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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Spitzbergen der reinen Vernunft durch bin und wieder im bunten erquickenden
Lande der Sinne mit Leib und Seele wohne. Die Erinnerung an die aus¬
gestandenen Mühseligkeiten macht mich froh, es gehört in die Lehrjahre der
Bildung. Uebung des Scharfsinns und der Reflexion sind unentbehrlich.
Man muß nur nicht über der Grammatik die Autoren vergessen, über dem
Spiel mit Buchstaben die bezeichneten Größen." -- Es war nicht ein Drang
der Erkenntniß, sondern ein poetisches Bedürfniß, was ihn zur Speculation
trieb: das, Bestreben, Kunst und Wissenschaft auf ein gemeinsames Princip
zurückzuführen, und alle Wissenschaften und Künste zu einem organischen Gan->
M ineinanderzuweben. Sein Platz in der Geschichte der Philosophie ist nicht
bedeutend, auf die Entwicklung der poetischen Ideale dagegen hat er einen
großen Einfluß ausgeübt.

Seine Schriften haben einen außerordentlichen Erfolg gehabt. Sie
wurden nach seinem Tode, 1802, von seinen Freunden Tieck und Fr. Schlegel
herausgegeben; schon 1837 erschien die 3. Auflage"). Dieser Erfolg ist um so be¬
deutender, da tels gewöhnliche Publicum daraus nichts zu machen versteht; nicht
wegen der Ueberschwenglichkeit der Form, sondern wegen des zum Theil sehr
ernsten Gedankengehaltö, der sich hinter seinen phantastischen Bildern versteckt.
Man hat daher auch vorzugsweise seine Form, d. h. seine Manier nachgebildet,
was leichter ist, als man glaubt; es bedarf nur einer gewissen Virtuosität im
Combiniren widersprechender Vorstellungen.

In früheren Zeiten überließ man die Synthese der Kunst und behielt der
Kritik die Analyse vor. Man verlangte von ihr, das Kunstwerk in seinen
Motiven auseinanderzulegen und nach festen Principien zu prüfen, ob Billi¬
gung oder Mißbilligung auszusprechen sei. Bei Novalis aber ist die Kritik
viel synthetischer, als die Poesie. Das einzelne Kunstwerk verschwindet wie
e>n Atom in der allgemeinen Construction der Poesie und die Poesie selbst
in einem Oceane von Ueberschwenglichkeit, für welchen kein Name und kein
Begriff ausreicht. Das Bestreben, reale Gegenstände darzustellen, gilt als
undichterisch; schon die Symbolik der Ideen scheint viel zu profan für den



2 Bände, Berlin, Reimer. -- Dazu kam als dritter Theil ein Snpvlementband von
Eduard von Bülow, mit einem sehr schöne" Bildniß des Dichters, Berlin, Reimer -I8i6.
An diesem finden wir den Nekrolog, von Just, die Tagebuchblätter, einig- Briefe und eine
Reihe vou Fragmenten, die wenigstens ebenso interessant sind, wie die im 2. Bande. Nur
haben sich die beiden Herausgeber die Arbeit etwas leicht gemacht. Die Fragmente sind ganz
bunt durcheinandergeworfen. Sie hintereinander zu lesen ist umso schwieriger, da der Aus¬
druck häufig gesucht und spielend ist, und die innere und äußere Beziehung dunkel bleibt.
Würde mau die zusammengehörigen ans eine geschickte Weise gruppiren und diejenigen, die
reine Fedcrübnngcn sind, ganz wegschneiden, so würde manche Paradoxie weniger auffallend
sein und man würde eine sehr interessante individuelle Stimmung und Anschauung habe".
Die allgemeine Gruppirung, die Tieck versucht hat. ist sehr schwach "ud nachlässig. Es scheint
als ob Novalis Freunde nnr ihr Vergnügen an den bunten Einfällen gehabt haben.
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Spitzbergen der reinen Vernunft durch bin und wieder im bunten erquickenden
Lande der Sinne mit Leib und Seele wohne. Die Erinnerung an die aus¬
gestandenen Mühseligkeiten macht mich froh, es gehört in die Lehrjahre der
Bildung. Uebung des Scharfsinns und der Reflexion sind unentbehrlich.
Man muß nur nicht über der Grammatik die Autoren vergessen, über dem
Spiel mit Buchstaben die bezeichneten Größen." — Es war nicht ein Drang
der Erkenntniß, sondern ein poetisches Bedürfniß, was ihn zur Speculation
trieb: das, Bestreben, Kunst und Wissenschaft auf ein gemeinsames Princip
zurückzuführen, und alle Wissenschaften und Künste zu einem organischen Gan->
M ineinanderzuweben. Sein Platz in der Geschichte der Philosophie ist nicht
bedeutend, auf die Entwicklung der poetischen Ideale dagegen hat er einen
großen Einfluß ausgeübt.

Seine Schriften haben einen außerordentlichen Erfolg gehabt. Sie
wurden nach seinem Tode, 1802, von seinen Freunden Tieck und Fr. Schlegel
herausgegeben; schon 1837 erschien die 3. Auflage"). Dieser Erfolg ist um so be¬
deutender, da tels gewöhnliche Publicum daraus nichts zu machen versteht; nicht
wegen der Ueberschwenglichkeit der Form, sondern wegen des zum Theil sehr
ernsten Gedankengehaltö, der sich hinter seinen phantastischen Bildern versteckt.
Man hat daher auch vorzugsweise seine Form, d. h. seine Manier nachgebildet,
was leichter ist, als man glaubt; es bedarf nur einer gewissen Virtuosität im
Combiniren widersprechender Vorstellungen.

In früheren Zeiten überließ man die Synthese der Kunst und behielt der
Kritik die Analyse vor. Man verlangte von ihr, das Kunstwerk in seinen
Motiven auseinanderzulegen und nach festen Principien zu prüfen, ob Billi¬
gung oder Mißbilligung auszusprechen sei. Bei Novalis aber ist die Kritik
viel synthetischer, als die Poesie. Das einzelne Kunstwerk verschwindet wie
e>n Atom in der allgemeinen Construction der Poesie und die Poesie selbst
in einem Oceane von Ueberschwenglichkeit, für welchen kein Name und kein
Begriff ausreicht. Das Bestreben, reale Gegenstände darzustellen, gilt als
undichterisch; schon die Symbolik der Ideen scheint viel zu profan für den



2 Bände, Berlin, Reimer. — Dazu kam als dritter Theil ein Snpvlementband von
Eduard von Bülow, mit einem sehr schöne» Bildniß des Dichters, Berlin, Reimer -I8i6.
An diesem finden wir den Nekrolog, von Just, die Tagebuchblätter, einig- Briefe und eine
Reihe vou Fragmenten, die wenigstens ebenso interessant sind, wie die im 2. Bande. Nur
haben sich die beiden Herausgeber die Arbeit etwas leicht gemacht. Die Fragmente sind ganz
bunt durcheinandergeworfen. Sie hintereinander zu lesen ist umso schwieriger, da der Aus¬
druck häufig gesucht und spielend ist, und die innere und äußere Beziehung dunkel bleibt.
Würde mau die zusammengehörigen ans eine geschickte Weise gruppiren und diejenigen, die
reine Fedcrübnngcn sind, ganz wegschneiden, so würde manche Paradoxie weniger auffallend
sein und man würde eine sehr interessante individuelle Stimmung und Anschauung habe».
Die allgemeine Gruppirung, die Tieck versucht hat. ist sehr schwach »ud nachlässig. Es scheint
als ob Novalis Freunde nnr ihr Vergnügen an den bunten Einfällen gehabt haben.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/131>, abgerufen am 22.07.2024.