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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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die es im Anfang mit Oestreich hielt, hat sich wieder davon abgewendet, weil
nur der Starke und Consequente sie auf die Dauer beherrscht. Das Verhält¬
niß zu Preußen ist nicht gebessert, sondern verschlechtert, weil Preußen im Laufe
des letzten Jahres mehrfach schwer beleidigt ist und weil es durch die letzte Wen¬
dung gelernt hat, seine Scheu vor Oestreich aufzugeben. Man mag diese Erfolge
so hoch oder so gering anschlagen, als man will, sie sind jedenfalls nicht von
der Art, daß sie Oestreich zu einer macchiavellistischen Politik verlocken konnten.
Oestreich hat nicht macchiavellistisch, sondern unter dem wechselnden Einfluß
verschiedener natürlicher Beweggründe gehandelt.

Die Erfolge in den allgemeinen europäischen Verhältnissen sind nicht viel
glänzender. Für den Augenblick zwar scheint Oestreichs Stellung günstig genug,
denn es hat die Donaufürstenthümer in Händen und die beiden Mächte, die
ihm in Italien gefährlich werden könnten, Frankreich und Sardinien, sind in
der Krim beschäftigt. Allein dieser provisorische Zustand kann doch nicht lange
dauern und nothwendigerweise muß zuletzt folgendes Dilemma eintreten: ent¬
weder überzeugen sich die Westmächte davon, was die leitenden Staats¬
männer schon lange wußten, daß sie für sich allein nicht die Mittel haben,
Rußland zu den Friedensbedingungen zu zwingen, die sie wünschen, sie schlie¬
ßen also einen beliebigen Frieden, wozu ihnen die passende Gelegenheit nicht
fehlen wird, oder sie werden von der Volksmeinung gezwungen, den Krieg
fortzusetzen und dann sehen sie sich nothgedrungen, aus dem localen Krieg
einen europäischen zu machen und die Revolution zu Hilfe zu rufen. In beiden
Fällen ist Oestreichs Lage keine sehr günstige.

Daß man ihm bei Abschluß des Friedens die Donaufürstenthümer lassen
wird, daran denkt es wol selbst nicht. Im günstigsten Fall wird man die
Friedensbedingungen so stellen, daß Oestreich kein Nachtheil widerfährt; ein
Vortheil wird ihm auf keinen Fall daraus erwachsen. Dann bleibt die Lage,
die nämliche. Frankreich , Nußland und Preußen sind seine natürlichen Gegner,
d. h. ihre Interessen collidiren an allen möglichen Orten miteinander und sie
haben an allen Orten Mittel in Händen, ihm zu schaden. Die Neigung dazu ist
aber unendlich vergrößert, denn alle drei Staaten und England noch dazu, sind
von Oestreich im Lauf dieses Jahres schwer gekränkt worden. Dies ist der
günstigste Fall und der wahrscheinliche, wenn es den bisherigen aristokratischen
Coterien in England gelingt, sich am Ruder zu erhalten. ES hat sich gezeigt,
daß die englischen Staatsmänner und Generale, die bisher den Krieg führten,
ihn im Stillen verabscheuten und nichts sehnlicher wünschten, als einen schnellen
Frieden. Aber einerseits hat die Volksstimmung in England im letzten Jahre
eine furchtbare Macht gewonnen, sie hat Schritt für Schritt das Widerstreben
der Staatsmänner beseitigt und es ist leicht möglich, daß sie das ganze System
über den Haufen wirft. Auf der andern Seite ist noch ein unberechenbarer


die es im Anfang mit Oestreich hielt, hat sich wieder davon abgewendet, weil
nur der Starke und Consequente sie auf die Dauer beherrscht. Das Verhält¬
niß zu Preußen ist nicht gebessert, sondern verschlechtert, weil Preußen im Laufe
des letzten Jahres mehrfach schwer beleidigt ist und weil es durch die letzte Wen¬
dung gelernt hat, seine Scheu vor Oestreich aufzugeben. Man mag diese Erfolge
so hoch oder so gering anschlagen, als man will, sie sind jedenfalls nicht von
der Art, daß sie Oestreich zu einer macchiavellistischen Politik verlocken konnten.
Oestreich hat nicht macchiavellistisch, sondern unter dem wechselnden Einfluß
verschiedener natürlicher Beweggründe gehandelt.

Die Erfolge in den allgemeinen europäischen Verhältnissen sind nicht viel
glänzender. Für den Augenblick zwar scheint Oestreichs Stellung günstig genug,
denn es hat die Donaufürstenthümer in Händen und die beiden Mächte, die
ihm in Italien gefährlich werden könnten, Frankreich und Sardinien, sind in
der Krim beschäftigt. Allein dieser provisorische Zustand kann doch nicht lange
dauern und nothwendigerweise muß zuletzt folgendes Dilemma eintreten: ent¬
weder überzeugen sich die Westmächte davon, was die leitenden Staats¬
männer schon lange wußten, daß sie für sich allein nicht die Mittel haben,
Rußland zu den Friedensbedingungen zu zwingen, die sie wünschen, sie schlie¬
ßen also einen beliebigen Frieden, wozu ihnen die passende Gelegenheit nicht
fehlen wird, oder sie werden von der Volksmeinung gezwungen, den Krieg
fortzusetzen und dann sehen sie sich nothgedrungen, aus dem localen Krieg
einen europäischen zu machen und die Revolution zu Hilfe zu rufen. In beiden
Fällen ist Oestreichs Lage keine sehr günstige.

Daß man ihm bei Abschluß des Friedens die Donaufürstenthümer lassen
wird, daran denkt es wol selbst nicht. Im günstigsten Fall wird man die
Friedensbedingungen so stellen, daß Oestreich kein Nachtheil widerfährt; ein
Vortheil wird ihm auf keinen Fall daraus erwachsen. Dann bleibt die Lage,
die nämliche. Frankreich , Nußland und Preußen sind seine natürlichen Gegner,
d. h. ihre Interessen collidiren an allen möglichen Orten miteinander und sie
haben an allen Orten Mittel in Händen, ihm zu schaden. Die Neigung dazu ist
aber unendlich vergrößert, denn alle drei Staaten und England noch dazu, sind
von Oestreich im Lauf dieses Jahres schwer gekränkt worden. Dies ist der
günstigste Fall und der wahrscheinliche, wenn es den bisherigen aristokratischen
Coterien in England gelingt, sich am Ruder zu erhalten. ES hat sich gezeigt,
daß die englischen Staatsmänner und Generale, die bisher den Krieg führten,
ihn im Stillen verabscheuten und nichts sehnlicher wünschten, als einen schnellen
Frieden. Aber einerseits hat die Volksstimmung in England im letzten Jahre
eine furchtbare Macht gewonnen, sie hat Schritt für Schritt das Widerstreben
der Staatsmänner beseitigt und es ist leicht möglich, daß sie das ganze System
über den Haufen wirft. Auf der andern Seite ist noch ein unberechenbarer


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[0172] die es im Anfang mit Oestreich hielt, hat sich wieder davon abgewendet, weil nur der Starke und Consequente sie auf die Dauer beherrscht. Das Verhält¬ niß zu Preußen ist nicht gebessert, sondern verschlechtert, weil Preußen im Laufe des letzten Jahres mehrfach schwer beleidigt ist und weil es durch die letzte Wen¬ dung gelernt hat, seine Scheu vor Oestreich aufzugeben. Man mag diese Erfolge so hoch oder so gering anschlagen, als man will, sie sind jedenfalls nicht von der Art, daß sie Oestreich zu einer macchiavellistischen Politik verlocken konnten. Oestreich hat nicht macchiavellistisch, sondern unter dem wechselnden Einfluß verschiedener natürlicher Beweggründe gehandelt. Die Erfolge in den allgemeinen europäischen Verhältnissen sind nicht viel glänzender. Für den Augenblick zwar scheint Oestreichs Stellung günstig genug, denn es hat die Donaufürstenthümer in Händen und die beiden Mächte, die ihm in Italien gefährlich werden könnten, Frankreich und Sardinien, sind in der Krim beschäftigt. Allein dieser provisorische Zustand kann doch nicht lange dauern und nothwendigerweise muß zuletzt folgendes Dilemma eintreten: ent¬ weder überzeugen sich die Westmächte davon, was die leitenden Staats¬ männer schon lange wußten, daß sie für sich allein nicht die Mittel haben, Rußland zu den Friedensbedingungen zu zwingen, die sie wünschen, sie schlie¬ ßen also einen beliebigen Frieden, wozu ihnen die passende Gelegenheit nicht fehlen wird, oder sie werden von der Volksmeinung gezwungen, den Krieg fortzusetzen und dann sehen sie sich nothgedrungen, aus dem localen Krieg einen europäischen zu machen und die Revolution zu Hilfe zu rufen. In beiden Fällen ist Oestreichs Lage keine sehr günstige. Daß man ihm bei Abschluß des Friedens die Donaufürstenthümer lassen wird, daran denkt es wol selbst nicht. Im günstigsten Fall wird man die Friedensbedingungen so stellen, daß Oestreich kein Nachtheil widerfährt; ein Vortheil wird ihm auf keinen Fall daraus erwachsen. Dann bleibt die Lage, die nämliche. Frankreich , Nußland und Preußen sind seine natürlichen Gegner, d. h. ihre Interessen collidiren an allen möglichen Orten miteinander und sie haben an allen Orten Mittel in Händen, ihm zu schaden. Die Neigung dazu ist aber unendlich vergrößert, denn alle drei Staaten und England noch dazu, sind von Oestreich im Lauf dieses Jahres schwer gekränkt worden. Dies ist der günstigste Fall und der wahrscheinliche, wenn es den bisherigen aristokratischen Coterien in England gelingt, sich am Ruder zu erhalten. ES hat sich gezeigt, daß die englischen Staatsmänner und Generale, die bisher den Krieg führten, ihn im Stillen verabscheuten und nichts sehnlicher wünschten, als einen schnellen Frieden. Aber einerseits hat die Volksstimmung in England im letzten Jahre eine furchtbare Macht gewonnen, sie hat Schritt für Schritt das Widerstreben der Staatsmänner beseitigt und es ist leicht möglich, daß sie das ganze System über den Haufen wirft. Auf der andern Seite ist noch ein unberechenbarer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/172>, abgerufen am 22.07.2024.