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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Es ist dem Menschen nicht erlaubt, in der Sehnsucht zu leben. In der
Rückkehr zu der homerischen Weltanschauung lag eine Unklarheit und Selbst¬
täuschung, es fehlte die Würdigung des geschichtlichen Rechts, die Ehrfurcht
vor dem Wirklichen und Nothwendigen. Aus der Sehnsucht einer bleichen
entgvtterten Zeit entsprungen, war diese dichterische Religion nachsichtig gegen
Alles, weil sie keinen rechten Glauben hatte; sie ertrug unterschiedlos alle
Göttergestalten in sich und sträubte sich ebensowenig, als die Religion des
römischen Kaiserreichs, auch den bleichen gekreuzigten Gott der Christen neben
Isis und Osiris in das Pantheon der olympischen Götter aufzunehmen.

Um wieviel glücklicher war Shakespeare, dem das Christenthum in der
festen Gestalt des geschichtlichen Protestantismus entgegentrat. In unsrer
classischen Zeit war von der protestantischen Bewegung nicht viel mehr übrig
geblieben, als die pietistische Schönseeligkeit. Aber wenn die Dichter, um dieser
zu entfliehen, bis zum homerischen Zeitalter zurückkehrten, so verloren sie damit
zugleich jene Sicherheit in den Ideen, jene feste, auf der Uebereinstimmung
des Ideals mit dem natürlichen Gefühl beruhende Gesinnung, die Shakespeare
nicht blos zum größten, sondern auch zum verständlichsten Dichter aller Zeiten
macht. Sie empfanden schön und edel, aber sie hatten nicht die Unmittelbar¬
keit des Glaubens, die sich durch die Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte nie¬
mals irren läßt; ja sie sahen sich wol gar genöthigt, wie Schiller in seinen
Briefen über Don Carlos, um die verletzte Einheit des Herzens wieder herzu¬
stellen, ihren eignen Idealen als Kritiker gegenüberzutreten.

. Auch in Schillers nächstem Gedicht, die Künstler (1789)., wird wieder
auf das griechische Heidenthum hingewiesen.


Als in den weichen Armen dieser Amme
Die zarte. Menschheit noch geruht,
Da schürte heilge Mordsucht keine Flamme,
Da rauchte kein unschuldig Blut.

Dieses Gedicht ist ein poetisch ausgeführtes Glaubensbekenntniß, das in
den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts seine Er¬
gänzung findet, das aber auch für sich völlig verstanden werden kann. Durch
den unerschöpflichen Gedankenreichthum, der sich hinter den reizendsten und
mannigfaltigsten Bildern versteckt, wird jedes unbefangene Gemüth gefesselt.
Leider fehlt auch hier die letzte Hand. Die allmälige Entstehung der Künste
aus der freien Nachbildung der Natur ist im großen und scheuen Sinn dar¬
gestellt, allein die Macht der Kunst wird unzweifelhaft überschätzt. Schiller,
der ausschließlich das griechische Leben vor Augen hat, behauptet, daß die Kunst
zuerst den Menschen aus der Wildheit gerissen habe, und schreibt ihr also nicht
blos eine prophetische, sondern eine schöpferische Kraft zu. Sie habe die
Religion des Grauens'und der Furcht in eine Religion der Liebe verwandelt.


Es ist dem Menschen nicht erlaubt, in der Sehnsucht zu leben. In der
Rückkehr zu der homerischen Weltanschauung lag eine Unklarheit und Selbst¬
täuschung, es fehlte die Würdigung des geschichtlichen Rechts, die Ehrfurcht
vor dem Wirklichen und Nothwendigen. Aus der Sehnsucht einer bleichen
entgvtterten Zeit entsprungen, war diese dichterische Religion nachsichtig gegen
Alles, weil sie keinen rechten Glauben hatte; sie ertrug unterschiedlos alle
Göttergestalten in sich und sträubte sich ebensowenig, als die Religion des
römischen Kaiserreichs, auch den bleichen gekreuzigten Gott der Christen neben
Isis und Osiris in das Pantheon der olympischen Götter aufzunehmen.

Um wieviel glücklicher war Shakespeare, dem das Christenthum in der
festen Gestalt des geschichtlichen Protestantismus entgegentrat. In unsrer
classischen Zeit war von der protestantischen Bewegung nicht viel mehr übrig
geblieben, als die pietistische Schönseeligkeit. Aber wenn die Dichter, um dieser
zu entfliehen, bis zum homerischen Zeitalter zurückkehrten, so verloren sie damit
zugleich jene Sicherheit in den Ideen, jene feste, auf der Uebereinstimmung
des Ideals mit dem natürlichen Gefühl beruhende Gesinnung, die Shakespeare
nicht blos zum größten, sondern auch zum verständlichsten Dichter aller Zeiten
macht. Sie empfanden schön und edel, aber sie hatten nicht die Unmittelbar¬
keit des Glaubens, die sich durch die Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte nie¬
mals irren läßt; ja sie sahen sich wol gar genöthigt, wie Schiller in seinen
Briefen über Don Carlos, um die verletzte Einheit des Herzens wieder herzu¬
stellen, ihren eignen Idealen als Kritiker gegenüberzutreten.

. Auch in Schillers nächstem Gedicht, die Künstler (1789)., wird wieder
auf das griechische Heidenthum hingewiesen.


Als in den weichen Armen dieser Amme
Die zarte. Menschheit noch geruht,
Da schürte heilge Mordsucht keine Flamme,
Da rauchte kein unschuldig Blut.

Dieses Gedicht ist ein poetisch ausgeführtes Glaubensbekenntniß, das in
den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts seine Er¬
gänzung findet, das aber auch für sich völlig verstanden werden kann. Durch
den unerschöpflichen Gedankenreichthum, der sich hinter den reizendsten und
mannigfaltigsten Bildern versteckt, wird jedes unbefangene Gemüth gefesselt.
Leider fehlt auch hier die letzte Hand. Die allmälige Entstehung der Künste
aus der freien Nachbildung der Natur ist im großen und scheuen Sinn dar¬
gestellt, allein die Macht der Kunst wird unzweifelhaft überschätzt. Schiller,
der ausschließlich das griechische Leben vor Augen hat, behauptet, daß die Kunst
zuerst den Menschen aus der Wildheit gerissen habe, und schreibt ihr also nicht
blos eine prophetische, sondern eine schöpferische Kraft zu. Sie habe die
Religion des Grauens'und der Furcht in eine Religion der Liebe verwandelt.


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[0495] Es ist dem Menschen nicht erlaubt, in der Sehnsucht zu leben. In der Rückkehr zu der homerischen Weltanschauung lag eine Unklarheit und Selbst¬ täuschung, es fehlte die Würdigung des geschichtlichen Rechts, die Ehrfurcht vor dem Wirklichen und Nothwendigen. Aus der Sehnsucht einer bleichen entgvtterten Zeit entsprungen, war diese dichterische Religion nachsichtig gegen Alles, weil sie keinen rechten Glauben hatte; sie ertrug unterschiedlos alle Göttergestalten in sich und sträubte sich ebensowenig, als die Religion des römischen Kaiserreichs, auch den bleichen gekreuzigten Gott der Christen neben Isis und Osiris in das Pantheon der olympischen Götter aufzunehmen. Um wieviel glücklicher war Shakespeare, dem das Christenthum in der festen Gestalt des geschichtlichen Protestantismus entgegentrat. In unsrer classischen Zeit war von der protestantischen Bewegung nicht viel mehr übrig geblieben, als die pietistische Schönseeligkeit. Aber wenn die Dichter, um dieser zu entfliehen, bis zum homerischen Zeitalter zurückkehrten, so verloren sie damit zugleich jene Sicherheit in den Ideen, jene feste, auf der Uebereinstimmung des Ideals mit dem natürlichen Gefühl beruhende Gesinnung, die Shakespeare nicht blos zum größten, sondern auch zum verständlichsten Dichter aller Zeiten macht. Sie empfanden schön und edel, aber sie hatten nicht die Unmittelbar¬ keit des Glaubens, die sich durch die Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte nie¬ mals irren läßt; ja sie sahen sich wol gar genöthigt, wie Schiller in seinen Briefen über Don Carlos, um die verletzte Einheit des Herzens wieder herzu¬ stellen, ihren eignen Idealen als Kritiker gegenüberzutreten. . Auch in Schillers nächstem Gedicht, die Künstler (1789)., wird wieder auf das griechische Heidenthum hingewiesen. Als in den weichen Armen dieser Amme Die zarte. Menschheit noch geruht, Da schürte heilge Mordsucht keine Flamme, Da rauchte kein unschuldig Blut. Dieses Gedicht ist ein poetisch ausgeführtes Glaubensbekenntniß, das in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts seine Er¬ gänzung findet, das aber auch für sich völlig verstanden werden kann. Durch den unerschöpflichen Gedankenreichthum, der sich hinter den reizendsten und mannigfaltigsten Bildern versteckt, wird jedes unbefangene Gemüth gefesselt. Leider fehlt auch hier die letzte Hand. Die allmälige Entstehung der Künste aus der freien Nachbildung der Natur ist im großen und scheuen Sinn dar¬ gestellt, allein die Macht der Kunst wird unzweifelhaft überschätzt. Schiller, der ausschließlich das griechische Leben vor Augen hat, behauptet, daß die Kunst zuerst den Menschen aus der Wildheit gerissen habe, und schreibt ihr also nicht blos eine prophetische, sondern eine schöpferische Kraft zu. Sie habe die Religion des Grauens'und der Furcht in eine Religion der Liebe verwandelt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/495>, abgerufen am 25.08.2024.