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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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und des heiligen Lebens verloren gegangen. Bei den Griechen war Tugend
die zwar maßvolle und schön geformte, aber doch freie und kräftige Entwicklung
der angebornen Triebe und Leidenschaften; in unsrer Welt dagegen wird die
Tugend <ü.S etwas Jenseitiges dargestellt, das mit der menschlichen Natur im
harten Kampf stehe, und als erste Pflicht wird dem Menschen zugemuthet, er
solle die Stimme der Natur in seinem Innern als sündhaft, erkennen und er¬
sticken. Die Welt deö Ideals, wie unsre Phantasie sie sich ausgemalt, wider¬
spricht allen unsern Wünschen und Hoffnungen: "Fremde unverstandene Ent-
zücken schaudern uns aus jenen Welten an" u. s. w. und der Maßstab des Heiligen
ist dem Leben feind, während bei den Griechen selbst das Reich des Todes
sich den zarten Regungen der Menschlichkeit empfänglich zeigte.


Nach der Geister schrecklichen Gesetzen
Richtete kein heiliger Barbar,
Dessen Augen Thränen nie benetzen,
Zarte Wesen, die ein Weib gebar u. s. w.

In der ersten Ausgabe wird viese Seite, die sich speciell gegen das
Christenthum richtet, schärfer betont und das Gedicht schließt mit einer schreien¬
den Dissonanz. Der Dichter fordert den Gott, "dessen Strahlen ihn darnieder-
stblagcn", "das Werk und den Schöpfer des Verstandes", auf, ihn mit seinen
heiligen Wahrheiten zu verschonen. In der zweiten Ausgabe ist diese Wendung
gemildert. Der Dichter faßt zwar zum Schluß den Gegensatz noch einmal in
der härtesten Form zusammen; er behauptet, daß die entfliehenden Götter
Griechenlands alles Schöne und Hohe, alle Farben und Lebenstöne mit fort¬
genommen und uns nur das entseelte Wort gelassen haben, aber er setzt
hinzu:


Aus der Zeitflut weggerissen, schweben
Sie gerettet auf des Pindus Höhn;
Was unsterblich im Gesang soll leben,
Muß im Leben untergehn.

Daß sich über dies moderne Heidenthum einzelne Stimmen des Unwillens
erhoben, kann uns weniger Wunder nehmen, als daß diese Stimmen nicht
lauter und allgemeiner wurden. Stolberg, der damals sich schon in ein angst-
hastes Christenthum vergraben hatte, trat als leidenschaftlicher Ankläger auf,
wofür ihn Schiller mit der Tenie bedachte:


Als du die griechischen Götter gelästert, da warf dich Apollo
Aus dem Parnassc, dafür tratst du ins Himmelreich ein.

Wir dürfen uns weder durch den christlichen Eifer noch durch den guten
Witz bestimmen lassen, wir müssen untersuche!,, inwieweit jenes schöne heidnische
Gedicht Wahrheit enthält. Die erste Ausgabe entzieht sich der allgemeinen
Betrachtung, da der Dichter im Grunde nur seinen individuellen Verdruß aus-


und des heiligen Lebens verloren gegangen. Bei den Griechen war Tugend
die zwar maßvolle und schön geformte, aber doch freie und kräftige Entwicklung
der angebornen Triebe und Leidenschaften; in unsrer Welt dagegen wird die
Tugend <ü.S etwas Jenseitiges dargestellt, das mit der menschlichen Natur im
harten Kampf stehe, und als erste Pflicht wird dem Menschen zugemuthet, er
solle die Stimme der Natur in seinem Innern als sündhaft, erkennen und er¬
sticken. Die Welt deö Ideals, wie unsre Phantasie sie sich ausgemalt, wider¬
spricht allen unsern Wünschen und Hoffnungen: „Fremde unverstandene Ent-
zücken schaudern uns aus jenen Welten an" u. s. w. und der Maßstab des Heiligen
ist dem Leben feind, während bei den Griechen selbst das Reich des Todes
sich den zarten Regungen der Menschlichkeit empfänglich zeigte.


Nach der Geister schrecklichen Gesetzen
Richtete kein heiliger Barbar,
Dessen Augen Thränen nie benetzen,
Zarte Wesen, die ein Weib gebar u. s. w.

In der ersten Ausgabe wird viese Seite, die sich speciell gegen das
Christenthum richtet, schärfer betont und das Gedicht schließt mit einer schreien¬
den Dissonanz. Der Dichter fordert den Gott, „dessen Strahlen ihn darnieder-
stblagcn", „das Werk und den Schöpfer des Verstandes", auf, ihn mit seinen
heiligen Wahrheiten zu verschonen. In der zweiten Ausgabe ist diese Wendung
gemildert. Der Dichter faßt zwar zum Schluß den Gegensatz noch einmal in
der härtesten Form zusammen; er behauptet, daß die entfliehenden Götter
Griechenlands alles Schöne und Hohe, alle Farben und Lebenstöne mit fort¬
genommen und uns nur das entseelte Wort gelassen haben, aber er setzt
hinzu:


Aus der Zeitflut weggerissen, schweben
Sie gerettet auf des Pindus Höhn;
Was unsterblich im Gesang soll leben,
Muß im Leben untergehn.

Daß sich über dies moderne Heidenthum einzelne Stimmen des Unwillens
erhoben, kann uns weniger Wunder nehmen, als daß diese Stimmen nicht
lauter und allgemeiner wurden. Stolberg, der damals sich schon in ein angst-
hastes Christenthum vergraben hatte, trat als leidenschaftlicher Ankläger auf,
wofür ihn Schiller mit der Tenie bedachte:


Als du die griechischen Götter gelästert, da warf dich Apollo
Aus dem Parnassc, dafür tratst du ins Himmelreich ein.

Wir dürfen uns weder durch den christlichen Eifer noch durch den guten
Witz bestimmen lassen, wir müssen untersuche!,, inwieweit jenes schöne heidnische
Gedicht Wahrheit enthält. Die erste Ausgabe entzieht sich der allgemeinen
Betrachtung, da der Dichter im Grunde nur seinen individuellen Verdruß aus-


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[0492] und des heiligen Lebens verloren gegangen. Bei den Griechen war Tugend die zwar maßvolle und schön geformte, aber doch freie und kräftige Entwicklung der angebornen Triebe und Leidenschaften; in unsrer Welt dagegen wird die Tugend <ü.S etwas Jenseitiges dargestellt, das mit der menschlichen Natur im harten Kampf stehe, und als erste Pflicht wird dem Menschen zugemuthet, er solle die Stimme der Natur in seinem Innern als sündhaft, erkennen und er¬ sticken. Die Welt deö Ideals, wie unsre Phantasie sie sich ausgemalt, wider¬ spricht allen unsern Wünschen und Hoffnungen: „Fremde unverstandene Ent- zücken schaudern uns aus jenen Welten an" u. s. w. und der Maßstab des Heiligen ist dem Leben feind, während bei den Griechen selbst das Reich des Todes sich den zarten Regungen der Menschlichkeit empfänglich zeigte. Nach der Geister schrecklichen Gesetzen Richtete kein heiliger Barbar, Dessen Augen Thränen nie benetzen, Zarte Wesen, die ein Weib gebar u. s. w. In der ersten Ausgabe wird viese Seite, die sich speciell gegen das Christenthum richtet, schärfer betont und das Gedicht schließt mit einer schreien¬ den Dissonanz. Der Dichter fordert den Gott, „dessen Strahlen ihn darnieder- stblagcn", „das Werk und den Schöpfer des Verstandes", auf, ihn mit seinen heiligen Wahrheiten zu verschonen. In der zweiten Ausgabe ist diese Wendung gemildert. Der Dichter faßt zwar zum Schluß den Gegensatz noch einmal in der härtesten Form zusammen; er behauptet, daß die entfliehenden Götter Griechenlands alles Schöne und Hohe, alle Farben und Lebenstöne mit fort¬ genommen und uns nur das entseelte Wort gelassen haben, aber er setzt hinzu: Aus der Zeitflut weggerissen, schweben Sie gerettet auf des Pindus Höhn; Was unsterblich im Gesang soll leben, Muß im Leben untergehn. Daß sich über dies moderne Heidenthum einzelne Stimmen des Unwillens erhoben, kann uns weniger Wunder nehmen, als daß diese Stimmen nicht lauter und allgemeiner wurden. Stolberg, der damals sich schon in ein angst- hastes Christenthum vergraben hatte, trat als leidenschaftlicher Ankläger auf, wofür ihn Schiller mit der Tenie bedachte: Als du die griechischen Götter gelästert, da warf dich Apollo Aus dem Parnassc, dafür tratst du ins Himmelreich ein. Wir dürfen uns weder durch den christlichen Eifer noch durch den guten Witz bestimmen lassen, wir müssen untersuche!,, inwieweit jenes schöne heidnische Gedicht Wahrheit enthält. Die erste Ausgabe entzieht sich der allgemeinen Betrachtung, da der Dichter im Grunde nur seinen individuellen Verdruß aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/492>, abgerufen am 22.07.2024.