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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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genommen hat als ihre kolossale Gestalt, erscheint wieder ans den Bretern.
Ohne die lobenswerthe Dazwischenkamst der Negierung würde auch die greise
Sacauir mit ihren schlotternden Gebeinen einen Todtentanz auf dem gespannten
Seile ausgeführt haben.

Die Porte Se. Martin hat in ihrem neuesten Stücke "Paris" für
Frankreichs Hauptstadt der Vergangenheit gethan, was von den andern Un¬
terhaltungsanstalten für die französische Capitale des neunzehnten Jahrhunderts
versucht wird. Sie gibt einen illustrirten Cursus von Frankreichs Geschichte,
von der Geschichte von Paris in 26 Täbleaur, welche den großen Kindern
Frankreichs als theatralischer Orbis pictus dienen sollen.

Sowenig dramatische Bedeutung dieses Stück auch hat, so wichtig ist
es doch als Symptom für die dramatische Tendenz überhaupt. Es ist dasselbe
nämlich ein neuer Beweis, daß mit der steigenden Zunahme aristophanischer
Freiheiten die Zerfahrenheit und künstlerische Einheitlosigkeit der modernen
französischen Producte täglich, größer wird. Was der endlose Roman begon¬
nen, was die moderne Oper ohne Ende mit ihrer Decorationsüberwucherung
fortgesetzt, das scheint das moderne Volksdrama vollenden zu wollen. Die
Genialität aristophanischer Schöpfungen, das Weltumfassende seiner Dichtungen
wird hier von Maschinisten vertreten, -- der Dichter sinkt zum Schneider
herab, der die losen Gebilde nothdürftig zusammennäht. -- Das neue Stück
von Paul Meuricc, der von der verwandten Clique als Nonplusultra der
dramatischen Romantik aufgeschrien wurde, zeichnet sich durch seinen Decora-
tionsreichthum in eben dem Maße aus, als es durch Geistesarmut!) sich bemerk¬
lich macht und nach Mitwirkung der Censur und der Scheere des DirecrorS ist von
dem ursprünglich genug, kopflosen Werke nichts als ein illustrirtes Chaos übrig
geblieben.

Es lohnt sich der Mühe, näher auf das Werk einzugehen, weil eine solche
Prüfung am besten geeignet ist zu zeigen, was die Franzosen bei den uner¬
hörten Freiheiten, die sie sich der Geschichte, der philosophischen Anschauung
gegenüber herausnehmen, zu Tage fördern.

Das Stück, welches, wie bemerkt, nichts weniger als die Geschichte von
Frankreich zum Vorwurfe hat, beginnt so recht modern französisch im Central-
capharnumn der Lorettenwelt, im französischen Opernball. Die beiden Sprößlinge,
welche die Vertreter der feindlichen Racen sind, welche in der Weltgeschichtesich
bekämpfen, der romanischen und der germanischen, können sich kein besseres
Rendezvous geben als vor dem von Loretten, Grisetten und Phrynen umgebenen
Throne Müsards. In seiner aufrichtigen Naivetät läßt der Dichter sogar die
Seele der Stadt Paris in den Domino schlüpfen, gleichsam um symbolisch
anzudeuten, wie Paris mit Leib und Seele bei dieser Unterhaltung sich be¬
theiligt. Die feindlichen Brüder -- sind doch alle Völker Brüder - Armin


genommen hat als ihre kolossale Gestalt, erscheint wieder ans den Bretern.
Ohne die lobenswerthe Dazwischenkamst der Negierung würde auch die greise
Sacauir mit ihren schlotternden Gebeinen einen Todtentanz auf dem gespannten
Seile ausgeführt haben.

Die Porte Se. Martin hat in ihrem neuesten Stücke „Paris" für
Frankreichs Hauptstadt der Vergangenheit gethan, was von den andern Un¬
terhaltungsanstalten für die französische Capitale des neunzehnten Jahrhunderts
versucht wird. Sie gibt einen illustrirten Cursus von Frankreichs Geschichte,
von der Geschichte von Paris in 26 Täbleaur, welche den großen Kindern
Frankreichs als theatralischer Orbis pictus dienen sollen.

Sowenig dramatische Bedeutung dieses Stück auch hat, so wichtig ist
es doch als Symptom für die dramatische Tendenz überhaupt. Es ist dasselbe
nämlich ein neuer Beweis, daß mit der steigenden Zunahme aristophanischer
Freiheiten die Zerfahrenheit und künstlerische Einheitlosigkeit der modernen
französischen Producte täglich, größer wird. Was der endlose Roman begon¬
nen, was die moderne Oper ohne Ende mit ihrer Decorationsüberwucherung
fortgesetzt, das scheint das moderne Volksdrama vollenden zu wollen. Die
Genialität aristophanischer Schöpfungen, das Weltumfassende seiner Dichtungen
wird hier von Maschinisten vertreten, — der Dichter sinkt zum Schneider
herab, der die losen Gebilde nothdürftig zusammennäht. — Das neue Stück
von Paul Meuricc, der von der verwandten Clique als Nonplusultra der
dramatischen Romantik aufgeschrien wurde, zeichnet sich durch seinen Decora-
tionsreichthum in eben dem Maße aus, als es durch Geistesarmut!) sich bemerk¬
lich macht und nach Mitwirkung der Censur und der Scheere des DirecrorS ist von
dem ursprünglich genug, kopflosen Werke nichts als ein illustrirtes Chaos übrig
geblieben.

Es lohnt sich der Mühe, näher auf das Werk einzugehen, weil eine solche
Prüfung am besten geeignet ist zu zeigen, was die Franzosen bei den uner¬
hörten Freiheiten, die sie sich der Geschichte, der philosophischen Anschauung
gegenüber herausnehmen, zu Tage fördern.

Das Stück, welches, wie bemerkt, nichts weniger als die Geschichte von
Frankreich zum Vorwurfe hat, beginnt so recht modern französisch im Central-
capharnumn der Lorettenwelt, im französischen Opernball. Die beiden Sprößlinge,
welche die Vertreter der feindlichen Racen sind, welche in der Weltgeschichtesich
bekämpfen, der romanischen und der germanischen, können sich kein besseres
Rendezvous geben als vor dem von Loretten, Grisetten und Phrynen umgebenen
Throne Müsards. In seiner aufrichtigen Naivetät läßt der Dichter sogar die
Seele der Stadt Paris in den Domino schlüpfen, gleichsam um symbolisch
anzudeuten, wie Paris mit Leib und Seele bei dieser Unterhaltung sich be¬
theiligt. Die feindlichen Brüder — sind doch alle Völker Brüder - Armin


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/314>, abgerufen am 22.07.2024.