacht werden, weil sie sich Philosophen nennen. Es ist im Interesse der Wahrheit und Freiheit, daß dem jetzt einbrechenden Materialismus, welcher mit der Leugnung des Uebersinnlichen in der Er¬ scheinungswelt auch die Leugnung der übersinnlichen Ideen in der moralischen Welt verbindet, ein sehr ernsthafter Widerstand geleistet werde. Es treten jetzt grade innerhalb der Naturwissenschaft talentvolle Männer auf, die angeblich aus der Naturwissenschaft zu erweisen suchen, daß die Lehren der Religion und indirect die der Sittlichkeit nur auf Einbildungen beruhen. Da es nun im Interesse der Theologie liegt, die freie Untersuchung von allen den Gebieten abzuwenden, zu denen sie in mittelbarer oder unmittelbarer Berührung steht, so wird es ihr leicht werden, den widerstrebenden Staat ganz auf ihre Seite

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/372>, abgerufen am 22.07.2024.