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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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verlangte für die künftigen Mitglieder wissenschaftliche Bildung, möglichst un¬
abhängige Stellung, freien, über die Sorge für die täglichen Bedürfnisse er¬
hobenen Gesichtskreis. Von der Vertretung überhaupt wollte er auch den
Stand der Arbeiter nicbt ausgeschlossen wissen, damit er sich allmiilig an die
Ordnung gewöhne, an die er ein Recht habe. In der eigentlichen Kraft
der Bevölkerung sollte die erste Kammer ihre Stütze finden. Die Kraft liege
im Mittelstande. Hannover habe einen Bauernstand, wie sich kein andres
Land dessen rühmen könne: der Bauernstand müsse also mit dem gesammten
Grundbesitz dort vertreten werden. Andre Herren erkannten wenigstens das
Princip der damaligen Regierung an, wenn auch nicht die Durchführung in
allen Einzelnheiten.

Um für den großen Grundbesitz, welcher in der ersten Kammer Platz
nehmen sollte, den Unterbau zu gewinnen, sollten die alten'Provinzialstände,
mit denen im vorigen Jahrhundert die Steueranlage zu vereinbaren war und
denen jetzt außer der Verwaltung des Brandversicherungswesens und einiger
Aemterbesetzung kein wesentliches Geschäft mehr oblag, entweder umgestaltet wer¬
den, oder wenn sie Schwierigkeiten machten, so wollte sie Stüve in ihrer bisherigen
Untätigkeit bestehen lassen und neben ihnen neue errichten. Zugesichert war
ihnen, daß die schon seit 1819 beabsichtigte Reform nicht ohne ihren Beirath
geschehen solle: sie selbst intcrpretirten das später, als sei ihre "Zustimmung"
erforderlich. Von der S^ändeversammlung wurde die Umgestaltung dagegen
als allgemeine Landesangelegenheit betrachtet und sie wollte die Angelegenheit
als solche allein entscheiden. So wurde, nachdem mit den bestehenden Pro-
vl'nzialständen hin und her "berathen" war, daS Gesetz vom 1. August 1851
errichtet, worin man den ritterschaftlichen Forderungen hinreichend nachgegeben
hatte, indem der von Stüve für den Provinziallandtag angesetzte Census be¬
trächtlich erhöht und die Wählerschaft von 3S87 auf 707 Köpfe herabgesetzt
wurde.

Inzwischen waren aber in Deutschland jene Veränderungen vorgefallen,
welche den'preußischen Rittern den Muth und die Gelegenheit gaben, ihre
Forderungen von Termin zu Termin zu erhöhen und was in Berlin geschah,
fand in Hannover getreues Echo. König Ernst August starb, ohne das von
ihm genehmigte Gesetz vom 1. August auch durchzuführen; sonst wäre er der
Mann gewesen, auch den Rittern sein Halt zuzurufen! Mit Georg V. ergriff
das Ministerium Sehele die Zügel, indem es die Herren von der Decken und
von Borries als entschiedene Vorkämpfer der ritterschaftlichen Ansprüche in
sich aufnahm. Indeß war Herr von Sehele, welcher 185 8 Kaltblütigkeit genug
bewiesen hatte, gegen die Aufhebung der Adelskammer zu stimmen, jetzt wieder
hinreichend umsichtig, das provinziallandschaftliche Zustimmungsrecht als mit
der Staatseinheit und der Souveränetät des Königs unvereinbar anzusehen und


verlangte für die künftigen Mitglieder wissenschaftliche Bildung, möglichst un¬
abhängige Stellung, freien, über die Sorge für die täglichen Bedürfnisse er¬
hobenen Gesichtskreis. Von der Vertretung überhaupt wollte er auch den
Stand der Arbeiter nicbt ausgeschlossen wissen, damit er sich allmiilig an die
Ordnung gewöhne, an die er ein Recht habe. In der eigentlichen Kraft
der Bevölkerung sollte die erste Kammer ihre Stütze finden. Die Kraft liege
im Mittelstande. Hannover habe einen Bauernstand, wie sich kein andres
Land dessen rühmen könne: der Bauernstand müsse also mit dem gesammten
Grundbesitz dort vertreten werden. Andre Herren erkannten wenigstens das
Princip der damaligen Regierung an, wenn auch nicht die Durchführung in
allen Einzelnheiten.

Um für den großen Grundbesitz, welcher in der ersten Kammer Platz
nehmen sollte, den Unterbau zu gewinnen, sollten die alten'Provinzialstände,
mit denen im vorigen Jahrhundert die Steueranlage zu vereinbaren war und
denen jetzt außer der Verwaltung des Brandversicherungswesens und einiger
Aemterbesetzung kein wesentliches Geschäft mehr oblag, entweder umgestaltet wer¬
den, oder wenn sie Schwierigkeiten machten, so wollte sie Stüve in ihrer bisherigen
Untätigkeit bestehen lassen und neben ihnen neue errichten. Zugesichert war
ihnen, daß die schon seit 1819 beabsichtigte Reform nicht ohne ihren Beirath
geschehen solle: sie selbst intcrpretirten das später, als sei ihre „Zustimmung"
erforderlich. Von der S^ändeversammlung wurde die Umgestaltung dagegen
als allgemeine Landesangelegenheit betrachtet und sie wollte die Angelegenheit
als solche allein entscheiden. So wurde, nachdem mit den bestehenden Pro-
vl'nzialständen hin und her „berathen" war, daS Gesetz vom 1. August 1851
errichtet, worin man den ritterschaftlichen Forderungen hinreichend nachgegeben
hatte, indem der von Stüve für den Provinziallandtag angesetzte Census be¬
trächtlich erhöht und die Wählerschaft von 3S87 auf 707 Köpfe herabgesetzt
wurde.

Inzwischen waren aber in Deutschland jene Veränderungen vorgefallen,
welche den'preußischen Rittern den Muth und die Gelegenheit gaben, ihre
Forderungen von Termin zu Termin zu erhöhen und was in Berlin geschah,
fand in Hannover getreues Echo. König Ernst August starb, ohne das von
ihm genehmigte Gesetz vom 1. August auch durchzuführen; sonst wäre er der
Mann gewesen, auch den Rittern sein Halt zuzurufen! Mit Georg V. ergriff
das Ministerium Sehele die Zügel, indem es die Herren von der Decken und
von Borries als entschiedene Vorkämpfer der ritterschaftlichen Ansprüche in
sich aufnahm. Indeß war Herr von Sehele, welcher 185 8 Kaltblütigkeit genug
bewiesen hatte, gegen die Aufhebung der Adelskammer zu stimmen, jetzt wieder
hinreichend umsichtig, das provinziallandschaftliche Zustimmungsrecht als mit
der Staatseinheit und der Souveränetät des Königs unvereinbar anzusehen und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/469>, abgerufen am 25.08.2024.