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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Dinge richtet, wohl der Schule, wenn sie sogenannte "wissenschaftliche" Schüler¬
vereine hegt und fördert! Der arme Realschüler dagegen wird zu solcher
Sprudelköpsigkeit weniger verleitet, er fragt leicht bei allem was er thut, cui
domo? Eine frühe Entnüchterung seiner jugendlichen Seele kann leicht den
Grund eines kalten Egoismus und trocknen Materialismus, welcher freilich
noch immer weniger gefährlich ist als der leidenschaftliche einer verdorbenen
Gelehrtenschule, legen, und während er in alle Sphären zugleich eingeführt wird,
bleibt sein Geist oft klein und eng, weil jener Zuwachs nur an ihn heran
geklebt, nicht aus ihm heraus aufgebaut worden ist. Wenn ein talentvoller
Gelehrtenschüler Vielseitigkeit, Besonnenheit und Bescheidenheit und ein ebenso
begabter Realschüler jugendlichen Schwung und Selbstkraft in der Totalität
seines geistigen Strebens bewahrt, so haben sie gewiß beide das Schwerste
auf ihrem Bildungsgange erreicht.

Betrachten wir nun die einzelnen Bildungsmittel, so stellen sich, abgesehen
von denen, welche beiden Richtungen in demselben Grade gemeinschaftlich sind
(Deutsch, Geschichte, Religion), zwei Hauptunterschiede heraus: 1) in dem
Verhältniß des Sprachunterrichts zu dem mathematisch-naturwissenschaftlichen,
der Unterordnung des einen unter den andern oder ihrem Gleichgewichte. --
2) in der Art des Sprachunterrichts und der Art des mathematisch-natur¬
wissenschaftlichen an und für sich. Fangen wir mit dem zweiten Punkt
zuerst an.

Wie wird der Sprachunterricht auf Gelehrtenschulen getrieben? Wir
antworten: durchweg noch immer zu künstlich. Zwar ist die Periode vorüber,
wo, wie in meiner eignen Schulzeit, die statarische Lectüre der Classiker den
Kernpunkt des Unterrichts bildete, ein stehender Sumpf, dessen Wasser wir vor
lauter Citatcnschlingpflanzen und grammatischen Binsen, in welchen wir die
Knoten suchen sollten, nicht zu sehn bekamen. Wahrlich, hätten wir die Lust
an den alten Autoren nicht mitgebracht, auf der Schule hätten wir sie nicht
bekommen: ja, wir würden die mitgebrachte verloren haben, wenn wir uns
nicht aus dem Wust von Citaten aus Matthias Griechischer Grammatik, HandS
Tursellinus, Hermanns Viger, in das heitere Element der cnrsorischen Privat-
lectüre geworfen hätten, wo uns einiges von der Großheit und Schönheit
eines Homer, Sophokles, Aristophanes aufzudämmern begann. Aber noch immer
hat man-nicht genug eingesehn, daß es ja nicht auf ein wissenschaftlich-philo¬
logisches, sondern nur aus ein humanes Verständniß der Alten ankommt, nicht
genug, daß das Grammatische nur als Stein des Anstoßes nicht als Wegeöziel
zu betrachten ist. Mit einem Wort: wenn man das Interesse der Schüler nicht
für den Inhalt des Gelesenen zu beleben und daran festzuhalten versteht, so
wird man zwar einzelne Philologen, aber wenige Liebhaber des classischen Alter¬
thums bilden. Es war unter den jungen Schulmännern eines norddeutschen


Dinge richtet, wohl der Schule, wenn sie sogenannte „wissenschaftliche" Schüler¬
vereine hegt und fördert! Der arme Realschüler dagegen wird zu solcher
Sprudelköpsigkeit weniger verleitet, er fragt leicht bei allem was er thut, cui
domo? Eine frühe Entnüchterung seiner jugendlichen Seele kann leicht den
Grund eines kalten Egoismus und trocknen Materialismus, welcher freilich
noch immer weniger gefährlich ist als der leidenschaftliche einer verdorbenen
Gelehrtenschule, legen, und während er in alle Sphären zugleich eingeführt wird,
bleibt sein Geist oft klein und eng, weil jener Zuwachs nur an ihn heran
geklebt, nicht aus ihm heraus aufgebaut worden ist. Wenn ein talentvoller
Gelehrtenschüler Vielseitigkeit, Besonnenheit und Bescheidenheit und ein ebenso
begabter Realschüler jugendlichen Schwung und Selbstkraft in der Totalität
seines geistigen Strebens bewahrt, so haben sie gewiß beide das Schwerste
auf ihrem Bildungsgange erreicht.

Betrachten wir nun die einzelnen Bildungsmittel, so stellen sich, abgesehen
von denen, welche beiden Richtungen in demselben Grade gemeinschaftlich sind
(Deutsch, Geschichte, Religion), zwei Hauptunterschiede heraus: 1) in dem
Verhältniß des Sprachunterrichts zu dem mathematisch-naturwissenschaftlichen,
der Unterordnung des einen unter den andern oder ihrem Gleichgewichte. —
2) in der Art des Sprachunterrichts und der Art des mathematisch-natur¬
wissenschaftlichen an und für sich. Fangen wir mit dem zweiten Punkt
zuerst an.

Wie wird der Sprachunterricht auf Gelehrtenschulen getrieben? Wir
antworten: durchweg noch immer zu künstlich. Zwar ist die Periode vorüber,
wo, wie in meiner eignen Schulzeit, die statarische Lectüre der Classiker den
Kernpunkt des Unterrichts bildete, ein stehender Sumpf, dessen Wasser wir vor
lauter Citatcnschlingpflanzen und grammatischen Binsen, in welchen wir die
Knoten suchen sollten, nicht zu sehn bekamen. Wahrlich, hätten wir die Lust
an den alten Autoren nicht mitgebracht, auf der Schule hätten wir sie nicht
bekommen: ja, wir würden die mitgebrachte verloren haben, wenn wir uns
nicht aus dem Wust von Citaten aus Matthias Griechischer Grammatik, HandS
Tursellinus, Hermanns Viger, in das heitere Element der cnrsorischen Privat-
lectüre geworfen hätten, wo uns einiges von der Großheit und Schönheit
eines Homer, Sophokles, Aristophanes aufzudämmern begann. Aber noch immer
hat man-nicht genug eingesehn, daß es ja nicht auf ein wissenschaftlich-philo¬
logisches, sondern nur aus ein humanes Verständniß der Alten ankommt, nicht
genug, daß das Grammatische nur als Stein des Anstoßes nicht als Wegeöziel
zu betrachten ist. Mit einem Wort: wenn man das Interesse der Schüler nicht
für den Inhalt des Gelesenen zu beleben und daran festzuhalten versteht, so
wird man zwar einzelne Philologen, aber wenige Liebhaber des classischen Alter¬
thums bilden. Es war unter den jungen Schulmännern eines norddeutschen


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[0150] Dinge richtet, wohl der Schule, wenn sie sogenannte „wissenschaftliche" Schüler¬ vereine hegt und fördert! Der arme Realschüler dagegen wird zu solcher Sprudelköpsigkeit weniger verleitet, er fragt leicht bei allem was er thut, cui domo? Eine frühe Entnüchterung seiner jugendlichen Seele kann leicht den Grund eines kalten Egoismus und trocknen Materialismus, welcher freilich noch immer weniger gefährlich ist als der leidenschaftliche einer verdorbenen Gelehrtenschule, legen, und während er in alle Sphären zugleich eingeführt wird, bleibt sein Geist oft klein und eng, weil jener Zuwachs nur an ihn heran geklebt, nicht aus ihm heraus aufgebaut worden ist. Wenn ein talentvoller Gelehrtenschüler Vielseitigkeit, Besonnenheit und Bescheidenheit und ein ebenso begabter Realschüler jugendlichen Schwung und Selbstkraft in der Totalität seines geistigen Strebens bewahrt, so haben sie gewiß beide das Schwerste auf ihrem Bildungsgange erreicht. Betrachten wir nun die einzelnen Bildungsmittel, so stellen sich, abgesehen von denen, welche beiden Richtungen in demselben Grade gemeinschaftlich sind (Deutsch, Geschichte, Religion), zwei Hauptunterschiede heraus: 1) in dem Verhältniß des Sprachunterrichts zu dem mathematisch-naturwissenschaftlichen, der Unterordnung des einen unter den andern oder ihrem Gleichgewichte. — 2) in der Art des Sprachunterrichts und der Art des mathematisch-natur¬ wissenschaftlichen an und für sich. Fangen wir mit dem zweiten Punkt zuerst an. Wie wird der Sprachunterricht auf Gelehrtenschulen getrieben? Wir antworten: durchweg noch immer zu künstlich. Zwar ist die Periode vorüber, wo, wie in meiner eignen Schulzeit, die statarische Lectüre der Classiker den Kernpunkt des Unterrichts bildete, ein stehender Sumpf, dessen Wasser wir vor lauter Citatcnschlingpflanzen und grammatischen Binsen, in welchen wir die Knoten suchen sollten, nicht zu sehn bekamen. Wahrlich, hätten wir die Lust an den alten Autoren nicht mitgebracht, auf der Schule hätten wir sie nicht bekommen: ja, wir würden die mitgebrachte verloren haben, wenn wir uns nicht aus dem Wust von Citaten aus Matthias Griechischer Grammatik, HandS Tursellinus, Hermanns Viger, in das heitere Element der cnrsorischen Privat- lectüre geworfen hätten, wo uns einiges von der Großheit und Schönheit eines Homer, Sophokles, Aristophanes aufzudämmern begann. Aber noch immer hat man-nicht genug eingesehn, daß es ja nicht auf ein wissenschaftlich-philo¬ logisches, sondern nur aus ein humanes Verständniß der Alten ankommt, nicht genug, daß das Grammatische nur als Stein des Anstoßes nicht als Wegeöziel zu betrachten ist. Mit einem Wort: wenn man das Interesse der Schüler nicht für den Inhalt des Gelesenen zu beleben und daran festzuhalten versteht, so wird man zwar einzelne Philologen, aber wenige Liebhaber des classischen Alter¬ thums bilden. Es war unter den jungen Schulmännern eines norddeutschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/150>, abgerufen am 22.07.2024.