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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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palis. Wenn man an die spätern schädlichen Versuche in dieser Richtung
denkt so ist ein Widerwille gegen diese ebenso unkünstlerische als unwissen¬
schaftliche Methode wol gerechtfertigt. Ueberhaupt müssen wir gestehen, daß
uns auch unter Novalis Fragmenten die naturphilosophischen am wenigsten
anziehen; es zeigt sich wol darin, daß er in diesem Gebiet eine vielseitige
Kenntniß, auch eine große Gabe zu combiniren besitzt, aber der Ausdruck ist
doch zu spielend und geziert, man fühlt immer heraus, daß Mittelglieder aus¬
gelassen und daher fälschlich das bedingungsweise Richtige in das Gebiet deS
Unbedingten aufgenommen ist. Er combinirt mit unerhörter Kühnheit, ohne
in das Einzelne eine klare Einsicht erlangt zu haben; dann schmeichelt ihm
die Klangform des Gedankens alle Bedenken aus der Seele und wo die
ernste Untersuchung erst angehen sollte, machr er einen spielenden Schluß, ein
zierlicher Witz überrascht uns, wo wir eine concrete Anschauung erwarten. Hin
und wieder hat man den wunderlichen Versuch gemacht, aus diesen Fragmenten ein
Ganzes zu machen: es ist nicht viel Kluges dabei herausgekommen. So müssen
wir namentlich gestehen, daß die berühmten Fragmente über die Mathematik,
die er noch selbst hat drucken lassen und die mit den merkwürdigen Aussprüchen
schließen (II. S. 1i7) "ohne Enthusiasmus keine Mathematik, das Leben der
Götter ist Mathematik, alle göttlichen Gesandten müssen Mathematiker sein,
reine Mathematik ist Religion, zur Mathematik gelangt man durch eine Theo-
phanie" u. s. w. nichts anders zu sein scheinen, als der Versuch, Buchstaben
in ungewöhnlichen Arabesken zu combiniren.

Allein eine Seite seines aphoristischen Denkens ist uns zu wichtig für
den Entwicklungsgang der gesammten Schule, als daß wir hier nicht näher
darauf eingehen sollten. Es sind seine Gedanken über das Christenthum,
von denen wir die Hauptpunkte mit seinen eignen Worten angeben.


--Absolute Abstraction, Vernichtung des Jetzigen, Apotheose der Zukunft dieser
eigentlich bessern Welt: dies ist der Kern der Geheiße des Christenthums.--

Die christliche Religion ist die eigentliche Religion der Wollust. Die Sünde ist der größte
Reiz für die Liebe der Gottheit; je sündiger, sich der Mensch fühlt, desto christlicher ist er.
Unbedingte Vereinigung mit der Gottheit ist Zweck der Sünde und Liebe. Dithyramben sind
ein echt christliches Product. --

Die christliche Religion ist auch dadurch merkwürdig, daß sie so entschieden den bloßen
guten Wille" im Menschen, und seine eigentliche Natur, ohne alle Ausbildung, in Anspruch
nimmt. Sie steht tu Opposition mit Wissenschaft und Kunst nud eigentlichem Genuß. Vom
gemeinem Mann geht sie ans. Sie beseelt die große Majorität der Beschränkten ans Erden.
Sie ist das Licht, das i!i der Dunkelheit zu glänzen anfängt. Sie ist der Keim alles Demo-
kratismus, die höchste Thatsache der Popularität. --

Die griechische Mythologie scheint für die gebildeten Menschen zu sein und also in gänz¬
licher Opposition mit dem Christenthum. --

Unglück ist der Beruf zu Gott. Heilig kann man nur durch Unglück werden, daher sich
auch die alten Heiligen selbst ins Unglück stürzten. --

Höchst sonderbar ist die Aehnlichkeit unsrer heiligen Geschichte mit Märchen: anfänglich


palis. Wenn man an die spätern schädlichen Versuche in dieser Richtung
denkt so ist ein Widerwille gegen diese ebenso unkünstlerische als unwissen¬
schaftliche Methode wol gerechtfertigt. Ueberhaupt müssen wir gestehen, daß
uns auch unter Novalis Fragmenten die naturphilosophischen am wenigsten
anziehen; es zeigt sich wol darin, daß er in diesem Gebiet eine vielseitige
Kenntniß, auch eine große Gabe zu combiniren besitzt, aber der Ausdruck ist
doch zu spielend und geziert, man fühlt immer heraus, daß Mittelglieder aus¬
gelassen und daher fälschlich das bedingungsweise Richtige in das Gebiet deS
Unbedingten aufgenommen ist. Er combinirt mit unerhörter Kühnheit, ohne
in das Einzelne eine klare Einsicht erlangt zu haben; dann schmeichelt ihm
die Klangform des Gedankens alle Bedenken aus der Seele und wo die
ernste Untersuchung erst angehen sollte, machr er einen spielenden Schluß, ein
zierlicher Witz überrascht uns, wo wir eine concrete Anschauung erwarten. Hin
und wieder hat man den wunderlichen Versuch gemacht, aus diesen Fragmenten ein
Ganzes zu machen: es ist nicht viel Kluges dabei herausgekommen. So müssen
wir namentlich gestehen, daß die berühmten Fragmente über die Mathematik,
die er noch selbst hat drucken lassen und die mit den merkwürdigen Aussprüchen
schließen (II. S. 1i7) „ohne Enthusiasmus keine Mathematik, das Leben der
Götter ist Mathematik, alle göttlichen Gesandten müssen Mathematiker sein,
reine Mathematik ist Religion, zur Mathematik gelangt man durch eine Theo-
phanie" u. s. w. nichts anders zu sein scheinen, als der Versuch, Buchstaben
in ungewöhnlichen Arabesken zu combiniren.

Allein eine Seite seines aphoristischen Denkens ist uns zu wichtig für
den Entwicklungsgang der gesammten Schule, als daß wir hier nicht näher
darauf eingehen sollten. Es sind seine Gedanken über das Christenthum,
von denen wir die Hauptpunkte mit seinen eignen Worten angeben.


--Absolute Abstraction, Vernichtung des Jetzigen, Apotheose der Zukunft dieser
eigentlich bessern Welt: dies ist der Kern der Geheiße des Christenthums.--

Die christliche Religion ist die eigentliche Religion der Wollust. Die Sünde ist der größte
Reiz für die Liebe der Gottheit; je sündiger, sich der Mensch fühlt, desto christlicher ist er.
Unbedingte Vereinigung mit der Gottheit ist Zweck der Sünde und Liebe. Dithyramben sind
ein echt christliches Product. —

Die christliche Religion ist auch dadurch merkwürdig, daß sie so entschieden den bloßen
guten Wille» im Menschen, und seine eigentliche Natur, ohne alle Ausbildung, in Anspruch
nimmt. Sie steht tu Opposition mit Wissenschaft und Kunst nud eigentlichem Genuß. Vom
gemeinem Mann geht sie ans. Sie beseelt die große Majorität der Beschränkten ans Erden.
Sie ist das Licht, das i!i der Dunkelheit zu glänzen anfängt. Sie ist der Keim alles Demo-
kratismus, die höchste Thatsache der Popularität. —

Die griechische Mythologie scheint für die gebildeten Menschen zu sein und also in gänz¬
licher Opposition mit dem Christenthum. —

Unglück ist der Beruf zu Gott. Heilig kann man nur durch Unglück werden, daher sich
auch die alten Heiligen selbst ins Unglück stürzten. —

Höchst sonderbar ist die Aehnlichkeit unsrer heiligen Geschichte mit Märchen: anfänglich


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[0138] palis. Wenn man an die spätern schädlichen Versuche in dieser Richtung denkt so ist ein Widerwille gegen diese ebenso unkünstlerische als unwissen¬ schaftliche Methode wol gerechtfertigt. Ueberhaupt müssen wir gestehen, daß uns auch unter Novalis Fragmenten die naturphilosophischen am wenigsten anziehen; es zeigt sich wol darin, daß er in diesem Gebiet eine vielseitige Kenntniß, auch eine große Gabe zu combiniren besitzt, aber der Ausdruck ist doch zu spielend und geziert, man fühlt immer heraus, daß Mittelglieder aus¬ gelassen und daher fälschlich das bedingungsweise Richtige in das Gebiet deS Unbedingten aufgenommen ist. Er combinirt mit unerhörter Kühnheit, ohne in das Einzelne eine klare Einsicht erlangt zu haben; dann schmeichelt ihm die Klangform des Gedankens alle Bedenken aus der Seele und wo die ernste Untersuchung erst angehen sollte, machr er einen spielenden Schluß, ein zierlicher Witz überrascht uns, wo wir eine concrete Anschauung erwarten. Hin und wieder hat man den wunderlichen Versuch gemacht, aus diesen Fragmenten ein Ganzes zu machen: es ist nicht viel Kluges dabei herausgekommen. So müssen wir namentlich gestehen, daß die berühmten Fragmente über die Mathematik, die er noch selbst hat drucken lassen und die mit den merkwürdigen Aussprüchen schließen (II. S. 1i7) „ohne Enthusiasmus keine Mathematik, das Leben der Götter ist Mathematik, alle göttlichen Gesandten müssen Mathematiker sein, reine Mathematik ist Religion, zur Mathematik gelangt man durch eine Theo- phanie" u. s. w. nichts anders zu sein scheinen, als der Versuch, Buchstaben in ungewöhnlichen Arabesken zu combiniren. Allein eine Seite seines aphoristischen Denkens ist uns zu wichtig für den Entwicklungsgang der gesammten Schule, als daß wir hier nicht näher darauf eingehen sollten. Es sind seine Gedanken über das Christenthum, von denen wir die Hauptpunkte mit seinen eignen Worten angeben. --Absolute Abstraction, Vernichtung des Jetzigen, Apotheose der Zukunft dieser eigentlich bessern Welt: dies ist der Kern der Geheiße des Christenthums.-- Die christliche Religion ist die eigentliche Religion der Wollust. Die Sünde ist der größte Reiz für die Liebe der Gottheit; je sündiger, sich der Mensch fühlt, desto christlicher ist er. Unbedingte Vereinigung mit der Gottheit ist Zweck der Sünde und Liebe. Dithyramben sind ein echt christliches Product. — Die christliche Religion ist auch dadurch merkwürdig, daß sie so entschieden den bloßen guten Wille» im Menschen, und seine eigentliche Natur, ohne alle Ausbildung, in Anspruch nimmt. Sie steht tu Opposition mit Wissenschaft und Kunst nud eigentlichem Genuß. Vom gemeinem Mann geht sie ans. Sie beseelt die große Majorität der Beschränkten ans Erden. Sie ist das Licht, das i!i der Dunkelheit zu glänzen anfängt. Sie ist der Keim alles Demo- kratismus, die höchste Thatsache der Popularität. — Die griechische Mythologie scheint für die gebildeten Menschen zu sein und also in gänz¬ licher Opposition mit dem Christenthum. — Unglück ist der Beruf zu Gott. Heilig kann man nur durch Unglück werden, daher sich auch die alten Heiligen selbst ins Unglück stürzten. — Höchst sonderbar ist die Aehnlichkeit unsrer heiligen Geschichte mit Märchen: anfänglich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/138>, abgerufen am 22.07.2024.