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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Factor da, der Kaiser Napoleon, der bekanntlich eine Mission zu erfüllen hat.
Worin diese Mission besteht, weiß man zwar noch nicht, aber daß sie keine
streng conservative sein wird, darüber sind auch sanguinische Politiker nicht
mehr im Unklaren. Daß auf dem bisherigen Wege der Krieg gegen Nußland
nicht durchzuführen ist, darüber sind Engländer und Franzosen einig, denn
selbst wenn es gelingt, Sebastvpol zu nehmen, so wäre von dort aus der Ein¬
marsch in das Innere Rußlands doch eine lächerliche Idee. Sie müssen also
dem Kriege einen andern Schauplatz zu geben suchen und das kann nur durch
Verbindung mit revolutionären Kräften geschehen. Daß sie diese aufrufen
können, liegt auf der Hand; daß sie es wollen, möchte noch zweifelhaft sein,
aber vielleicht werden sie es müssen und dann werden wir in ein Spiel des
Zufalls gestürzt, das jeder Berechnung spottet.

Unter diesen Umständen bleibt uns nichts übrig, als den frommen Wunsch
auszusprechen, die deutschen Mächte, namentlich Oestreich und Preußen möchten
sich vor dem endlichen Ausgang noch anders besinnen. Möglich ist es, denn
die vorstehenden Betrachtungen liegen so auf der Hand, daß sie auch den
Staatsmännern nicht entgehen werden; aber wahrscheinlich ist es uns aller¬
dings nicht und so sehen wir der nächsten Zukunft mit ziemlichem Bangen
entgegen.




Neue Romane.
Der grüne Heinrich. Roman von Gottfried Keller. In vier Bänden.
Vierter Band, Braunschweig, Vieweg und Sohn. 1833. -- .

Der Roman, dessen drei ersten Bände wir seiner Zeit angezeigt haben,
hat durch die unbillig lange Verspätung des Schlusses viel von seinem Er¬
folg eingebüßt; ein großer Theil der Leser, der den Anfang mit Spannung
und Interesse verfolgt hat, wird jetzt den Inhalt theilweise wieder vergessen
haben, da er nicht von der Art ist, sich stark und entschieden dem Gedächtniß
einzuprägen. -- Es ist sehr schwer über dieses Werk ein unbefangenes Urtheil
zu fällen. Wir haben es mit einem höchst geistvollen Schriftsteller zu thun,
der viel gelebt und viel gedacht hat. Seine Reflexionen sind nie unbedeutend
und nie äußerlich gemacht, sie sind mit der Empfindung unmittelbar verwebt und
enthalten zuweilen ebenso tiefe als überraschende Wahrheiten. In der Malerei
und Staffage finden sich so feine, lebensvolle Züge, daß der erfreute Leser sich
gern unbedingt den Händen des Dichters anvertrauen möchte, aber es ist durch¬
aus nicht möglich, denn unter den vielen launenhaften Schriftstellern unsrer
Tage gehört Keller zu den launenhaftesten; kaum hat er uns sür eine Ge-


Factor da, der Kaiser Napoleon, der bekanntlich eine Mission zu erfüllen hat.
Worin diese Mission besteht, weiß man zwar noch nicht, aber daß sie keine
streng conservative sein wird, darüber sind auch sanguinische Politiker nicht
mehr im Unklaren. Daß auf dem bisherigen Wege der Krieg gegen Nußland
nicht durchzuführen ist, darüber sind Engländer und Franzosen einig, denn
selbst wenn es gelingt, Sebastvpol zu nehmen, so wäre von dort aus der Ein¬
marsch in das Innere Rußlands doch eine lächerliche Idee. Sie müssen also
dem Kriege einen andern Schauplatz zu geben suchen und das kann nur durch
Verbindung mit revolutionären Kräften geschehen. Daß sie diese aufrufen
können, liegt auf der Hand; daß sie es wollen, möchte noch zweifelhaft sein,
aber vielleicht werden sie es müssen und dann werden wir in ein Spiel des
Zufalls gestürzt, das jeder Berechnung spottet.

Unter diesen Umständen bleibt uns nichts übrig, als den frommen Wunsch
auszusprechen, die deutschen Mächte, namentlich Oestreich und Preußen möchten
sich vor dem endlichen Ausgang noch anders besinnen. Möglich ist es, denn
die vorstehenden Betrachtungen liegen so auf der Hand, daß sie auch den
Staatsmännern nicht entgehen werden; aber wahrscheinlich ist es uns aller¬
dings nicht und so sehen wir der nächsten Zukunft mit ziemlichem Bangen
entgegen.




Neue Romane.
Der grüne Heinrich. Roman von Gottfried Keller. In vier Bänden.
Vierter Band, Braunschweig, Vieweg und Sohn. 1833. — .

Der Roman, dessen drei ersten Bände wir seiner Zeit angezeigt haben,
hat durch die unbillig lange Verspätung des Schlusses viel von seinem Er¬
folg eingebüßt; ein großer Theil der Leser, der den Anfang mit Spannung
und Interesse verfolgt hat, wird jetzt den Inhalt theilweise wieder vergessen
haben, da er nicht von der Art ist, sich stark und entschieden dem Gedächtniß
einzuprägen. — Es ist sehr schwer über dieses Werk ein unbefangenes Urtheil
zu fällen. Wir haben es mit einem höchst geistvollen Schriftsteller zu thun,
der viel gelebt und viel gedacht hat. Seine Reflexionen sind nie unbedeutend
und nie äußerlich gemacht, sie sind mit der Empfindung unmittelbar verwebt und
enthalten zuweilen ebenso tiefe als überraschende Wahrheiten. In der Malerei
und Staffage finden sich so feine, lebensvolle Züge, daß der erfreute Leser sich
gern unbedingt den Händen des Dichters anvertrauen möchte, aber es ist durch¬
aus nicht möglich, denn unter den vielen launenhaften Schriftstellern unsrer
Tage gehört Keller zu den launenhaftesten; kaum hat er uns sür eine Ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/173>, abgerufen am 22.12.2024.