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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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an Wieland, an Musäus, aber auch, manches, was an Veit Weber, ja an
Kramer erinnert; der Unterschied liegt nur darin, daß er niemals vollständig
in seinem Gegenstand aufgeht. Die unbefangenste Laune ist in Peter Lebe¬
recht, eine Geschichte ohne Abenteuerlichkeiten, -1795; den Namen
Peter Leberecht behielt er dann für seine nächstfolgenden Werke bei. Allmälig
wandte sich seine Ironie hauptsächlich gegen die berliner Aufklärer; infolge
dessen zog sein bisheriger Gönner Nicolcn seine Hand von ihm ab und der
Bund mit Schlegel wurde geschlossen.

Das einzige Werk jener Zeit, welches Beachtung verdient, der Roman
William Lovell (1793) erinnert in feiner Tendenz wie in seiner Haltung
an Werther, aber er ist keineswegs eine sklavische Nachahmung, sondern ein
originelles, und wenn man die Jugend des Dichters in Anschlag bringt, höchst
interessantes Product. Ohne sich des Grundsatzes deutlich bewußt zu werden,
entwickelt Tieck, daß die höchste geistige Anlage in der Empfindung und im
Denken ohne den Regulator des Gewissens etwas sieches, Hohles und Er¬
bärmliches ist; daß die stofflose Genialität sich selbst verzehrt: -- eine Tendenz,
die uns bei dem spätern Propheten der romantischen Schule in einiges Er¬
staunen versetzt. -- Allein im Werther empfinden wir überall das Wehen der
gewaltigen, auch in ihrer Krankhaftigkeit poetischen Natur, im Lovell ist es
die phantastische Reflexion, die allen Inhalt des Lebens aushöhlt. Werther
wird uns häufig verletzen; aber die Glut seiner Empfindung reißt uns fort;
im Lovell dagegen werden nur unsre Nerven irritirt, die Erregung geht nicht
in unser Inneres über, sie bleibt uns etwas Fremdes, wie eine Fieber¬
phantasie.

In einem Traum wird Klingers Giaffcir durch den Teufel in eine Reihe
verworrener Abenteuer verstrickt und zu den ärgsten Verbrechen verleitet, bis
er plötzlich aufwacht. Der Teufel sucht ihm nun einzureden, er habe in diesem
Traume ein Bild von dem radicalen Bösen der menschlichen Natur. Allein
Giaffar bemerkt ganz richtig, daß während des Traumes die höhern Geistes¬
kräfte gebunden sind, daß die Phantasie ohne die Leitung des Gewissens und
der Willenskraft nur eine einseitige Erscheinung des Menschen ist und daß die
Bösartigkeit eines Traumes die Bösartigkeit der Seele nicht bedingt. Diesen
sehr wichtigen Unterschied hat Tieck aus den Augen gelassen. Die Ereignisse
des Romans, insofern sie auf den Charakter des Helden einwirken, laufen so
träumerisch ineinander, und er setzt ihnen einen so geringen Widerstand ent¬
gegen, daß wir an die Identität seiner Person nicht glauben können, obgleich
er uns durch eine unterbrochene Reihe von Briefen von dem Fortgang seiner
Seelenzustände zu unterrichten sucht. Werther empfindet vom ersten Augen¬
blick das Gefährliche seiner Lage ; er stellt seiner Leidenschaft , alles entgegen,
was Vernunft und Gewissen aufbieten können, aber seine Willenskraft ist zu


an Wieland, an Musäus, aber auch, manches, was an Veit Weber, ja an
Kramer erinnert; der Unterschied liegt nur darin, daß er niemals vollständig
in seinem Gegenstand aufgeht. Die unbefangenste Laune ist in Peter Lebe¬
recht, eine Geschichte ohne Abenteuerlichkeiten, -1795; den Namen
Peter Leberecht behielt er dann für seine nächstfolgenden Werke bei. Allmälig
wandte sich seine Ironie hauptsächlich gegen die berliner Aufklärer; infolge
dessen zog sein bisheriger Gönner Nicolcn seine Hand von ihm ab und der
Bund mit Schlegel wurde geschlossen.

Das einzige Werk jener Zeit, welches Beachtung verdient, der Roman
William Lovell (1793) erinnert in feiner Tendenz wie in seiner Haltung
an Werther, aber er ist keineswegs eine sklavische Nachahmung, sondern ein
originelles, und wenn man die Jugend des Dichters in Anschlag bringt, höchst
interessantes Product. Ohne sich des Grundsatzes deutlich bewußt zu werden,
entwickelt Tieck, daß die höchste geistige Anlage in der Empfindung und im
Denken ohne den Regulator des Gewissens etwas sieches, Hohles und Er¬
bärmliches ist; daß die stofflose Genialität sich selbst verzehrt: — eine Tendenz,
die uns bei dem spätern Propheten der romantischen Schule in einiges Er¬
staunen versetzt. — Allein im Werther empfinden wir überall das Wehen der
gewaltigen, auch in ihrer Krankhaftigkeit poetischen Natur, im Lovell ist es
die phantastische Reflexion, die allen Inhalt des Lebens aushöhlt. Werther
wird uns häufig verletzen; aber die Glut seiner Empfindung reißt uns fort;
im Lovell dagegen werden nur unsre Nerven irritirt, die Erregung geht nicht
in unser Inneres über, sie bleibt uns etwas Fremdes, wie eine Fieber¬
phantasie.

In einem Traum wird Klingers Giaffcir durch den Teufel in eine Reihe
verworrener Abenteuer verstrickt und zu den ärgsten Verbrechen verleitet, bis
er plötzlich aufwacht. Der Teufel sucht ihm nun einzureden, er habe in diesem
Traume ein Bild von dem radicalen Bösen der menschlichen Natur. Allein
Giaffar bemerkt ganz richtig, daß während des Traumes die höhern Geistes¬
kräfte gebunden sind, daß die Phantasie ohne die Leitung des Gewissens und
der Willenskraft nur eine einseitige Erscheinung des Menschen ist und daß die
Bösartigkeit eines Traumes die Bösartigkeit der Seele nicht bedingt. Diesen
sehr wichtigen Unterschied hat Tieck aus den Augen gelassen. Die Ereignisse
des Romans, insofern sie auf den Charakter des Helden einwirken, laufen so
träumerisch ineinander, und er setzt ihnen einen so geringen Widerstand ent¬
gegen, daß wir an die Identität seiner Person nicht glauben können, obgleich
er uns durch eine unterbrochene Reihe von Briefen von dem Fortgang seiner
Seelenzustände zu unterrichten sucht. Werther empfindet vom ersten Augen¬
blick das Gefährliche seiner Lage ; er stellt seiner Leidenschaft , alles entgegen,
was Vernunft und Gewissen aufbieten können, aber seine Willenskraft ist zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/330>, abgerufen am 22.07.2024.